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Ausgabe:

1980

Spalte:

709-710

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Quervain, Paul Fredi de

Titel/Untertitel:

Psychoanalyse und dialektische Theologie 1980

Rezensent:

Tacke, Helmut

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Seite 1

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709

Theologische Literaturzeitung 105. Jahrgang 1980 Nr. 9

710

Praktische Theologie:
Seelsorge/Psychologie

Quervain, Paul Fredi de: Psychoanalyse und dialektische
Theologie. Zum Freud-Verständnis bei K. Barth, E. Thurney-
sen und P. Ricoeur. Bern-Stuttgart-Wien: Huber [1978].
94 S. 8° = Jahrbuch der Psychoanalyse, Beiheft 3. Kart. sfr.
19,-.

Im Vorwort wird nach der Möglichkeit einer „Affinität" zwischen
Psychoanalyse und dialektischer Theologie gefragt. Dies
Interesse ist das Leitmotiv der vorliegenden Untersuchung und
verdient volle Beachtung. Das Zusammenspiel von Theorie
und Praxis, die sich wandelnde therapeutische Methode Freuds
und seine Offenheit gegenüber neuen Erkenntnissen und deren
Konsequenzen finden eine lebendige Darstellung. In ähnlicher
Konzentration auf das Wesentliche wird anschließend die
Theologie des jungen Barth vorgestellt. Barths Allergie gegen
die „religionspsychologischen Ausdrücke" kommt ebenso zur
Sprache wie seine Weigerung, den christlichen Glauben als ein
psychologisches Phänomen aufzufassen. Ist vielleicht das Verbindende
zwischen Freud und Barth in der Schärfe ihrer
Religionskritik zu sehen? Aber diese Frage liegt offenbar
nicht im Interesse der vorliegenden Arbeit.

Die von Scharfenberg aufgestellte Behauptung von der
prinzipiellen Feindschaft Barths gegenüber der Psychologie
wird abgewiesen als nicht zutreffend. Gerade das auffällige
Schweigen Barths gegenüber Psychologie und Psychoanalyse
möchte de Quervain als ein Zeichen werten, das jedenfalls
nicht auf Ablehnung verweist. Der Zwang zu einseitiger Konzentration
auf die Theologie bei der Entstehung des Römerbriefkommentars
und anderer wegweisender Beiträge mache
es verständlich, daß Barth „sich die Freiheit nimmt, sich nicht
mit der Psychologie auseinanderzusetzen." (28) Etwas enttäuschend
gerät die Befragung des Barthschen Glaubensverständnisses
. Hier müßte sich doch die zu Anfang vermutete
Affinität zwischen Theologie und Psychologie zu erkennen
geben. Der gewichtige und für die dialektische Theologie
typische Satz: Wir „sind durch den Glauben, was wir nicht
sind", wird unter dem bekannten Gesichtspunkt der „Ge-
schichtslosigkeit" der Theologie Barths gewertet und abgewertet
. Er müßte aber als geradezu klassische Provokation jedes
immanentistischen Glaubensverständnisses gewürdigt werden.

Hat Barth nach Meinung de Quervains die Psychologie zwar
nicht abgewiesen, aber doch ausgeklammert, so hat Thurney-
sen eine andere Position eingenommen. Dem Verhältnis von
Seelsorge und Psychoanalyse gilt sein ständiges unmittelbares
Interesse. Sachkundig wird dargestellt, wie bei Thurneysen
antithetische und konstruktivere Konzeptionen miteinander
wechseln. Völlig zutreffend wird gesagt: „Im Grunde ist ihm
aber die Psychoanalyse unheimlich." (38) Thurneysen sieht die
Freudsche Psychoanalyse vornehmlich als „naturwissenschaftliche
Triebmechanik". (41) Andererseits vermischt Thurneysen
theologische und psychologische Deutungskategorien. Die verbreitete
Auffassung, daß Thurneysen sich in erster Linie darum
bemüht habe, seelsorgerliche und psychologische Aspekte voneinander
abzugrenzen, wird korrigiert. Nach Meinung des Vf.
hat Thurneysen im Gegenteil immer wieder beide Bereiche
kurzschlüssig aufeinander bezogen, wodurch Verwirrung und
Mißverständnisse entstanden sind. „Die Problematik neurotischer
Konflikte wird für ihn zu einer Frage der Metaphysik,
des Glaubens und der Rechtfertigung." (43) In Abgrenzung
dazu sagt de Quervain: „Der Traum einer Synthese von Theologie
und Psychoanalyse mag verführerisch sein. Er ist aber
nicht nur von theologischer Seite her anfechtbar. Auch aus
psychoanalytischer Sicht ist das Bedürfnis nach einer Synthese
um jeden Preis fragwürdig." (44) Diese klare Auskunft verdient
in einem Zeitalter vermischungsfreudiger Religiosität
große Beachtung. Es wird nicht verschwiegen, daß eine totale
Beziehungslosigkeit beider Bereiche auch nicht die Lösung des

Problems darstellt. Sondern was angestrebt wird, ist eine
„wechselseitige Auseinandersetzung", ein Korrelationsverhältnis
, das weder die Diastase noch die Synthese zuläßt.

Zur Verwirklichung dieser Konzeption bieten sich inzwischen
gute Voraussetzungen an. Das sich mit Freud beschäftigende
Werk von P. Ricoeur eröffnet neue Zugänge, vor allem
durch die Erkenntnis, daß die Psychoanalyse „mehr als eine
therapeutische Methode" ist. (61) Die früher als Illusion bezeichneten
„religiösen Werte" werden längst positiver beurteilt
, wozu die Anregungen von Winnicott und Balint beigetragen
haben. (70) Das ergibt nach Überzeugung des Vf.
reale Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen Theologie
und Psychoanalyse. Dies ist wohl eher eine Vision als eine
jetzt schon praktikable Konzeption.

Es bleibt die Frage nach der von Barth so streng durch-
gehaltenen Differenz zwischen Religion und Glauben. Seine
Rcligionskritik scheint in der vorliegenden Arbeit nicht viel
mehr als ein theologiegeschichtliches Intermezzo zu sein. Aber
mangelnde Sehschärfe bei dieser Unterscheidung wird die
Theologie daran hindern, den „eigenen Weg" (85) zu finden.

London Helmut Tacke

Böschemeyer, Uwe: Die Sinnfrage in Psychotherapie und Theologie
. Die Existenzanalyse und Logotherapie Viktor E.
Frankls aus theologischer Sicht. Berlin—New York: de Gruy-
ter 1977. X, 164 S. 8° = Theologische Bibliothek Töpelmann,
32. Lw. DM 48,-.

Der Vf. hat sich die Aufgabe gestellt, als erster eine Untersuchung
der Sinnproblematik in Frankls Anthropologie und
Therapie vom Standpunkt der evangelischen Theologie her zu
bieten. Vor allem befaßt er sich mit den philosophischen
Grundlagen der Existenzanalyse (Frankl verwendete diesen
Begriff schon 1938). Er schildert Frankls Weg vom Schüler
S. Freuds und A. Adlers über die Einflüsse der Person- und
Wertlehre M. Schelers bis zu seiner Eigenständigkeit innerhalb
der sog. personalistischen Psychotherapie (neben V. E. von
Gebsattel und L. Binswanger). Sowohl bei Freud und Adler
wie auch bei Jung kritisiert Frankl den Psychologismus und
Reduktionismus, der kausalgenetisch das Wesen des Menschen
zu erklären versuche, statt auf seine geistige Intentionalität
und Personalität abzuheben. Der Vf. fragt — bei aller Zustimmung
zu Frankl —, ob diese etwas einseitige Kritik heute
noch haltbar sei und meint dann: „Frankls Kritik bleibt in
Geltung, wenn sie verstanden wird als eine generelle
Warnung vor einem Menschenbild, das den Menschen aus sich
selbst verstehen will und so dem Sinnlosigkeitsgefühl unserer
Zeit Vorschub leisten kann." (44)

Die Existenz des Menschen, die vom Geistigen bzw. Noeti-
schen bestimmt und auf Freiheit, Entscheidung und Verantwortlichkeit
angelegt ist, stellt den Ausgangs- und Zielpunkt
der Analyse und Therapie Frankls dar. Dabei kann das Geistige
durchaus auch unbewußt sein; „die geistige Tiefenperson
", nicht der Trieb oder das Es ist der Herr des Menschen
(vgl. 64). Vererbung und Umwelt werden demgegenüber als
Bedingungsfaktoren für das menschliche Wesen abgewertet:
„letztlich entscheidet der Mensch über sich selbst" (Frankl, zit.
67). Der Wille zum Sinn motiviert den Menschen im wesentlichen
, nicht der Wille zur Lust (Freud) oder der Wille zur
Macht (Adler). Das eigentliche Sinn-Organ ist das Gewissen;
es wird in der Existenzanalyse nicht als eine Über-Ich-Instanz
wie bei Freud verstanden, sondern als eine „Art Schlüsselstelle
, an der sich uns die wesentliche Transzendenz des geistig
Unbewußten erschließt" (Frankl, zit. 92). Nach Frank'
bezieht sich das Gewissen letztlich auf das Du Gottes, auch
wenn der einzelne davon nichts weiß. Aber, so schreibt der
Vf.: „Das Sein Gottes ist Voraussetzung, nicht aber Thema der
Existenzanalyse und Logotherapie." (99) Bei der Beziehung der
Sinnfrage auf die „Hierarchie der Werte" nimmt das Problem
des Leidens eine besondere Position ein, und das hängt wohl