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Ausgabe:

1980

Spalte:

52-54

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Oberman, Heiko Augustinus

Titel/Untertitel:

Werden und Wertung der Reformation 1980

Rezensent:

Lohse, Bernhard

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Theologische Literaturzeitung 105. Jahrgang 1980 Nr. 1

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Hintergrund dieser moralphilosophischen Tradition ergeben
, wobei als besonders wichtig die Beobachtungen zum
Verhältnis des Religiösen zur Sozialethik bei Luther erscheinen
.

Martin Schmidt läßt in der Überschrift zu seinem
Aufsatz über Luthers 95 Thesen bereits erkennen, was er
im Aufsatz vertreten möchte: „Luthers 95 Thesen als kirchliches
Bekenntnis" (35—55). Auf Grund von 10 Merkmalen
systematischen Charakters, die er zur Kennzeichnung eines
Bekenntnisses aufstellt, und nach einer Programmformulierung
für die Konfessionskunde, die sich daraus für ihn
ergibt, entdeckt er diese 10 Merkmale in Luthers Thesen
wieder und rechnet die Thesen damit zu den übersehenen
Stücken, die in den Kanon der Bekenntnisse und Bekenntnisschriften
hineingehören. Er meint, daß die Gegenwart
berufen sei, diese Einreihung zu vollziehen. Dies könne ein
Beitrag zur Durchbrechung der Soziologisierung und Mor-
phologisierung sein, die seit Max Weber die Konfessionskunde
beherrsche und das Miteinander von Bekenntnisstunde
und Bekenntnisinhalt nicht erfassen könne. Es ist
deutlich, daß Martin Schmidt an Luthers Thesen mit einer
Fragestellung herangeht, die systematische, geschichtsphi-
losophische und historische Gesichtspunkte miteinander
verbindet und erst von daher die Thesen interpretiert.

Einem Aspekt des frühen Lutherbildes geht Marc L i e n -
hard nach unter dem Titel „Held oder Ungeheuer? Luthers
Gestalt und Tat im Lichte der zeitgenössischen Flugschriftenliteratur
" (56—79). Er beschränkt sich dabei auf die
Zeit zwischen 1519 und 1524. Als Tendenz stellt er fest, daß
der Reichstag zu Worms „dem Lutherkult einen gewaltigen
Auftrieb gegeben" habe. Ein vergleichsweise wenig erforschtes
Terrain betritt Lienhard, wenn er auf die Flugschriften
aus den Reihen der Altgläubigen zu sprechen
kommt. Eine sachliche Einordnung verschiedener Seiten
des Lutherbildes der Flugschriften ist wegen der Fülle der
Aspekte schwierig. Lienhard wagt trotzdem, einige Grundlinien
zu verfolgen: Luthers Handeln und seine Früchte,
Luthers Autorität und ihre Begründung, Luther und der
Teufel, Luthers Charakter, Luther und seine Anhänger. Was
die Wirkung der Flugschriftenliteratur betrifft, kann Lienhard
feststellen, „daß für viele Flugschriften und eben auch
für viele Zeitgenossen Luthers seine Tat und sein Charakter
genau so wichtig und zum Teil noch wichtiger waren als
seine Lehre". — (S. 69 Anm. 61 muß es heißen: Jodocus
Clichtovius.)

Walther Peter Fuchs nimmt erneut das Thema „Ranke
und Luther" auf (80—101), u. zw. auf einer durch Erschließung
des Ranke-Nachlasses erweiterten Quellenbasis und
in einer strenger genetischen Fragestellung. Dabei kommt
Rankes Religiosität zur Sprache, die einen Weg vom Idealismus
zur Romantik (unter dem Einfluß Jacobis) genommen
hat und unmittelbaren Einfluß auf das Lutherbild seiner
Jugendzeit gewonnen hat, das übrigens aus intensivem
Quellenstudium entstanden ist. Geschichte als Leben ist ihm
Offenbarung Gottes. Luther ist dabei „der Erfüller einer
weltgeschichtlichen Mission ..., mehr Werkzeug als Schöpfer
". Im übrigen wird Rankes Scheu mit zunehmendem
Alter stärker, Gottes Handeln in den konkreten geschichtlichen
Prozessen zu behaupten. Wichtig bleibt, daß er die
theologischen Implikate seiner Geschichtsschau gerade in
der Beschäftigung mit Luther gewonnen hat.

Siegfried B r ä u e r legt den zweiten Teil seines Forschungsberichts
„Müntzerforschung von 1965 bis 1975" vor
(102-139) (vgl. LuJ 44, 1977, 127-141). Zur Sprache kommen
Druck, Gattung und Sprache der Müntzerschriften,
frühe antimüntzerische Schriften, Biographien, die Frage
nach dem theologischen Ansatz Müntzers. Dieser Forschungsbericht
ist deshalb wichtig und fast ein eigener Beitrag
zur Müntzerforschung, weil er immer wieder weiterweisende
Bemerkungen enthält, die sich auf eigene Forschungsarbeit
stützen. — (Nach S. 117 Z. 8 ist eine Zeile ausgefallen
. Sie steht S. 118 Z. 10 und ist entsprechend auszutauschen
.)

Joachim Rogge gibt einen Bericht über den Fünften
Internationalen Kongreß für Lutherforschung 1977 in Lund,
der mit kritischen Akzenten zu Methodik, Verlauf und Stil
versehen ist (140—145).

Die Lutherbibliographie beschließt wie alljährlich den
Band. Durch ihre thematische Ausweitung wird sie mehr
und mehr zu einer Bibliographie der Reformationsforschung
und kann schon deshalb ihrer wachsenden Bedeutung
sicher sein. — (Ein Druckfehler: Nr. 399: Augustijn.)

Leipzig Ernst Koch

Oberman, Heiko Augustinus: Werden und Wertung der Reformation
. Vom Wegestreit zum Glaubenskampf. Tübingen
: Mohr 1977. XX, 500 S., 9 Taf. gr. 8» (2. durchges.
Aufl. 1979) = Spätscholastik und Reformation, 2. Lw. DM
68,-.

Mit diesem Werk hat Oberman den zweiten Teil seines
auf drei Bände berechneten Werkes „Spätscholastik und
Reformation"1 vorgelegt. Zugleich soll dieser zweite Teil
anläßlich des 500jährigen Jubiläums der Universität Tübingen
einen Beitrag zur frühen Geschichte dieser Universität
von 1477 bis etwa 1517 geben. Dieses Jubiläum hat
nicht nur einen Wechsel des Verlages, sondern auch eine
gewisse Verschiebung der ursprünglichen Zielsetzung zur
Folge gehabt: hieß es seinerzeit, Band 2 solle „Luther und
die Theologie des Spätmittelalters" behandeln, so möchte
Oberman jetzt am Beispiel Tübingens die Kontinuität von
Spätmittelalter und Reformation aufzeigen.

Der Band gliedert sich in vier Teile. In Teil I schildert der
Vf. die „Initia Universitatis" (4-140), in Teil II „Die erste
Tübinger Schule" (143-233) sowie in Teil III „Reform und
Reformation" (237-378). In Teil IV (381-500) werden
manche Texte, z. T. zum ersten Mal, abgedruckt, darunter
vor allem Summenharts Traktat über den Zehnten; ferner
finden sich u. a. Statistiken der frühen Studentenzahlen,
eine Zeittafel, ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis
sowie verschiedene Register und der Tafelanhang
mit wichtigen Wiedergaben zur frühen Tübinger
Universitätsgeschichte.

Die Änderung der ursprünglich vorgesehenen Thematik
ist insofern sachlich gerechtfertigt, als der Vf. in Band 1
vorwiegend die Theologie Gabriel Biels geschildert hatte,
der ja der bedeutendste Theologe in Tübingen vor der Reformation
gewesen ist und dessen Theologie auch für den
jungen Luther während seines Erfurter Studiums von Einfluß
gewesen war. In Band 2 hat Oberman darum weithin
auf eine Schilderung von Biel verzichtet, obwohl dieser im
Rahmen einer frühen Tübinger Universitätsgeschichte an
sich nicht hätte fehlen dürfen; um so ausführlicher ist
Oberman auf die anderen Tübinger Theologen und die verschiedenen
, auch in Tübingen vorhandenen Geistesrichtungen
eingegangen.

Die Tatsache, daß es bedeutende Darstellungen der Tübinger
Universitätsgeschichte schon gibt, nämlich vor allem
aus der Feder von Johannes Haller2, daß aber auch sonst
in den letzten Jahren manche wichtigen Schilderungen
.spätmittelalterlicher Universitäten erschienen sind', lädt zu
einem Vergleich mit Obermans Werk ein, um dessen Platz
in der Forschung näher zu bestimmen. Oberman war ursprünglich
gebeten worden, erneut die ersten fünf Dezennien
der Tübinger Universität zu schildern (4). Er hat sich
aber dann von der Frage leiten lassen: „Was kann die Darstellung
der Gründungs- und Reformphasen einer einzelnen
Universität wie Tübingen über die additive Chronik
von Lokalereignissen hinaus leisten, um ein Stück historischer
Wirklichkeit zwischen Mittelalter und Reformation
zu erschließen und zugänglich zu machen?" (5). Von daher
hat Oberman ein völlig anderes Buch als seinerzeit Haller
geschrieben. Hallers Werk — es wäre ungerecht, in ihm nur
eine Chronik zu sehen — bleibt nach wie vor für die Tübinger
Universitätsgeschichte weithin maßgebend, nämlich