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Ausgabe:

1980

Spalte:

54-57

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Tschuy, Theo

Titel/Untertitel:

Hundert Jahre kubanischer Protestantismus (1868 - 1961) 1980

Rezensent:

Zehrer, Karl

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Theologische Literaturzeitung 105. Jahrgang 1980 Nr. 1

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für die Gründung, die Organisation, die innere und äußere
Verwaltung, für die Geistesströmungen, die Biographie
und das Wirken der Professoren, aber auch für die Haltung
zu Humanismus und Reformation. Diese Themen klingen
natürlich auch in Obermans Buch immer wieder an, sie sind
jedoch von ihm nicht noch einmal im Zusammenhang erörtert
worden. Insofern ersetzt Obermans Buch nicht Hallers
Werk; wohl aber möchte Oberman Hallers Darstellung in
gewisser Weise weiterführen.

Dieser Versuch einer Weiterführung gilt vor allem in
doppelter Weise. Zunächst hat Oberman die Entwicklung
in Tübingen viel stärker als Haller mit der zeitgenössischen
Geschichte in Zusammenhang gesehen. Die Verbindung ergab
sich für ihn dabei meist schon insofern, als Tübinger
Professoren oder ehemalige Studenten bei bestimmten anderen
Ereignissen mitwirkten. So geht Oberman u. a. auf
folgende Fragen recht ausführlich ein: die devotio moderna,
die in innerem Zusammenhang mit der via moderna stehen
soll (57); die „Augustinrenaissance im späten Mittelalter"
(82), wobei hier insbesondere Staupitz herangezogen wird,
aber auch die Auswirkungen bis hin nach Wittenberg geschildert
werden; die mancherlei sozialen Probleme der
Zeit, deren sich die führenden Tübinger Theologen Biel und
Summenhart bewußt gewesen sein sollen (145); die schon
vor der Reformation begegnenden Konflikte zwischen Ka-
nonisten und Theologen (153); die Identifizierung mancher
Pfarrer und Theologen mit den Unterprivilegierten bereits
vor dem Bauernkrieg (154); die mancherlei Beziehungen
zwischen den Fuggern, der Kontroverse über Zins und
Zehnten sowie Tübingen, wobei Oberman auch persönliche
Verbindungen neu nachweisen kann (161 ff. 182 f.) und wobei
die via moderna die Grundlage für eine „oeconomia
moderna" geliefert haben soll (161 f.); den Anspruch von
Theologen, über alles disputieren zu dürfen, als einen Vorläufer
für Luthers 95 Thesen in formaler Hinsicht (189); die
Kontroverse über die Hexenbekämpfung, wobei die Nominalisten
einen vergleichsweise aufgeklärten Standpunkt
vertreten (201 ff.); die Züricher Entwicklung seit 1522, die
hier in den Blick genommen wird, weil die Konstanzer
Delegation bei der sog. Züricher Disputation im Januar 1523
meist aus „Tübingern", d. h. aus ehemaligen Tübingern, bestand
(240 ff.) und hier bestimmte Tübinger Traditionen
maßgebend für die Haltung von Konstanz gewesen sein
sollen; die Rolle Ecks für Mittel- und Fabris für Süddeutschland
, wobei die verschiedenen Tübinger Traditionen hier
fortgewirkt haben sollen (304 ff.); die Versuche, in der Zeit
der württembergischen Reformation der Universität Tübingen
neben den Universitäten Wittenberg und Marburg
einen eigenen Platz innerhalb der Reformation zu verschaffen
(343 f.).

Der für eine Rezension zur Verfügung stehende Raum
gestattet nicht eine Auseinandersetzung mit den einzelnen
Argumentationsgängen Obermans. Es muß hier der Hinweis
genügen, daß Oberman zu all diesen Fragen die Quellen
erneut gründlich studiert und die Sekundärliteratur in
einem staunenswerten Umfang herangezogen hat. Die Verbindungslinien
zu der Entwicklung in Tübingen sind keineswegs
nur oberflächlich über einzelne Gestalten gezogen
worden, die sich zeitweilig in Tübingen aufgehalten haben.
Vielmehr hat Oberman den Versuch unternommen, die in
Tübingen ja nebeneinander vorhandenen Richtungen der
via antiqua und der via moderna in ihrer inneren Zusammengehörigkeit
mit den verschiedenen Problemen und Richtungen
der Zeit zu deuten und dabei die Linien nicht nur
bis 1517, sondern auch darüber hinaus bis in die verschiedenen
Ausprägungen der Reformation zu verfolgen. Insofern
besteht Obermans Leistung in einem Doppelten: einmal
in der Förderung, die er der Erforschung zahlreicher
Einzelphänomene hat angedeihen lassen, welche für Tübingen
von Bedeutung gewesen sind oder welche zumindest
von Tübingen aus in neuem Licht zu sehen sind; zum
anderen in dem Versuch einer Synthese von Spätmittelalter
und Reformation, wie er bisher in dieser Form noch

nicht vorliegt und wie er von Oberman als Lebensaufgabe
in Angriff genommen worden ist.

Die wissenschaftliche Diskussion wird sich dementsprechend
auf diese beiden Problemkreise konzentrieren müssen
. Hier können nur kurz einige Fragen angedeutet werden
. Sind zwischen via moderna und devotio moderna
wirklich innere Verbindungen vorhanden, oder sind diese
nicht nur biographischer Natur bei Einzelnen, welche beiden
Richtungen zugehört haben? Sind zwischen Nominalismus
und frühneuzeitlichen Wirtschaftsformen wirklich ursächliche
Verbindungen da, oder ist es nicht vielmehr so
gewesen, daß die Nominalisten für eine von anderswoher
eingeleitete Entwicklung eine Begründung nachgeliefert
haben? Läßt sich für das Spätmittelalter wirklich von einer
Augustinrenaissance sprechen, die sich mit der Neuentdek-
kung Augustins in Wittenberg seit ca. 1515 vergleichen läßt?
Obermans kühner Versuch ist notwendigerweise an einigen
wichtigen Punkten mit Hypothesen belastet, die von manchen
Forschern nicht geteilt werden.

Auch gegenüber der Gesamtschau bleiben Fragen offen.
Wenn bei nicht wenigen Einzelproblemen wichtige Zusammenhänge
strittig sind, dann hat dies naturgemäß Folgen
für die Synthese. Man muß sogar fragen, ob die Unsicherheit
, die bei der Erforschung des Spätmittelalters an vielen
Punkten noch herrscht, eine solche Gesamtsicht schon gestattet
, wie Oberman sie hier vorgelegt hat. Auf der anderen
Seite kann Oberman nicht das Verdienst bestritten
werden, durch seine im besten Sinne provozierende Synthese
der Forschung neue Aufgaben gestellt und diese zugleich
tatkräftig in Angriff genommen zu haben.

Das eine dürfte sicher sein: es geht in Zukunft nicht mehr
an, zwischen Spätmittelalter und Reformation nur einen
Bruch zu behaupten; vielmehr muß auch die Kontinuität
zwischen beiden Epochen gesehen werden. Oberman hat an
zahlreichen Punkten gezeigt, daß nicht nur Fragestellungen,
sondern auch Antworten, die aus der frühen Reformationsgeschichte
geläufig sind, bereits im ausgehenden Mittelalter
begegnen. Freilich muß hier doch erwogen werden, ob die
Tatsache, daß in den Jahren seit 1517 die theologische Diskussion
unter neuen Leitfragen vonstatten ging, nicht selbst
dort zu Brüchen führte, wo man an spätmittelalterliche Erörterungen
anknüpfte.

Dem gelehrten Autor gebührt aufrichtiger Dank für die
kühne, förderliche und zu neuen Forschungen anregende
Gesamtschau.

Hamburg Bernhard Lohse

1 oberman, H. A.: Spätscholastik und Reformation, Band 1: Der
Herbst der mittelalterlichen Theologie, EVZ-Verlag Zürich 1965; cf.
Bengt Hägglund, ThLZ 92, 1967 Sp. 841-843.

J Haller, .T.: Die Anfänge der Universität Tübingen 1477-1537, 2 Bde.,
Stuttgart 1927-1929, Neudr. Aalen 1960.

3 Stellvertretend für manche anderen sei nur verwiesen auf die
vorzügliche Arbelt von Klelneldam, Erich: Universitas Studii Erffor-
densls. Uberblick über die Geschichte der Universität Erfurt im
Mittelalter 1392-1521, 2 Bde., Leipzig 1964/1969.

Kirchengeschichte: Neuzeit

Tschuy, Theo: Hundert Jahre kubanischer Protestantismus
(1868—1961). Versuch einer kirchengeschichtlichen Deutung
. Frankfurt (Main) - Bern - Las Vegas: Lang [1978].
II, 489 S. 8° = Studien zur interkulturellen Geschichte des
Christentums, 14. Kart. sfr. 78,—.

Die 1977 in Zürich verteidigte Dissertation möchte anhand
des Beispieles Kuba zur wissenschaftlichen Erfassung der
Kirchengeschichte Lateinamerikas aus dem Blickwinkel der
„Dritten Welt" beitragen. Dazu gehöre jetzt, nach dem
Selbständigwerden der ehemaligen Missionskirchen, auch
ein kritischer Rückblick auf die Rolle der „sendenden" Kirchen
und ihrer Missionare in der Zeit der kolonialen Abhängigkeit
, der wirtschaftlichen Unterentwicklung, der kul-