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Ausgabe:

1980

Spalte:

134-135

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Crimmann, Ralph P.

Titel/Untertitel:

Literaturtheologie 1980

Rezensent:

Henkys, Jürgen

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Theologische Literaturzeitung 105. Jahrgang 1980 Nr. 2

134

Biographien, Bibliographien, Bibelstellen-, Orts- und Personenregister
sind beeindruckend exakt. Bis in Kirchenbücher lünein
wird geforscht. Andererseits wird in allen einschlägigen und abgelegenen
Bibliotheken und Archiven nicht nur Europas gesammelt.
Die Bücher werden fast alle aufgrund von Autopsie bibliographisch
zitiert. Wem der Aufwand zu groß erscheint, der muß wissen, daß
hier nur der erste Band vorliegt. Die „Theologia ex idea vitae de-
dueta" und das ,,Biblisch-Kmhlcmatische Wörterbuch" liegen im
Manuskript vor. Dir „Inquixit.io in uensum oommunem" ist in
Vorbereitung. Insofern wird man G. Schäfer (2, IX) nachhaltig zustimmen
, daß die Anlage dieser Edition Ausnahme bleiben muß.
Trotzdem wird man doch kritisch fragen müssen, ob hier des Guten
nicht zu viel getan worden ist. Dafür drei Beispiele:

1. Oetinger schreibt in dem Abschnitt über Licht und Finsternis:
„Das Saltz der Natur, davon Christus so viel redet, ist in all weg
eine Geburt des innersten Feuers: ich meine des clcctrischen, nicht
des brennenden. Da muß man den grösten eleetr ieum, D. Divisch,
hören." (1, 224). Diese einzige Erwähnung von Prokop Divis
(1698-1765) verursacht eine 22 seitige Anmerkung mit Lebensdaten
, Bibliographie (incl. Handschriften), Literatur über Divis,
dem vollständigen Abdruck eines lateinischen Briefes Oetingers an
Divis aus einem Archiv in Olomouc/CSSR, Literatur zum Thema
einer Theologie der Elektrizität und Angaben über einen in einer
Quelle genannten Christoph Birkmann. Divis gilt neben Franklin
als Erfinder des Blitzableiters. Werden naturwissenschaftliche
Historiker den hier vorliegenden Schatz überhaupt entdecken?

2. Am Ende beruft sich Oetinger auf Speners zurückhaltende Beurteilung
von Jacob Boehmes Schriften. Er verweist dabei auf acht
Stellen aus Speners theologischen Bedenken, ohne sie zu zitieren
(1,251). Der Kommentar (2,510-524) beschränkt sich nicht auf
eine sonst übliche Kurzbezeichnung der Bedenken und die Zitierung
Speners. Es werden die verschiedenen Ausgaben und Auflagen
der Bedenken in ihrer vollen barocken Länge zitiert samt
allen Teiluntertiteln, so daß fast eine Seite für jeden Band gefüllt
wird. Dazu kommen sämtliche Parallelstellen aus Oetingers Irdischer
und himmlischer Philosophie, wo Oetinger Spener selbst zu
Worte kommen läßt. Dazu kommen eine Reihe kommentierender
Bemerkungen zu Speners Verhältnis zu Boehme und über die
Auktionskataloge von Speners Bibliothek. Oetingers Irdische und
himmlische Philosophie seheint nicht auf dem Plan der Herausgeber
zu stehen. Es wird in den Anmerkungen immer wieder seitenweise
zitiert.

3. Zu fragen bleibt, ob der große Fleiß bei der Wiedergabe der Bibelstellen
gerechtfertigt ist. Da nicht klar ist, welche Bibeltexte
Oetinger vorlagen (vgl. 2, IX), haben sich die Herausgeber für die
Lutherbibel letzter Hand von 1545 entschieden, mitunter auch für
die Revision von 1912 (warum nicht die letzte Revision?). Für die
Urtexte wurden die heutigen Ausgaben von Nestle und Kittel ausgedruckt
. Hätte nicht der schlichte Verweis auf die heutige Zählung
, falls sie abweicht, und die Benutzung des Urtextes (soweit es
von Bedeutung ist) gereicht? Ausführliche Zitate schwer zu findender
Literatur sind zu begrüßen, aber die Bibel dürfte doch nicht zu
dieser Kategorie zählen. Außerdem dürfte für die meisten theologischen
Forscher der Blick in die hebräische Bibel leichter sein als
die Entzifferung der deutschen Umschrift des hebräischen Textes.

Es versteht sich von selbst, daß dieses beeindruckende editorische
Werk nicht nur Leistung der beiden Herausgeber ist. Zahlreiche
andere haben beigetragen und werden jeweils notiert. Die
Ausgabe konnte nur mit Hilfe vieler Spenden ermöglicht werden.
Eine Liste von 50 Spendern (Firmen und Einzelpersonen) - fast
alle aus dem Württembergischen Raum - (2, VII) bezeugt, daß es
gelungen ist. breitere Kreise für die Herausgabe der Werke Oetingers
zu interessieren. Die Intensität der Forschung an Oetinger ist
bewundernswert. Man wünschte sich dasselbe für die anderen pietistischen
Väter. Aber vielleicht zeigt sich daran, daß der Württem-
bergische Pietismus sehr viel traditionsreicher und wirksamer geworden
ist, als das in anderen deutschen Gebieten der Fall war.
Martin Schmidt hat in seinem Geleitwort (1, VIII) unter anderen
auf den Württemberger Karl Heim hingewiesen.

Potsdam Peter Schicket»!!/.

Christliche Kunst und Literatur

Crimmann, Ralph P.: Literaturtheologie. Studien zum Vermittlungsproblem
zwischen Germanistik und Theologie, Dichtung
und Glaube, Lite.aturdidaktik und Religionspädagogik. Frankfurt
/M. - Bern - Las Vegas: Peter Lang 1978. 164 S. 8° =
Europ. Hochschulschriften, Reihe I: Deutsehe Literatur und
Germanistik, 240. Kart. sfr. 37.

Literarische Hervorbringungen mit poetischem Anspruch - Gedichte
, Erzählungen, Stücke - haben für die Gemeindearbeit erhebliche
Bedeutung erlangt und werden dort, wenn die Zeichen
nicht trügen, in Zukunft noch größere Aufmerksamkeit finden.
Wenn aber die Bezugnahmen auf Dichtung nicht der individuellen
Willkür oder dem modischen Zwang unterworfen sein sollen, sind
Klärungen in den Kontaktzonen von Literaturwissenschaft und
Theologie nötig. Literatur und Glaube müssen auf Gemeinsamkeiten
hin untersucht werden, die ihnen notwendigerweise innewohnen
, und Arbeitshilfen für das Literatur einbeziehende Glaubens-
gespräch sind dringend erwünscht. So darf ein Buch mit dem Titel
,,Literaturtheologie" mit erwartungsvollen Lesern rechnen.

Bemerkenswert an der hier anzuzeigenden Schrift ist, daß der
Vf. seinen um Grundsätzliches und Praktisches bemühten Klärungsbeitrag
von der Literaturwissenschaft bzw. Germanistik her
entwirft. Es kommt ihm darauf an, „literaturwissenschaftlichc
Methodik und Interpretationsverfahren so für die christliche Theologie
fruchtbar zu machen, daß eine theologische Rezeption der
Dichtung geleistet werden kann, ohne daß Germanisten den Verdacht
religiöser Ideologisieruug erheben können" (11). Der Untertitel
zeigt drei Fragenkreise an, in denen sich dieses Programm für
eine Grenzdisziplin bewegt, die zur Literaturwissenschaft ebenso
wie zur Theologie gehört.

Der erste Teil gilt fünf in historischer Folge besprochenen Konstellationen
im Verhältnis von Literaturwissenschaft und Theologie
, beginnend mit der romantischen Schule. Dabei will C. zeigen,
wie theologische und germanistische Arbeit in jeder Epoche durch
vergleichbare Tendenzen miteinander verbunden waren. Ein sechstes
„Paradigma" wird als Ergebnis der historischen Betrachtung
präsentiert. - Im zweiten Teil führt C. an drei Beispielen literatur-
thoologische Interpretationen vor, mit denen er den oben zitierten
Zielsatz anschaulich macht. Paul Celans Gedicht „Tenebrae", Bertolt
Brechts Drama „Mutter Courage und ihre Kinder" und Heinrich
Bolls Roman „Ansichten eines Clowns" werden unter der
Frage ausgelegt, wie Dichtung christlichen Glauben angeht und
wie theologisch reflektierter Glaube sich auf Dichtung einläßt. -
Im dritten Teil wird ein literaturtheologischer Kurs zur modernen
Lyrik vorgestellt, wie er in einer westdeutschen gymnasialen Oberstufe
innerhalb des Deutsch- oder Religionsunterrichts veranstaltet
werden könnte.

Ziel und Anlage der Schrift finde ich anziehend. Aber von der
Durchführung bin ich enttäuscht. Um mit Äußerlichem zu beginnen
: Es gibt zahlreiche Druckfehler, und selbst die im Anhang beigefügten
Gedichte sind davon nicht verschont geblieben. Sodann:
Wendungen wie „Durchnahme lyrischer Texte" (109) und „abprüfen
" (129: das biblische Menschenbild, 132: die verschiedensten
thematischen und ästhetischen Hinsichten, unter denen ein
Gedicht befragt werden kann) lassen einen Unterrichtsstil befürchten
, der für die Sache des Vf. nicht gerade wirbt. Überhaupt hätte
eine energische Schlußredaktion sprachlich und sachlich vieles zurechtstellen
können. Aber die hat es offenbar nicht gegeben, und
nun ist es dabei geblieben, daß das Thema von Brechts Drama
„die Dialektik von Leben (Handel) und Welt (Dreißigjähriger
Krieg)" ist (so auf S. 87, in Spannung zu einer angemesseneren
Formulierung auf S. 90); daß das Lied der Courage von der großen
Kapitulation sich „in drei Strophen mit je drei Refrains" gliedert
(89); daß der Schüler, motiviert durch Dichtung, sich „mit dem
musealen Bereich befaßt, der . . . konstitutiv zum Menschsein dazugehört
" (106) - und so weiter. Überall gibt es Passagen, die wegen
ihrer Ungenauigkoit, Schlagwortwirtschaft und Pausehalisie-
rung Unbehagen hinterlassen. Spräche der Titel von „Skizzen"
statt von „Studien" - das Buch fände wahrscheinlich geneigtere
Leser.