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Ausgabe:

1980

Spalte:

837-839

Kategorie:

Neues Testament

Titel/Untertitel:

Zur Geschichte des Urchristentums 1980

Rezensent:

Lührmann, Dieter

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Theologische Literaturzeitung 105. Jahrgang 1980 Nr. 11

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können" (130) und die darüber hinaus erkennen lassen, daß
hinter dem Phänomen der frühchristlichen Pseudepigraphie
letztlich ein theologisches Motiv steht, das Motiv nämlich —
wie der Vf. es formuliert — der „Partizipation an der überlegenen
Vergangenheit" (105). Pseudepigraphie in diesem
Sinne ist dann „unmittelbare, auch inhaltlich-thematisch
erkennbare Spiegelung von Traditionszusammenhängen"
(112), ist im Grunde nichts anderes als die „literarische
Form eines theologischen Arguments" (117 ff.): ..Wo es eine
Qualifizierte, normative Anfangszeit gibt, muß jede neue
Belehrung von dort kommen, also alt und von den anerkannten
Ursprungsgrößen abgeleitet sein" (118). „Verfasserschaftsfiktion
" ist somit — wie sich an den entsprechenden
Schriften auch des Neuen Testaments unschwer aufzeigen
läßt — „eine bestimmte Form der Aktualisierung und
der Auslegung der Norm" (119), Medium für den Aufweis
der Kontinuität der (apostolischen) Tradition oder auch
eines „Schul-Zusammenhangs" (so insbesondere im Falle
der deuteropaulinischen Schriften des Neuen Testaments).
Und zugleich erweist sich in diesem Zusammenhang, daß
sich im Phänomen der frühchristlichen Pseudepigraphie ein
bestimmtes Grundverständnis des Verhältnisses von Wahrheit
und Geschichte niedergeschlagen hat (117 ff.), wobei
dem Vf. gewiß auch darin Recht zu geben ist, daß solche Erkenntnis
der theologischen Implikationen frühchristlicher
Pseudepigraphie die kritische Betrachtung des Phänomens
— zumal für den heutigen Betrachter mit seinem „veränderten
Verständnis der Relation von Wahrheit und Geschichte*
(119) — keineswegs ausschließt. Damit ist in der vorliegenden
Studie ein zweifellos eindeutiges Ergebnis und zugleich
auch ein Ausgangspunkt für alle weiteren, im einzelnen differenzierenden
Untersuchungen der frühchristlichen Pseudepigraphie
gewonnen, so daß man sich am Ende fragt, warum
der Vf. nicht doch zum Schluß seiner Studie den „Versuch
einer Zusammenfassung" gewagt hat bzw. bei einer
„Summe von Einzelbeobachtungen" stehengeblieben ist
(130). Angesichts des im übrigen eindeutigen Ergebnisses
der Studie ist auch nicht ganz einsichtig, was den Vf. dazu
veranlaßt hat. im Zusammenhang der Frage nach den „speziellen
Bedingungen und Tendenzen der frühchristlichen
Pseudepigraphie" (81 ff.) relativ breit im Anschluß an entsprechende
Aussagen Piatons und Philons der speziellen
Frage der Erlaubtheit von List, Täuschung und Lüge (im
Sinne der „Not- oder Nutzlüge") nachzugehen, zumal diese
Frage lediglich in einer bestimmten Traditionslinie der pa-
tristischen Literatur eine Rolle gespielt hat (vgl. 85 ff.) und
somit für die Frage nach den „speziellen Bedingungen und
Tendenzen der frühchristlichen Pseudepigraphie" ohnehin
nicht von zentraler Bedeutung ist. Hätte der Vf. auf diese
Digression verzichtet, wäre das Ergebnis seiner Untersuchungen
gewiß noch überzeugender gewesen. Eine knappe
„Auswahl neuerer Literatur" beschließt das Buch (131 f.).
Man vermißt dabei lediglich den Hinweis auf die umfassende
Erörterung des Problems „biblischer Pseudepigraphie
" bei W. Trilling, Untersuchungen zum 2. Thessaloni-
cherbrief. Leipzig 1972. S. 133—155, zumal ja gerade auch
hier der Versuch gemacht wird, das Phänomen der Pseudepigraphie
innerhalb der ..umfassenden Thematik der .Überlieferung
'" zu begreifen (W. Trilling, a.a.O., S. 155).
Rostode Hans-Frledrtch Weiß

' N. Brox, Die Pastoralbriefe, Leipzig '1975 (Regensburger Neues
Testament 7/2). S. BO-66: ders.. Zum Problemstand in der Erforschung
der altchristlichan Pseudepigraphie, in: Kairos N. F. 15, 1973,
S. 10-23.

Dautzenberg, Gerhard, Helmut Merklein u. Karlheinz Müller
[Hrsg.l: Zur Geschichte des Urchristentums. Freiburg —
Basel-Wien: Herder [1979]. 160 S. 8° = Quaestiones dis-
putatae, 87. Kart. DM 26,-.

Die in diesem Band vereinigten sechs Aufsätze gehen zurück
auf ein Symposion aus Anlaß des 65. Geburtstages von
Rudolf Schnackenburg, das zum Ziel hatte, „Beiträge zu

einer Geschichte des Urchristentums auszutauschen" (9). So
meint der Titel des Buches mehr als einen kleinsten gemeinsamen
Nenner für disparate Themen; das Vorwort macht
vielmehr aufmerksam auf Aporien der gegenwärtigen Forschungslage
und zeigt die Einzelbeiträge als Versuche an,
anhand von Einzelthemen das Terrain „Geschichte des Urchristentums
" zu sondieren.

Gemessen daran scheint mir der vorliegende Band freilich
enttäuschend, weil sich hinter den einzelnen Aufsätzen weder
gemeinsam gewonnene weiterführende Fragestellungen
abzeichnen noch gar gemeinsame Orientierungsmodelle jenseits
des üblichen Dreischritts von (palästinischer) Urge-
meinde, hellenistischer Gemeinde und (Übergang in den)
Frühkatholizismus.

Die drei ersten Beiträge haben gemeinsam, daß sie traditionsgeschichtliche
Entwicklungen nachzeichnen sollen.

G. Dautzenberg („Der Wandel der Reich-Gottes-Ver-
kündigung in der urchristlichen Mission" 11—32) geht von
P. Hoffmanns Interpretation der Logienquelle aus und
kommt zunächst zu dem Ergebnis, daß Mk 1,14 f. das Verhältnis
von Reich Gottes und Christologie in ähnlicher Weise
bestimme wie Q. Über die außerpalästinische Mission sei
solche Konzeption, verdichtet im Begriff des „Evangelium",
auch an Paulus gekommen, doch wird am Schluß gerade dieses
Verhältnis von Jesusüberlieferung und paulinischer
Theologie als ungeklärtes Problem offen gelassen. „Geschichte
" ist hier verstanden als Wandern von „Traditionen
", „Vorstellungen" o. ä., durchaus auch mit dem Versuch
, historische Voraussetzungen zu berücksichtigen: es
fehlt aber die m. E. für traditionsgeschichtliche Untersuchungen
dieser Art unerläßliche Frage nach dem Sachgehalt,
der in dem Thema „Reich Gottes" liegt.

Derselbe Einwand gilt auch gegenüber dem Beitrag von

H. Merklein (..Zur Entstehung der urchristlichen Aussage
vom präexistenten Sohn Gottes" 33—62). Nach einem
forschungsgeschichtlichen Überblick setzt M. ein mit einer
Darstellung der Texte; es folgen religions- und traditionsgeschichtliche
Überlegungen, die gemeinsam wieder einmal
auf die berühmten ..Hellenisten" in Jerusalem führen sollen.
Die Beziehung zur jüdischen Weisheitstheologie und damit
die Beziehung zur Gesetzesthematik wird zu Recht herausgestellt
, doch ist auch hier wieder wie bei Dautzenberg die
Sachfrage zu stellen nach den Hoffnungen, die sich in der
Sendungsaussage verdichteten; m. E. würde man in beiden
Fällen auf das gesamtbiblische Thema der „Gerechtigkeit"
stoßen. Traditionsgeschichtliche Ergebnisse aber sind nicht
als solche schon historische; dies zeigt die alte Unterscheidung
zwischen palästinisch und hellenistisch, die sich ja
auch auf Apg 6 berief — traditionsgeschichtlich gesehen hatte
sie heuristische Funktion, als historisches Nacheinander ist
sie unbrauchbar.

Traditionsgeschichtlich arbeitet auch M. Waibel („Die
Auseinandersetzung mit der Fasten- und Sabbatpraxis Jesu
in urchristlichen Gemeinden" 63-96). Sie untersucht die
Vor- und Nachgeschichte der Perikopen Mk 2,18-22 und
2,23-28. Als Ausgangspunkt wird jeweils eine älteste Überlieferung
gesucht, der eine Erinnerung an Jesu eigenes Verhalten
(Nicht-Fasten, übrigens hier einschließlich v. 21 f.)
oder an eine konkrete Situation im Leben Jesu zugrunde
liegt (Sabbat). Verfolgt wird dann der Überlieferungsprozeß
durch die Gemeinde zu Mk und weiter zu Mt und Lk.
Angesichts der heutigen Durchschnittschristologie, die nicht
mehr primär am Selbstbewußtsein Jesu oder am Kerygma
orientiert ist, sondern am Verhalten Jesu, zeigen m. E. gerade
die Streitgespräche, wie wenig eindeutig das Verhalten
Jesu wirkte im Blick auf neue Problemstellungen in den
Gemeinden. Dies wird auch in der Untersuchung von W.
deutlich; doch führt der daraus gezogene Schluß, „die hinter
einem Verhalten oder Wort Jesu liegende Willensrichtung
(!) Jesu bzw. die geschichtliche Bedingtheit bestimmter
christlicher Interpretationen und Praktiken zu ergründen
und ... in unserer Gegenwart eine Neuintegration von
Jesu Intentionen (!) und aktueller Situation zu versuchen"