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Ausgabe:

1980

Spalte:

761-762

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Niess, Hans Peter

Titel/Untertitel:

Kirche in Russland zwischen Tradition und Glaube? 1980

Rezensent:

Onasch, Konrad

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Seite 1

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7*1 Theologische Literaturzeitung 105. Jahrgang 1880 Nr. 10 n2

diese verzichteten vielmehr meist überhaupt auf apkl. Spekulationen
oder verbannten diese doch an den Rand ihrer Theologie
. Es waren die orthodoxeren Theologen, die den chiliastischcn
Rahmen für ihr theologisches Gebäude auch weiterhin zu benötigen
meinten, diesen aber in den Dienst ihrer innerweltlichen
Erwartung stellten, ohne daß sie wie die Liberalen die
Notwendigkeit des Übels leugnen wollten. Unter ihnen erlebte
die Theologie Edwards' eine kräftige Nachwirkung. Die Prä-
millennialisten dagegen befürchteten, hier werde die ganze
Bibel nur noch metaphorisch verstanden und für Gottes den
Bereich des bloß Innerweltlichen sprengendes Handeln bleibe
kein Raum. Das brauchte sie an emanzipativem Handeln nicht
zu hindern, waren doch die meisten Adventisten aktive Gegner
der Sklaverei.

Rostock Gert Wcndclborn

Niel), Hans Peter: Kirche in Rußland zwischen Tradition und
Glaube? Eine Untersuchung der Kirillova kniga und der Kni-
ga o vere aus der 1. Hälfte des 17. Jahrhunderts. Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht [1977]. 255 S. gr. 8° = Kirche im
Osten, 13. Kart. DM 52,-.

Angesichts der Tatsache, daß über die Ursachen des Schismas
(russ. raskol) der russischen orthodoxen Kirche im 17. Jh. in
weiten Kreisen entweder die Bedeutung des Ritus und der
Liturgie stark übertreibende oder mystifizierende Vorstellungen
herrschen, besteht der Wert der vorliegenden Untersuchung in
der wissenschaftlichen Versachlichung der Problematik der
Altgläubigcn-(Altritualisten-)Kirche. Diese Versachlichung orien
tiert sich an einem die Frage des Ritus übergreifenden Thema
: dem Verhältnis der russischen orthodoxen Patriarchatskirche
und der Altgläubigen zur gemeinsamen Tradition. Dafür
bieten die beiden im Titel genannten, 1644 und 1648 im Moskauer
Druckerhof gedruckten Bücher insofern einen guten
Ausgangspunkt, als sich die russische Orthodoxie in ihnen nicht
nur gegen Katholizismus und Protestantismus abgrenzte, sondern
über der Tradition mit sich selbst auf eine Weise ins
Gespräch kam, die nach dem Stand ihrer Theologie im 17. Jh.
zur Spaltung führen mußte. Erst aufgrund eines gewachsenen
kirchengeschichtlichen Bewußtseins und seiner Einsichten konnte
das Schisma 1971 durch den Moskauer Patriarchat aufgehoben
werden (vgl. auch S. 176 f). Im 17. Jh. vermochten die
Theologen und Kirchenpolitiker nicht nur nicht zwischen Dogma
und Ritus hinsichtlich ihres qualitativen Verhältnisses zur
Tradition (als Instrument der Auslegung der Bibel) zu unterscheiden
, sondern gerieten über der letzteren noch in einen
tiefen Konflikt. „Das Kriterium der Unveränderbarkeit der
Tradition steht in Spannung zu dem des Alters, wenn das, was
das Alte sein soll, selbst strittig ist und aufgrund des gricchi
sehen Vorbilds korrigiert, also verändert werden soll" (174).
So konnten sich sowohl Nikon bei seinen Kultusrcformcn, als
auch die Altritualistcn auf die griechische Tradition berufen,
obwohl diese für die letzteren die eigene kirchliche Vergangenheit
in Frage stellte.

Vf. behandelt sein Thema methodisch sicher, indem er zunächst
in Abschnitt 1 auf die z.T. sehr komplizierten Fragen der Entstehungsgeschichte
beider Bücher eingeht. Als Redaktor der Kiril-
lova kniga wird mit hoher Wahrscheinlichkeit Michail Rogov angesehen
(17), als Autor bzw. Kompilator der Kniga o vere
ein „Pseudo-Nafanail" konstruiert (54-59). Einer oft mühsamen
Arbeit unterzog sich N. bei der Hcrausarbeitung der
beiden Büchern zugrunde liegenden Quellen, die, auf dem
Boden der ukrainischen Kultur, den verschiedensten konfessionellen
und bildungsmäßigen Bereichen entstammen. Bereits
beim Studium dieser Quellen ergibt sich die Frage, ob nicht die
konservativen Kreise der Moskauer Altgläubigen mit dem Studium
der beiden Bücher überfordert gewesen sind. Diese Vielfalt
von Anschauungen und dieser Problcmrcichtum war ihnen
unbekannt geblieben. Nachdem bereits im 1. Abschnitt genaue
Inhaltsangaben geboten worden waren, entfaltet Vf. in Abschnitt
2 „Tradition und Glaube in der Kirillova kniga und der
kniga o vere" sein Thema systematisch, indem er es nach

seinen kontroverstheologischen Gegenständen abhandelt (z. B.
„Krcuzzeichcn", „Barttragen", „Filioque", „Kindertaufe", .Vernunftbeweis
" u.a.m.). Das Ergebnis der Untersuchung wird in
Abschnitt 3 zusammengefaßt. Anmerkungen, ein ausführliches
Literaturverzeichnis (es bliebe lediglich A. N. Robinson mit
seinen wichtigen Arbeiten zum Umkreis der Bücher nachzutragen
) und ein Personenregister schließen sie ab.
Vf. hat ohne Zweifel sein Material umsichtig geordnet. Es ist ihm
gelungen, die tiefe und komplizierte Krise der Tradition sowohl
innerhalb der Patriarchats- wie der Altritualistenkirchc
an ihm aufzuzeigen und darzustellen. Man wird diese Krise
mit jener zur Zeit Ivans III. vergleichen dürfen, die F. v.
Lilicnfeld vor Jahren gründlich analysiert hatte. (Eigenartigerweise
fehlt bei N. nicht nur Name und Titel, sondern auch
jeder Vergleich mit jener Epoche Nil Sorskij's.) Als ein sehr
wichtiges von N. aus den Quellen herausgearbeitetes Elemenl
sei auf die Antichristpolemik der Altgläubigen hingewiesen
(2.2.3.1.-2.2.3.3.), deren vielschichtige Herkunft (Franziskaner
Hus, Wyclif, Luther) er eingehend untersucht und als Besonderheit
dieser Krise richtig herausstellt. Es bleibt nur zu
wünschen übrig, daß die Entstehung des Raskol neben dieser
tradilionsgeschichtlichcn kritischen Studie noch aus dem ebenso
wichtigen Aspekt der orthodoxen und spezifisch russischen
orthodoxen Kanonistik untersucht wird, der einen Schritt weiter
zur Ekklcsiologic der Altritualistcn führen dürfte. Vorläufig
jedenfalls konnte auch N. — und dieses keineswegs aus
wissenschaftlichem Unvermögen! — keine Antwort auf die
Frage geben, warum gerade die Altgläubigen auf der einen
Seite die „griechische Orientierung" ablehnten, auf der anderen
aber an der Tradition der griechischen Mutterkirche „verbissen
" festhielten. Oder anders ausgedrückt: Mit welchem ckkle-
siologisch-kanonistischem Selbstverständnis sie die Kirillova
kniga und die Kniga o vere lasen? Standen sie etwa, wie man
zu sagen pflegt, „mit dem Rücken zur Wand" und mußten
einen Ausweg in Gestalt ihrer Apokalyptik und Antichristpole-
mik finden? Schließlich und endlich sollten auch die gesellschaftlichen
Implikationen nicht übersehen werden, auf die
A. N. Robinson in seinem problcmreichen Buch „Der Kampf der
Ideen in der russischen Literatur des 17. Jahrhunderts" (Moskau
1974, russ.) aufmerksam gemacht hat. Theologisch gesehen,
sollte nicht vergessen werden, daß auch für die Altritualisten
der Justifikationsgedankc, der im 17. Jh. von ihren grundverschiedenen
Voraussetzungen Protestantismus und Katholizismus
zu gegenseitigen Provokationen trieb, völlig irrelevant
blieb. Aversion gegen das forensische Gedankcnmodcll beider
Westkirchen brachten Patriarchatskirche und Altritualisten um
die Chance einer kritischen Besinnung auf die eigene Tradition
und des Dialoges mit jenen. Das wird aus der Darstellung N.s
mit aller Deutlichkeit einsichtig.

Halle (Saale) Konrad Onasch

Hasler, August Bernhard: Pius IX. (1846-1878), Päpstliche Unfehlbarkeit
und 1. Vatikanisches Konzil. Dogmatisierung und
Durchsetzung einer Ideologie. 2 Halbbände. Stuttgart: Hier-
semann 1977. XII, 627 S. gr. 8° Päpste und Papsttum. 12,
I/II. Lw. DM 300,-.

Diese Publikation, ursprünglich eine Münchner philosophische
Dissertation, kann a priori besondere Aufmerksamkeit
beanspruchen, da sie ein noch immer höchst aktuelles Problem
auf- und angreift, das seine Bczugslinien in viele Gebiete des
menschlichen Wissens und Seins hinein profiliert. Insofern
wäre wohl eine umfangreiche Erörterung des Dargebotenen
erwünscht, die sich indes schon aus Raumgründen verbietet.

Auf ein informatives Vorwort folgt eine knappe „Einführung"
in das durch mannigfache Kontroversen gekennzeichnete Thema
, die sinnvollerwcise als Bezugspunkt mit dem zweiten Vati-
kanum beginnt, das eine grundsätzliche Bestätigung des .Vorgängers
' in allen wesentlichen Punkten erzielt hat. Die Arbeit
ist auf zwei vielfach untergliederte Halbbände aufgeteilt und
enthält neben einem umfangreichen Literaturverzeichnis (das