Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1980

Spalte:

846-849

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Titel/Untertitel:

Stadt und Kirche im 16. Jahrhundert 1980

Rezensent:

Wartenberg, Günther

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3

Download Scan:

PDF

845

Theologische Literaturzeitung 105. Jahrgang 1980 Nr. 11

846

Wissenschaftliche Biographien gehören seit dem Altertum
zu den Formen geschichtlicher Darstellung. Sind sie
auch in jüngster Zeit zugunsten der Veranschaulichung größerer
Zusammenhänge in der gesellschaftlichen und politischen
Entwicklung zurückgetreten, so bleiben sie doch das
legitime Mittel, um punktuell in der Wechselwirkung von
Individuum und Umwelt Probleme, Ereignisse, Schichten
und Gruppen interpretierend nachzuzeichnen. Daß nicht
jede historische Persönlichkeit biographiewürdig ist, liegt
auf der Hand. Oft steht aber mehr die fehlende Aufarbeit
der vorhandenen Quellen dahinter als der Mangel an geeignetem
Material. Für den Vf. bot sich in Francois Bauduin
(Balduinus) ein lohnendes Objekt. Bei Historikern des 16. Jh.
Wenig bekannt, beschränkte sich bis vor wenigen Jahren
die Literatur über ihn weitgehend auf Artikel in Lexika
und Erwähnungen in Standardwerken, wie aus dem umfangreichen
, aber nicht überzeugend gegliederten Literaturverzeichnis
(294-296: Arbeiten über B.; 296—300: Quellenwerke
sowie Literatur vor 1800; 300—306: Neuere Literatur)
dieser chronologisch aufgebauten Habilitationsschrift im
Fachbereich Geschichtswissenschaft der „Freien Universität
" in Berlin (West) hervorgeht. Sein Ziel, durch die biographische
Behandlung B.s die „Einsicht in einige wesentliche
Probleme des Reformationszeitalters zu vertiefen"
(14), erreicht der Vf. in jeder Beziehung. Dazu gehören die
eingehende Kommentierung des Gebotenen, der Abdruck
wichtiger Dokumente, ein Verzeichnis der Schriften mit allen
bis 1886 erfolgten Nachdrucken, ein Register des Briefwechsels
, das neben 80 Briefen von und an B. 33 Widmungsschreiben
zu eigenen Schriften enthält. Grundlage für die
Arbeit sind das gut aufbereitete Material aus verschiedenen
schweizerischen, französischen, deutschen Archiven und
Bibliotheken, besonders Genf, Basel, Straßburg, Besangon,
Wolfenbüttel, Heidelberg, Stuttgart. Die mit Georg Cassan-
der (1512—1566), einem Mitstreiter für den konfessionellen
Ausgleich, gewechselten Schreiben liegen in der Universitätsbibliothek
Leiden. Der eigentliche Nachlaß des Humanisten
ist nicht erhalten.

Der am 1. Januar 1520 in dem für Flandern bedeutenden
und reichen Wirtschafts- und Kulturzentrum Arras, das
heute zu Frankreich gehört, geborene B. stammte aus einer
angesehenen Familie des städtischen Bürgertums. Wie sein
Vater und sein Großvater, wandte er sich der Rechtswissenschaft
zu, um so als Beamter in landesfürstlichem Dienst
Karriere zu machen. Das Studium an der Universität Löwen
(1534—1542) schuf die Grundlage für seine humanistische
Denkweise, die ihn nicht nur aufnahmebereit machte
für Reformideen, die die für seine wissenschaftliche Arbeit
charakteristische Verbindung von Rechtswissenschaft und
Geschichte förderte, sondern die ihn später auch für religiöse
Toleranz eintreten ließ. Jurisprudenz, Historie, Ausgleich
zwischen den zerstrittenen Konfessionen sind die Gebiete
, auf denen B. die Anliegen seiner Zeit im Vorfeld von
Gegenreformation und Orthodoxie aufnahm und eigenständig
aufarbeitete.

Die erfolgversprechende Tätigkeit als Anwalt in seiner
Heimatstadt unterbrach 1545 jäh die Entdeckung seiner
Sympathien für den im gleichen Jahr hingerichteten Freund
Calvins, Pierre Brully. B. trat in den Bannkreis des Genfer
Reformators. Das wechselvolle Verhältnis zu Calvin und zu
den Reformierten sollte den weiteren Weg bestimmen, der
eigentlich immer die Suche nach einer Ruhm und Ehre einbringenden
Lebensstellung blieb. 1545 und 1547 weilte B.
in Genf, 1548 übernahm er eine juristische Professur in
Bourges. Nach kurzem Aufenthalt in Straßburg (1555/56)
finden wir ihn 1556-1561 als Professor in Heidelberg. In
dieser Zeit begann das freundschaftliche Verhältnis mit
Philipp Melanchthon, dem er 1557 begegnete. Noch in Straßburg
hatten die Bearbeiter der „Magdeburger Zenturien"
B. zur Mitarbeit aufgefordert. Eingehend äußerte sich dieser
zum Plan und zur Konzeption des Kirchengeschichtswerkes.
Dabei entwickelte er erneut seine Vorstellungen für das
methodische und methodologische Herangehen an Geschichte
: Einbeziehung der Jurisprudenz, Wahrheitsstreben,
unbedingte Quellenkritik. In jede Geschichtsbetrachtung sei
Gottes Wirken einzubeziehen, die als Weltgeschichte vom
Alten Testament bis zur Gegenwart reichen müsse. Dadurch
könnten die Vergangenheit rekonstruiert und die Zukunft
teilweise erhellt werden. Im Sinne der humanistischen Geschichtstheorie
gehörten dazu, wie er später ausführt, die
Wahrhaftigkeit des Historikers, die Auswertung der schriftlichen
und mündlichen Tradition und ihrer Quellen, wobei
das dem Ereignis zeitlich nächste Zeugnis höheren Quellenwert
besäße. Der Mensch sei nicht nur Zuschauer und Interpret
, sondern auch aktiv Handelnder im politischen Geschehen
. Dafür gebe die durch Geschichte bereicherte und
belebte Rechtswissenschaft entscheidende Impulse. Die Vergangenheit
gebe Möglichkeiten zur Lösung von Gegenwartsfragen
, wozu B. immer die Uberwindung der Trennung
in der Christenheit rechnete. Als Befürworter des
Ausgleichs weilte er nach 1561 in Frankreich. Der Professor
der Rechte wurde zum Politiker, der hoffte, sein Ziel als
Berater Antons von Navarra (1518—1562), Wilhelms von
Oranien (1533-1584) und Herzog Albas (1507-1582) zu erreichen
. Das Scheitern des Religionsgespräches von Poissy
1561 traf B. sehr. Die im Zusammenhang mit dem Kolloquium
gegen ihn gerichtete maßlose Polemik der Reformierten
, die er in gleicher Weise zurückgab und die den
Bruch mit Calvin endgültig machte, sowie die sich im Gefolge
des ausgebrochenen Religionskrieges ergebende Polarisierung
, veranlaßten ihn, wieder katholisch zu werden.
Dieser Schritt war die Antwort eines nach persönlicher
Sicherheit strebenden Gelehrten, der wie viele seiner Landsleute
den radikalen Weg der Hugenotten nicht mitgehen
konnte. 1569 trat er in den Dienst Heinrichs von Anjou
(t 1589) als Professor in Angers. Seinen Herrn konnte er zur
Übernahme der Königswürde nicht nach Polen begleiten.
Der Herzog ließ vielmehr durch den Jesuiten Juan Maldonado
(1533—1583) die Rechtgläubigkeit des Juristen prüfen.
Während dieser Gespräche starb B. plötzlich am 24. Oktober
1573 in Paris. Dem Verfechter religiöser Toleranz und
konfessionellen Ausgleichs reichte Maldonado die Sterbesakramente
. Deutlicher konnte das Scheitern des in der
erasmischen Tradition wirkenden Gelehrten, Juristen und
Historikers nicht gezeigt werden.

Abschließend geht der Vf. auf B.s Nachleben bis zur Aufklärung
ein (186—206). Dadurch erhalten sein Lebenswerk
und die einzelnen Abschnitte dieses wechselvollen Lebensweges
stärkere Konturen. Eine objektivere Würdigung erfährt
er erst Ende des 17. und im 18. Jh., während aus calvi-
nistischer und katholischer Sicht Polemik und einseitige
Rezeption überwiegen. B. teilte das Schicksal vieler Personen
und Ereignisse des 16. Jh., Objekt einer konfessionell
ausgerichteten Geschichtsschreibung zu sein. So ist die vorliegende
Biographie auch eine Wiedergutmachung sowohl
an B. als auch an der von ihm vertretenen erasmisch-ireni-
schen Richtung.
Leipzig Günther Wartenberg

Moeller, Bernd [Hrsg.]: Stadt und Kirche im 16. Jahrhundert.

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn [1978].
191 S. 8° = Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte
, 190. Kart. DM 48,-.

Seit Bernd Moeliers Arbeit „Reichsstadt und Reformation
" (Gütersloh 1962) spielt in den Forschungen zu den
Anfangs jähren der deutschen Reformation der Komplex
Stadt und Reformation eine zunehmende Rolle. Während
die Territorien als Ereignisbereich reformatorischer Bewegung
zurücktreten, interessieren sich die Reformationshistoriker
mehr und mehr für die Städte, um ein in der älteren
Forschung kaum wahrgenommenes und in der traditionellen
Sicht der Reformationsgeschichte verzeichnetes
Bild zu korrigieren. So konnte Ende März 1977 das Reinhäuser
Symposion (BRD) des Vereins für Reformationsgeschichte
, auf dem die in unserem Sammelband vereinigten