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Ausgabe:

1980

Spalte:

701-702

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Smet, Walter

Titel/Untertitel:

Ich schaffe mir ein neues Volk 1980

Rezensent:

Eichenberg, Friedrich Carl

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Seite 1

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701

Theologische Literaturzeitung 105. Jahrgang 1980 Nr. 9

702

Stnet, Walter: Ich schaffe mir ein neues Volk. Zeugnisse charismatischen
Gemeinschaftslebens. Übers, v. A. Baum. Regensburg
: Pustet [1979]. 192 S. 8° = Neue Wege. Kart. DM 16,80.

Nicht Symptome, sondern die Sache selbst versucht der Vf.
zu schildern. Weil er einzelne charismatische Gemeinschaften
nicht nur besucht, sondern mit ihnen eine Zeitlang zusammengelebt
hat, stellt sein Buch etwas ganz anderes dar als mannigfaltige
theoretische Untersuchungen zum gleichen Thema,
die im Verstandesmäßigen begrenzt bleiben. Eine Begrenzung
gibt es zwar bei dem von Smet Geschilderten auch, weil er
vorwiegend katholische Gemeinschaften und diese im amerikanischen
Raum besucht hat. Als Anregung dafür nennt er
die Feststellung, daß in neuerer Zeit einesteils das traditionelle
Ordensleben zurückgeht, andererseits aber unter Laien die
Gemeinschaftsdimension wiederentdeckt wird. So hat er eine
Schulgemeinschaft, eine Pfarrgemeinde, eine medizinische Gemeinschaft
und eine Universitätsgemeinschaft besucht und mit
ihnen einige Zeit zusammengelebt.

All diesen Lebens- und Dienstgemeinschaften gemeinsam ist
ihr Ursprung aus Einzelnen oder Familien, die bewußte Nachfolge
begonnen haben, weil sie sich von Gott persönlich angesprochen
und berufen wußten und sich ihm zur Verfügung gestellt
haben. Außerdem stammen alle diese Zusammenschlüsse
zu gemeinsamem Leben und Wirken aus den letzten 15 Jahren.

Angehörige einer charismatischen Gebetsgruppe verließen
ihre luxuriösen Häuser und gesicherten Positionen und widmeten
sich der praktisch langsam eingehenden katholischen St.
Patrickspfarrei in Providence, der Hauptstadt von Rhode Island
, an der Ostküste der Vereinigten Staaten. Sie eröffneten
eine aus finanziellen Gründen geschlossene konfessionelle
Schule von neuem und diese Schule wird das Glaubens- und
Lebenszentrum der Gemeinde. Immer neue Familien ziehen in
das an sich absterbende Stadtviertel und stellen ihre Mitarbeit,
meist unentgeltlich, zur Verfügung. Zu der Schule werden nur
Kinder zugelassen, deren Eltern bereit sind, ein siebenwöchiges
Einführungsseminar in das Leben im Heiligen Geist mitzumachen
. Die charismatische Gebetsgruppe öffnet sich und
wächst auf 700 Personen, die sich wöchentlich zur Gebetsstunde
versammeln. Als die Kirche wegen Baufälligkeit geschlossen
werden muß, erweist sich das erneuerte Schulgebäude
als das Zentrum der Gemeinde. Die Schule geht davon
aus, daß das Verhältnis zu Gott im gesamten täglichen Erfahrungsbereich
des Kindes verwurzelt sein muß und daß Sakramente
, Eucharistie, Gebet und Heilige Schrift an die Erfahrungswelt
des Kindes anknüpfen. So geht es praktisch um die
Erziehung der ganzen Familie. Auf diese Weise entsteht, nicht
durch findige Organisation und auch nicht durch begeisternde
und zweckbestimmte Aktivitäten, sondern durch ein Leben im
Heiligen Geist innerhalb von 4 Jahren eine neue Gemeinde,
die auch auf andere ausstrahlt.

An Hand dieses und der drei anderen, ähnlichen Beispiele
untersucht der Vf. „Sez'ns-Gruppen" (gegenüber bloßen Arbeitsgruppen
), ihre Entstehung in der Entscheidung und im Engagement
des Einzelnen, ihre Entfaltung unter Gleichgesinnten;
dann aber auch den Weg dieser Gemeinschaften zu den und
für die ganz anderen. Dabei kann dann ein so profilierter Satz
für das Gemeindeleben fallen wie: „Ohne die innere Umkehr
des Menschen sind soziale Reformen nutzlos." An die Betrachtungen
über Kontemplation und Askese dieser Gruppen schließt
der Vf. eine Beurteilung seiner Erlebnisse an, in denen auch
Menschliches—Allzumenschliches erwähnt wird. Nach dem Verhältnis
der „kleinen Kirche" zur „großen Kirche" wird gefragt
, ebenso, ob diese Experimente überall möglich sind.

Gerade bei diesem Abschnitt werden Vergleiche und Unterschiede
zu Kirchen anderer Konfessionen und Länder in den
Blick kommen. Man wird an besondere Gegebenheiten und
Verhältnisse denken, die nicht ohne weiteres überall übertragbar
sind. Aber man wird auch immer wieder auf besondere
Glaubens-Erlebnisse und -Erfahrungen hingewiesen, an die
der Vf. für Einzelne, ganze Gemeinden und die gesamte Kirche
Hoffnungen knüpft, weil Gottes Wahrheit sr> auch für den modernen
Menschen sichtbar und spürbar erfahren werden kann.

Insofern ist es ein im wahrsten Sinne lebendiges Buch vom Erleben
her und auf das Leben, auch im Raum der evangelischen
Kirche und in unseren Gegebenheiten, hin.

Stendal Friedrich Carl Eithenberg

Systematische Theologie: Allgemeines

Oettingen, Alexander von: Kirchliche Gemeinwesenarbeit —
Konflikt und gesellschaftliche Strukturbildung. Eine empirische
Untersuchung im Kontext der Ekklesiologie Dietrich
Bonhoeffers. Frankfurt/M. — Bern — Las Vegas: Lang [1979].
298 S. 8° = Europäische Hochschulschriften, Reihe XXII Theologie
, 111. Kart. sfr. 48.-.

Diese Münchener Dissertation verfolgt zwei Absichten: Es
sollen die in kirchlicher Gemeinwesenarbeit (GWA) vorfind-
lichen Aktivitäten und ihre Probleme beschrieben werden, und
es soll die dabei sich stellende Frage: Was heißt kirchlich? behandelt
werden. So wurden zunächst an Hand eines Fragerasters
Interviews mit GW-Arbeitern in begrenzter Zahl durchgeführt
, um exemplarisch Praxis und Probleme dieses Tätigkeitsbereichs
in den Blick zu bekommen. In Auswertung von 21 Fällen
hat Vf. (in Teil III seiner Schrift) eine Darstellung und
Charakterisierung dieser GWA zu geben versucht, u. zw. unter
folgenden Gesichtspunkten: Gesellschaftlicher Kontext (Stadtsanierung
, Obdachlosengebiete u. ä.), Organisation (Mitarbeit
von Pfarrern, GW-Arbeiter im Verhältnis zur Gemeinde, übergemeindliche
Träger, kirchenreformerische Mitarbeit...), Aktivitäten
(z. B. Bürgerinitiativen), Konzeptionen der Mitarbeiter
und ihr Orientierungshorizont.

Aber „ein anderes Thema schob sich während der Beschäftigung
mit den konzeptionellen Fragen in den Vordergrund",
und Vf. entschied sich für dessen weitere Ausarbeitung, nämlich
die Frage: „mit welchem Kirchenbegriff haben wir es zu
tun, wenn von kirchlicher GWA ... die Rede ist" (11). So kam
es zu dem grundlegenden Teil I, der den Titel trägt: „Zur
Transformierbarkeit des theologischen in einen soziologischen
Kirchenbegriff" (15—114). Die bei Karl Barth vermißte Aufgabe
der Umwandlung dogmatischer ekklesiologischer Aussagen
in kultur- und sozialgeschichtliche findet Vf. bei Dietrich
Bonhoeffer angefaßt, insofern er die geschichtliche Vermittlung
theologischer Entwürfe bewufjt reflektierte. Deshalb wird
als Leitfaden der Untersuchung eine Bonhoeffer-Interpretation
bzw. eine Auseinandersetzung mit der diesbezüglichen lebhaften
Diskussion vorgenommen. Bei Bonhoeffer ist bemerkenswert
, „daß es in der Kirche um die in Christus schon geschehene
neue Wirklichkeit geht, die empirisch gilt und auf die
hin der Glaube die ganze empirische Welt erkennt" (65), so
daß von der Theologie als einer „Wirklichkeitswissenschaft"
geredet werden kann, die sich nicht durch ihre Methode, sondern
„nur" durch „Gehorsam des Denkens" von profaner Wissenschaft
, also speziell der Soziologie, unterscheidet. Wie sich
dem Vf. diese Aufgabe näher darstellt, fafjt er als Fazit seiner
Bonhoeffer-Analyse bzw. seines Verständnisses von Geschichte,
Theologie und theologischer Soziologie in 11 Punkten (88—90)
zusammen. Ich hebe als in unserem Zusammenhang wichtig
hervor, daß Geschichte hier nicht mehr als „Vermittlungszusammenhang
des Absoluten" gedacht werden kann, sondern
von der „jeweils endlichen Gegenwart her", daß an Stelle der
Philosophie die Soziologie zum „fundierenden Zusammenhang
der Vernunft-, Wahrheits- und Wirklichkeitserkenntnis" wird
und daß Theologie darauf verweist, „daß die Wirklichkeit der
Personen und ihrer Gemeinschaft von Gott her gesetzt ist, abzulesen
am stellvertretenden Geschick Christi...". „Soziologisch
heißt das, daß ungebrochenes Gemeinschaft- und Person-
Sein das konkrete Ziel der Menschen ist, sie dessen auch im
Glauben bereits hier und jetzt teilhaftig werden", wenn es
auch zugleich ihrer Verfügbarkeit entzogen ist.