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Ausgabe:

1980

Spalte:

173-176

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Pauck, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Paul Tillich 1980

Rezensent:

Moritz, Hans

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Seite 1, Seite 2

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rung exemplarisch deutlich, was den Menschen hält und trägt"
(158).

Diese Publikation stellt ein in sich geschlossenes und abgerundetes
Votum dar, demgegenüber man beispielsweise nicht
darüber rechten sollte, daß die neutestamentlichen Sachverhalte
ein wenig zu kurz zu kommen scheinen. Aber gerade
an dieser Stelle ist die dem Autor eigene Auffassung besonders
deutlich zu erkennen, ganz abgesehen davon, daß wirklich
nachdenkenswert ist, das Neue Testament ganz stark vom
Alten her zu verstehen und zu interpretieren. Fragen mag man
auch, ob das, was unter das Thema Geschichtsphilosophie geordnet
ist, wirklich dort seinen Platz hat, aber das ist eine
nomenklatorische Frage. Sympathisch berührt, daß der eigene
historische Standort und Kontext, der für die Erfassung und
Darstellung eines Phänomens stark mitbestimmend ist, nicht
verleugnet wird. Hier wird Herrmann eigenen Erkenntnissen
durchaus gerecht. Letztlich steht man mit dieser Monographie
vor einem beachtlichen Beitrag zur Theologie des Alten Testaments
, wenn nicht gar zur biblischen Theologie.

Leipzig Siegfried Wagner

Pauck, Wilhelm u. Marion: Paul Tillich. Sein Leben und Denken
, I: Leben. Aus dem Amerikan. Stuttgart: Evang. Verlagswerk
; Frankfurt/M.: Lembeck [1978]. 350 S„ 8 Taf. 8°
Lw. DM 45,-.

Eine Biographie über Paul Tillich zu schreiben hat sicher
einige besondere Schwierigkeiten, die nicht nur in der „Quellenlage
" begründet sind. Ohne Kenntnis und tieferes Eindringen
in Tillichs System geht es nicht. Vor allem aber bietet
sich dieses Leben selbst als so spannungs- und problcmreich
dar, daß wohl gewogen sein will, was bloß am Rande liegt
und weggelassen werden kann und was den bedeutenden
Theologen, Rcligions- und Kulturphilosophcn entscheidend
charakterisiert.

Die beiden Vf. der Biographie brachten den für ihre Arbeit
unschätzbaren Vorteil mit, Tillich über Jahre persönlich zu
kennen, mit ihm in der „Debatte" gestanden zu haben und vor
allem selbst im Geistesleben der USA eine wichtige Rolle zu
spielen. Dieser amerikanische Hintergrund, der für Tillichs
zweite Lebensperiode nach seiner Emigration 1933 prägend
war, wäre durch nur akademisch-literarische Darstellung von
aufjen — aus der Situation Europas — wohl kaum zureichend
zu erfassen gewesen. Insoweit waren für diese gelungene,
kritische Würdigung von Tillichs Leben grundlegende Voraussetzungen
vorhanden, die dann auch erlaubten, das umfangreiche
Quellenmaterial — Briefe, Tillichs eigene autobiographische
Darstellungen und nicht zuletzt viele Befragungen
von Verwandten, Freunden, Kollegen und Tillichs selbst — in
eine gut lesbare und übersichtliche Darstellung von Tillichs
Leben umzusetzen. Die Vf. sind gut beraten gewesen, dieses
umfangreiche Gesamtwerk nach Lebensgang und Denken zu
trennen. Rein ließ sich dies nicht durchführen, aber ein „Mehr"
an Analyse und Würdigung des umfangreichen Tillichschen
theologischen und philosophischen Werkes hätte die Plastizität
und Lesbarkeit der Biographie zweifellos überlastet.

Eingegrenzt waren die Vff. in ihrer Darstellung und Würdigung
des Lebens Paul Tillichs nicht nur durch die erwähnte
Quellcnlage, sondern auch durch die inzwischen erschienenen
Memoiren von Hannah Tillich, Tillichs zweiter Ehefrau. Die
für manchen Anhänger von Tillichs Denken und Wirken vielleicht
ins Allzupersönliche hineinreichende Besprechung von
Tillichs Privatleben mußte daher exakt und kritisch erfolgen.

Ein wichtiger Pol des zu manchen Zeiten nicht nur unkonventionellen
, sondern auch problematischen Privatlebens Tillichs
ist daher zu Recht im Abschnitt „Schöpferisches Chaos",
aber auch an anderen Stellen kritisch vorgetragen worden.
Das war nicht die einzige Grundsatzschwierigkeit für Biographen
von Tillichs Leben. Ein anderer Pol solcher Problematik

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dürfte in Tillichs ambivalenter Haltung zur Politik liegen;
vor allem in der amerikanischen Periode seines Lebens.

Die Vff. haben hier behutsam geurteilt. Daß man an diesem
Punkt die Akzente noch schärfer setzen kann, hat Emil Fuchs
in der Feststellung von „gesellschaftlicher Befangenheit" Paul
Tillichs zusammengefaßt. Er wollte damit vor allem auf die
Akzentverschiebung in der gesellschaftlich-politischen Position
Tillichs von sozialistischem Eigentumsverständnis und Kapitalismusanalyse
hin zu liberal-bürgerlicher, jedoch humanistischer
Konformität in den USA (hier in Analogie zu Thomas
Mann) hinweisen.

Im I. Kap., „Träumerische Unschuld (1886-1914)" überschrieben
, werden die Kindheit und die Phase vom „väterlichen
Haus" (15) zum „ersten Schritt in die Freiheit" (43) besprochen
. Diese behütete Kindheit und der Übergang zu
Schule und Universität, eingebettet in märkische Landschaft
und preußisch-deutsche Tradition gibt für die psychologische
Deutung von Tillichs Werdegang eine gute Grundlage. Interessant
sind hier die Hinweise der Autoren auf z. T. bleibende
Freundschaften und vor allem auf frühe theologisch-philosophische
Erwägungen und den kirchlichen Ausbildungsgang
(Ordination 1912).

Zu Recht sehen die Autoren den entscheidenden Einschnitt
in dieses bisher ohne große Krisen verlaufende Leben eines
jungen Akademikers um 1900 im ersten Weltkrieg. Im II. Kap.
wird dieser „Wendepunkt" (53ff) in seinem vollen Gewicht gewürdigt
. „Bei Kriegsbeginn war Tillich ein schüchterner, eben
erwachsener junger Mann, wirklich träumende Unschuld: Er
war deutscher Patriot, stolzer Preuße ... Er war politisch naiv.
Als er vier Jahre später nach Berlin zurückkam, war er völlig
verändert. Aus dem traditionellen Monarchisten war ein religiöser
Sozialist geworden, aus dem christlichen Gläubigen ein
Kulturpessimist und aus dem gehemmten, puritanischen Knaben
ein /wilder Mann'" (53ff).

Mit gutem Grund werden für die folgende Zeit in der Weimarer
Republik zwei Phasen unterschieden: Einmal 1919 bis
1924 und dann 1924—1933. Diese Einteilung legt sich schon
aus der politisch-gesellschaftlichen Entwicklung der Zeit nahe,
aber auch aus der Verlagerung von Akzenten in Tillichs
Schaffen. Eine Zäsur in Tillichs Lebensgang wird angedeutet,
wenn die Vff. erst in einem Kapitel „Zwischen zwei Welten"
Tillichs Ringen um politischen, historischen und akademischen
Ausgleich mit den Problemen und Aufgaben der Zeit darstellen
, dann im Kapitel „Splendid Isolation" den beginnenden
Erfolg im akademischen und kulturellen Leben der Weimarer
Republik beschreiben. Wie dieser Weg, der über Berlin, Marburg
, Dresden nach Frankfurt/M. in eine philosophische ordentliche
Profcssur führte, in seiner Vielschichtigkeit und in
seinen theologisch-philosophischen, künstlerischen und politischen
Spannungen erfaßt worden ist, zeigt einfühlsames Nachgehen
und überragende Kenntnis der persönlichen und sachlichen
Probleme von Tillichs Leben und Wirkung auf die Zeit
und Zeitgenossen. Dem gegenüber sind einige Versehen oder
Hörfehler, die Persönliches (hier habe ich Frau Renate Albrecht
für einige wichtige Hinweise zu danken) oder Zeitumstände
betreffen, von geringerer Bedeutung. (So stand Tillich
nicht den „Unabhängigen Sozialisten" [71], sondern der
USPD nahe und die Zeitschrift der religiösen Sozialisten des
„Kairos"-Kreises war erst die „Zeitschrift für religiösen Sozialismus
" mit dem Herausgeber Carl Mennicke, dann war
Tillich Mitherausgeber der „Neuen Blätter für den Sozialismus
", dessen Redakteur August Rathmann wurde.)

Wünsche, noch genauer die Szenerie des religiösen Sozialismus
beschrieben zu sehen, kann man sicher haben, für eine
Biographie Tillichs spielte aber doch nur ein enger akademischer
Kreis des religiösen Sozialismus, nicht der wirksamere
„Bund der religiösen Sozialisten Deutschlands" eine zentrale
Rolle.

Es ist gut und richtig, daß die Vff. sich nicht gescheut haben,
die Umstände von Tillichs Emigration genauer zu untersuchen
und darzustellen. Kritisch geben sie einen Brief Tillichs an

Theologische Literaturzeitung 105. Jahrgang 1980 Nr. 3