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Ausgabe:

1980

Spalte:

894-895

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Gerhardsson, Birger

Titel/Untertitel:

Die Anfänge der Evangelientradition 1980

Rezensent:

Ellis, Edward Earle

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893

Theologische Literaturzeitung 105. Jahrgang 1980 Nr. 12

Aspektes gekennzeichnet ist (jedoch: Daß Jesus sich bewußt an
das jüdische Volk wendet, kann auch der Vf. nicht bestreiten).
Darüber hinaus bringt die ßttatXe'«-Botschaft Jesu die „Heils-
Entschlossenheit Gottes" zur Sprache (142ff). Anders als Johannes
der Täufer argumentiert Jesus nicht von dem kommenden
Gericht, sondern von der Gegenwart des Menschen her: Aus dem
gegenwärtigen Verhalten folgt notwendig das Strafgericht, dessen
Ankündigung nicht so sehr als Drohung, vielmehr als Warnung
verstanden werden müsse (148f); hinzu kommt die Ankündigung
der Nähe der Gottesherrschaft, die den Gedanken der Gegenwärtigkeit
des eschatologischen Heils einschließt (166).

Welche Konsequenz hat die /Jr^iUdt-Verkündigiuig für die
Ethik Jesu? Ist die kommende und im Auftreten Jesu sich vergegenwärtigende
Gottesherrschaft das entscheidende Handlungs-
Prinzip, so ist Jesu Ethik eine eschatologischo Ethik, die ihren
Grund in dem als zukünftig angesagten und in der Person Jesu
gegenwärtigen Heil hat, das ethisches Handeln ermöglicht. Daß
solche Ethik den Namen „Interims-Ethik" nicht verdiene, wie Vf.
Weint (168f), ist freilich eine Definitionsfrage, um so mehr, wenn
man der These zustimmt, daß zum Wesen der Ethik Jesu gehöre,
°aß „dieses ermöglichte Handeln auf Zukunft hin geschieht, d. h.
von der Hoffnung getragen ist, in der Zukunft der Gottesherrschaft
seine Rechtfertigung zu finden" (171).

Im 4. Kap. bemüht sich der Vf. den theo-logischen Aspekt der
Verkündigung Jesu in der Bedeutung für das Existenzverständnis
des Menschen herauszuarbeiten (173ff). Zentral ist in der Botschaft
Jesu die Verkündigung von der Sorge Gottes für den Menschen
(Mt 6,25-33 par) und von der Vergebung Gottes, wie aus der
Gleichnisüberlieferung (einschl. des „Gleichnisses vom verlorenen
Sohn": „der Möglichkeit, daß das Gleichnis von Jesus selbst
stammt, [steht] nichts im Wege" [197]) und aus Aussagen über die
Zuwendung zu Zöllnern und Sündern als Praxis Jesu (Lk 19,1-10;
7,33-35 par) erhoben wird (186ff). Solche „Theo-Iogie" ist mit der
eschatologischen Ausrichtung der Botschaft Jesu aufs engste verbunden
, weil Jesus sich „als der eschatologische Bote Gottes gewußt
hat, der Gottes eschatologischen Heilsentschluß proklamiert
und mit seinem Wirken den eschatologisch handelnden Gott repräsentiert
" (213).

Auch bei der abschließenden Frage nach dem geforderten konkreten
Handeln des Menschen (c. 5; S. 217ff) geht der Vf. von dem
genannten hermeneutischen Ansatz der ethischen Verkündigung
Jesu aus: der Verkündigung der ßaadtt« als der Verwirklichung
der radikalen Güte Gottes, dio menschliches Handeln begründet
und ermöglicht. So wird es am Gebot der Feindesliebe (Mt 5,44
bis 48 par) und an der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt
18,23-35) verdeutlicht. Dabei wird klar, daß Jesu Weisungen
nicht als „Gesetz" verstanden werden dürfen, sondern mit der
Forderung der radikalen Zuwendung zum Mitmenschen Gesetzesund
Kultkritik vereinten (293).

Es ist an dieser Stelle nicht möglich, auch nur den wichtigsten
der durch den Vf. aufgeworfenen Problemstellungen nachzugehen
. Zweifellos handelt es sich, wie das Referat zeigen sollte, um
eine eindringende, sorgfältig gearbeitete Untersuchung, aus der
im einzelnen viel zu lernen ist. Dennoch reizt schon die gedrängte
Form der Darstellung zu kritischen Gegenfragen; so wird die exegetische
Argumentation zwar informativ, jedoch allzu gerafft,
ohne auf die Einzelprobleme einzugehen, vorgeführt. Zweifelhaft
wurde schon die Ansicht des Vf., wonach Mkl,15 zentral als
Grundlage für die Verkündigung Jesu herangezogen werden kann.
Darin wird, wie auch im übrigen, eine konservative Tendenz sichtbar
, dio in der römisch-katholischen Exegese zunehmend an Einfluß
gewinnt und die Ergebnisse der literar- und traditionskritischen
Forschung in den Hintergrund treten läßt. Zu vielen der
von dem Vf. als „authentisch" herangezogenen Texte muß der
Rez. ein Fragezeichen hinzufügen. Von sachlicher Bedeutung ist
darüber hinaus, daß der Gerichtsgedanke, der mit der HnoiXeia-
Vorstellung untrennbar verbunden ist, von dem Vf. nicht wirklich
zur Interpretation der Verkündigung Jesu herangezogen wurde.
Dies hat ein harmonisiertes Gottesbild zur Konsequenz, das zu
ausschließlich an dem Gedanken der Güte Gottes orientiert iBt,
und die Ethik Jesu vereinfacht. Ist diese durch das Nebeneinander
von apokalyptischen und weisheitlich-ethischen Traditionen gekennzeichnet
, so ist eben dadurch eine Komplexität der Botschaft

Jesu festzustellen, die im Gesetzesverständnis Jesu beispielhaft
zum Ausdruck kommt und auch eine inhaltliche Zuordnung von
Soteriologie und Ethik nicht ausschließt, indem letztere nicht nur
als Folge der ersteren zu begreifen ist. Und wenn auch der ma.l 'lc-
Begriff im Zusammenhang der Verkündigung Jesu nicht nachweislich
erscheint, so impliziert doch die Erwartung der ß latXein
und des eschatologischen Richterspruches ein Urteil über die
Intentionalität des menschlichen Tuns und motiviert den Ruf
zur ethischen Tat (zu 133).

Es ist ein Defizit nicht nur dieses Buches, daß die vorausgesetzte
..Theo-Iogie", die der Vf. als Verordnung der göttlichen Güte
gegenüber dem menschlichen Tun versteht, das Problem der Kriterien
, nach denen verantwortliches menschliches Handehi sich
vollziehen muß, nicht in don Blick bekommt ; und auch, daß die
menschliche Freiheit, welche durch die Erwartung der kommenden
und gegenwärtigen Gottesherrschaft motiviert ist, eigentümlich
begrenzt erscheint. Hier wäre das Problem von Kontinuität und
Diskontinuität des alten und neuen Menschen aufzuwerfen und
auch die Vorstellung der „Heilsermöglichung" durch die Gottesherrschaft
, die nach ntl. Verständnis menschliche Verantwortung
nicht aufhebt, kritisch zu hinterfragen. Es ist vermutlich kein Zufall
, daß die religionsgeschichtliche Fragestellung in diesem Buch
nur am Rand behandelt wird, wie denn auch das Lit.-Verzeichnis
- leider nicht nur in dieser Hinsicht - lückenhaft ist.

Bovenden Georg Strecker

Gerhardsson, Birger: Die Anfänge der Evangelientradition. Wuppertal
: Brockhaus 1977. 69 S. 8° = ABCteam. Kart. DM 10,80.

These lectures, a populär and updated presentation of the thesis
set forth in Memory and Manuscript (1961) and Tradition and
Transmission (1964), represent an approach to the Gospel tradi-
tion that in several ways is radically different from the one initiated
in the 1920s. The early form criticisin prosupposed a 'break' bet-
ween the message of Jesus in the simple Palestinian proclamation
and the syncretistic ideas of the diaspora church t hat produced, in
time, our present Gospels. Dr Gerhardsson, rightly I think,
rejects any radical 'break' and views the Gospels as a development
of Jesus' message that Stands in essential continuity with it. The
early form criticism posited a Sitz im lieben in the seneral preach-
ing, a freoflowing growth analogous to folk traditions. Gerhardsson
argues for the controlled environment of a master/disciple
circle, analogous to rabbinic Judaism.

In the New Testament Gerhardsson finds in Paul's inv(fuiauo;
and zeal for 'the traditions of my fathers' (Gal 1:14) and in (the
Lukan) Paul's instruetion in 'the laws of the fathers' (Acts 22:3;
cf. 28:17) a reflection of the same, normative educationnl process.
This attitude and praxis finds expression in Paul's teaching when
he refers to the 'tradition' that he 'reeeived' and, in turn, 'deli-
vered' to his congregations to 'reeeive'. 'walk in', and 'stand' (ICor
11:2,23; 15:1-3; Gal 1:9; IThess2:15; 4:1; II Thess 2:15). It
appears in the Gospels in the 'traditions of the eiders' that the Pha»
risees, scribes and 'all the ItwtmTu* 'reeeive', 'keep', 'walk in', and
'deliver' (Mk 7:1-13 par). The terminological correspondence does
not establish that Christianity had the same coneept of tradition as
the teachers of Judaism. But it does reveal that early Christianity
transmitted its teachings, orally or in writing, in an intentional and
programmatic manner. In its use of common technical terms the
process appears to involve an activity distinet from the apostle's
general proclamation or teaching. Did such activity include Jesus-
traditions ? The scarcity of roferences to Jesus' words and deeds in
Paul's letters indicates that his teachings had been transmitted to
the congregation earlier. This is confirmed in one text (I Cor 11:23)
and may be inferred from his (new) appeals to Jesus' teaching in
ICor 7:10,12,25; 9:14.

The Gospel traditions represent the results of this kind of past-
oriented, controlled transmission of Jesus' words and deeds.

In this book Gerhardsson modifies (or clarifiea) his earlier views
in ways that seem to strengthen his case. He affinns the possibility
of written as well as oral transmission and, for the rabbis as well
as for early Christianity, ho recognizes factors that tend to alter