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Ausgabe:

1980

Spalte:

50-52

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Titel/Untertitel:

Lutherjahrbuch 1978 1980

Rezensent:

Koch, Ernst

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Theologische Literaturzeitung 105. Jahrgang 1980 Nr. 1

50

des späteren 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts", 225 bis
293). „Erst die Vertiefung und zugleich Verschärfung der
Frage durch die Reformation macht die ganze Tragweite
des Gegensatzes offenbar, der nun in den Horizont der interkonfessionellen
Auseinandersetzung rückt" (XIV, vgl.
„Schluß: Rückschau", 294-300).

Es ist schwer, aus der Fülle des äußerst sorgfältig verarbeiteten
Materials (wobei Vf. wiederholt auf aufzuarbeitende
Lücken aufmerksam macht) Einzelheiten hervorzuheben
.

1) Es ist beeindruckend, dargestellt zu bekommen, wie
das ganze Mittelalter in und von der Bibel lebt und wie
häufig die Hl. Schrift die genügsame Quelle und Norm der
kirchlichen Lehre genannt wird (bes. 46: „Demnach stellt
die Hl. Schrift nach der scholastischen Prinzipienlehre nicht
nur die wichtigste, sondern auch die einzige Quelle des heilbringenden
Glaubens und damit die Grundlage der Glaubenswissenschaft
dar"). Damit werden aber die außerbiblischen
Traditionen nicht prinzipiell ausgeschlossen.

2) Es ist auffallend — und das gilt bekanntlich nicht nur
für dieses Thema —, wie einige Äußerungen von Kirchenvätern
viele Theologengenerationen immer neu beschäftigt
hatten. In unserem Zusammenhang gilt das besonders für
Augustins Bekenntnis: „Evangelio non crederem, nisi me
commoveret ecclesia", das freilich öfters falsch — und damit
tendenziös — zitiert wurde: ...... nisi crederem eccle-

siae" (vgl. 268). Richtig muß freilich das Zitat lauten: „Ego
vero evangelio non crederem, nisi me catholicae ecclesiae
commoveret auctoritas." Das gilt in gleicher Weise auch für
Passagen des Decretum Gratiani, besonders wo es um die
Möglichkeit geht, ob ein Papst vom Glauben abweichen und
zum Häretiker werden kann (vgl. 19—21, Decr. Grat. c. 6 [Si
papa] D. 40 bzw. c. 6 [Sunt quidam], C. 25, q. 1 u. a.).

3) Für manchen mag es überraschend sein zu erfahren,
daß ausgerechnet der Konziliarismus die Autoritätenfrage
stärker zum Primat der Kirche hin zu entscheiden versucht
hat. Von dieser Sicht aus ist er alles andere als „vorrefor-
matorisch" gewesen (zu d'Ailly: 136; 160: Es „erweist sich
der Konziliarismus als dem Gedanken des Schriftprimats
abträglich", während bei den Papalisten z. Z. des Basler
Konzils eine ..Auffassung von der Schriftautorität" zu finden
ist, „die dem normativen Vorrang der Schrift gerechter
wird als die Äußerungen maßgeblicher Vertreter des Konziliarismus
", 161). Vf. möchte in diesem Zusammenhang die
Bedeutung des Marsilius von Padua und Wilhelms von Ock-
ham für die Entstehung der konziliaren Theorie geringer
als oft behauptet veranschlagen (162). Den kirchlichen
Fideismus des Spaniers Alfonsus Tostatus nennt Vf. den
„extremen Gegenpol des absoluten Schriftprimats" (150).

4) Leider spart Vf. die spiritualistischen bzw. häretischen
Bewegungen des Mittelalters in seiner Untersuchung fast
völlig aus. Aber Vf. beruft sich einmal auf die jüngste
Wyclif-Forschung. die gezeigt habe, daß Wyclif „sich nicht
auf ein absolutes Schriftprinzip beruft, sondern immer wieder
grundsätzlich zur Bibel noch Tradition, katholisches
Verständnis und selbst die Kirche hinzunimmt" (151, Zitat
aus J. Beumer. a.a.O.. S. 69).

5) Vf. hat im Grunde wesentlich mehr gegeben, als der
Titel seiner Untersuchung verspricht. Es geht ihm um die
Frage der Lehrautorität im Mittelalter überhaupt, um die
Zuordnung von Schrift und Kirche. Wie Vf. die verschiedenen
„rechtgläubigen" Richtungen vielschichtig darstellt, erweckt
Bewunderung. Es wird deutlich, wie am Vorabend
der Reformation tatsächlich die Frage nach der Lehrautorität
noch offen ist. Erst das Tridentinum hat dann für die
römische Kirche die Lehrentscheidung gefällt. Daß sie so
ausgefallen ist. war vor Luthers Auftreten nicht vorauszusehen
. Obwohl Vf. das in seiner vorsichtig-abwägenden Art
nicht so deutlich niedergeschrieben hat, wird an seiner Untersuchung
erkenntlich, daß die tridentinische Lehrentscheidung
der Vielschichtigkeit der mittelalterlichen Lehrentwicklung
nicht gerecht wird. Im Mittelalter, zumindest bis
zum Hochmittelalter, hat kein Scholastiker prinzipiell etwas

gegen die Formel „Sola scriptura" einzuwenden gehabt
(46). So war Luthers „Schriftprinzip" auch für die Kirche
am Vorabend der Reformation eine durchaus mögliche
Lehre. Das Tridentinum hat sich in Abwehr der Reformation
für den einen extremen Pol entschieden. Dabei stellt
Vf. fest: „Eine erschöpfende Untersuchung der Vorgeschichte
des tridentinischen ,pari pietatis affectu' steht noch
aus" (273, Anm. 45).

Der durchweg ausgezeichnete Eindruck, den das Buch hinterläßt
, wird nur etwas durch Fehler im Register und in den
Anmerkungen (wo ist z.B. Anm. 31a auf S. 16?) getrübt.

Schlettau Karl-Hermann Kandier

Del Zotto, Cornelio, OFM: Franz von Assisi, lebendiger Garant
der Heiligen Schrift und des ganzen Wortes, des
geoffenbarten wie des verkündigten, in der geistigen
Synthese des heiligen Bonaventura (FS 60, 1978 S. 361 bis
373).

Eßer, Kajetan, OFM: „Evangelii Jesu Christi mysterium im-
plere." Gottes Wort im Leben des heiligen Franziskus
von Assisi (FS 60, 1978 S. 347-360).

Flood, David, OFM: The Domestication of the Franciscan
Movement (FS 60, 1978 S. 311-327).

Frank, Isnard W.: Dominikaner und mittelalterliche Inquisition
I u. II (WuA 19, 1978 S. 79-86, 97-103).

Macken, Raymond, OFM: Ein wichtiges Ineditum zum
Kampf über das Beichtprivileg der Bettelorden: der
„Tractatus super facto praelatorum et fratrum" des Heinrich
von Gent (FS 60, 1978 S. 301-310).

Steer, Georg: Der Armutsgedanke der deutschen Mystiker
bei Marquard von Lindau (FS 60, 1978 S. 289-300).

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Lutherjahrbuch 1978. Organ der internationalen Lutherforschung
. Im Auftrag der Luther-Gesellschaft hrsg. von
H. Junghans. 45. Jahrgang 1978. Göttingen: Vanden-
hoeck & Ruprecht [1978]. 204 S. 8». Kart. DM 30,-.

Zwei Nachrufe eröffnen den Jahrgang: Martin Schmidt
beschreibt Leben und Werk Heinrich Bornkamms, der am
21. Januar 1977 verstorben ist; Tibor Fabiny gibt eine Skizze
des Wirkens des Weihnachten 1976 verstorbenen Jenö S6-
lyom, der für die Lutherforschung in Ungarn von großer
Bedeutung gewesen ist und bis zu seinem Tode an der
Lutherbibliographie mitgearbeitet hat.

In einem Aufsatz über „Luthers Lehre von den drei Ständen
und die drei Dimensionen der Ethik" (15—34) geht
Reinhard Schwarz auf Sinn, Dimensionen und Herkunft
von Luthers Ständelehre ein und kommt — in Ergänzung
zu Wilhelm Maurer, der in ihr einen Widerhall der
katechetischen Tradition des Mittelalters fand — zu dem
Ergebnis, daß Luthers Lehre von den drei Ständen eine
Entsprechung zu der Aufgliederung darstellt, die die mittelalterliche
Moralphilosophie unter dem Einfluß der Aristotelesrezeption
gefunden hatte. Der Ethik im engeren Sinne,
der Ökonomik und der Politik des Mittelalters entsprechen
ecclesia, oeconomia und politia bei Luther. Interessant ist,
daß Schwarz an der Wende vom 15. zum 16. Jh. eine große
Zahl von Druckwerken zur Ethik im engeren Sinne, eine
weitaus geringere Zahl zur politischen und eine sehr geringe
Zahl zur Ökonomik feststellt. Als Beispiel für das Verhältnis
der Behandlung dieser drei Felder der Moralphilosophie
bei einzelnen Autoren geht er auf Johannes Versor. Gregor
Reisch und Jacobus Faber Stapulensis ein. Der Aufsatz
schließt mit Andeutungen und Vermutungen, die sich für
die Behandlung von Luthers Drei-Stände-Lehre vor dem