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Ausgabe:

1980

Spalte:

48-50

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Schüssler, Hermann

Titel/Untertitel:

Der Primat der Heiligen Schrift als theologisches und kanonistisches Problem im Spaetmittelalter 1980

Rezensent:

Kandler, Karl-Hermann

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47

Theologische Literaturzeitung 105. Jahrgang 1980 Nr. 1

48

Kirchengeschichte: Mittelalter

Lexikon des Mittelalters. I. Bd. 1. Lfg.: Aachen — Ägypten.
München - Zürich: Artemis Verlag [1977J. 224 Sp. 4U.

Als Herausgeber des neuen Lexikons werden 78 Gelehrte
aus 13 Ländern genannt. Das Lexikon wendet sich sowohl
an den Fachmann wie auch an allgemein interessierte Leser
. Der Zeitraum von 300-1500 soll erfaßt werden. Außer
dem Abendland sollen auch der byzantinische Osten, der
Islam und die jüdische Geisteswelt berücksichtigt werden.
Gleich der erste Artikel „Aachen" bietet eine Probe: Er
setzt ein mit der alten Siedlung aus der Römerzeit und
reicht bis zum Jahre 1519. Die Bedeutung Aachens als Krönungsort
mittelalterlicher Herrscher kommt ausführlich
zur Sprache; aber auch die bürgerliche und kirchliche Ordnung
sowie geographische und wirtschaftliche Gegebenheiten
werden deutlich. Der längste Artikel gilt dem Stichwort
„Adel", der für mehrere Länder erörtert wird (Sp. 118-141).
Andere Komplexe sind mehr in einzelne Stichworte (oft
nur Hinweisworte) untergliedert, z. B.: Abt - Abtei — Abteistadt
— Äbtissin — Äbtissinnenweihe — Abtshaus (-ka-
pelle, -palast) - Abtslisten - Abtsstab - Abtsweihe - Abtthron
. Trotzdem machen diese Artikel zum Komplex „Abt"
nur 7 Spalten aus (60-67), also knapp ein Drittel des Artikels
„Adel". Obwohl das Interesse an Kirche und Theologie
und Kirche keineswegs im Zentrum steht, kann der
Kirchenhistoriker viel aus diesem Lexikon entnehmen. Bei
theologischen Artikeln gibt es ein gewisses Ubergewicht
katholischer Autoren, das von der Sache her naheliegt. Unter
der Uberschrift „Abendländisches Schisma" schreibt
H. Tüchle über das Papstschisma von 1378—1417. Im Artikel
„Abendmahl, Abendmahlsstreit" bietet L. Hödl einen fundierten
historischen Uberblick. Derselbe Verfasser erörtert
im Artikel „Ablaß" die verbreiteten Mißstände im späten
Mittelalter; aber am Schluß wird weder Luther noch die
Reformation genannt. Der Schlußsatz lautet bei Hödl: „Diese
Mißstände entstellen, aber entwerten nicht das Ablaßinsti-
tut, das ein gültiges Zeugnis des werktätigen Glaubens und
der Jenseitserwartung der mittelalterlichen Christenheit
ist" (Sp. 46).

Beachtlich ist die Fülle der genannten Stichworte, der
Personen, Orte und Sachkomplexe. Nur wenige Beispiele
seien genannt: Unter dem Namen „Adalbert" werden 16
Personen vorgeführt, denen sich zwei weitere Träger des
Namens Adalbertus anschließen. Unter dem Stichwort
„Adam" findet man zunächst 15 Träger dieses Namens im
Mittelalter; daran schließt sich ein Grundsatzartikel mit
den Teilen 1) Adam in der christlichen Theologie, 2) Adam
im jüdischen Schrifttum des Mittelalters, 3) Adam in der
deutschen Literatur des Mittelalters (die auch die biblia
pauperum einschließt, Sp. 114). Fast zu ausführlich wird
auf italienische Familien eingegangen: Die Bankierfamilie
Acciaiuoli erhält 4 Artikel, die Humanistenfamilie Accolti
3 Artikel. Aber auch dänische Orte wie Aalborg und Aar-
hus, deren Bedeutung für das Mittelalter durch neuere Grabungen
plastischer wurde, werden mit Artikeln bedacht.
Viele Artikel werden an mehrere Bearbeiter verteilt. So ist
z. B. der Artikel „Abälard" an 3 Bearbeiter verteilt: 1) Leben
und Lehre, 2) Musik, 3) Dichtungen. Der Artikel
„Abodriten" wurde geteilt in 1) Archäologie, 2) Geschichte.
Andererseits bleiben auch Fragen: Die Artikel „Aequitas"
und „Aequitas canonica" sind überwiegend juristisch ausgerichtet
. Allgemein wird gesagt, daß Kirchenväter diesen
Begriff verwendet haben, aber die ganz zentrale Bedeutung
dieses Wortes für Augustin wird nicht erwähnt. Im Artikel
„Afrika" werden die dortigen Kirchenväter Tertullian,
Cyprian, Augustin einmal zusammen in einer Klammer erwähnt
(Sp. 197). Ein Hinweiszeichen auf einen Artikel
„Augustin" fehlt. Sollte er gar nicht vorgesehen sein? Oder
ist er unwichtig für das Mittelalter?

Geplant sind 5 Bände zu je 1128 Seiten, die in je 10 Lieferungen
erscheinen sollen. Diese insgesamt 50 Lieferungen
sollen pro Jahr mit 4—5 Lieferungen erscheinen, so daß man
insgesamt mit etwa 12 Jahren Dauer zu rechnen hätte. Daran
soll sich dann ein Registerband anschließen, der in den
Anfang der neunziger Jahre kommen würde. Man kann nur
wünschen, daß dieser Zeitplan eingehalten werden kann.
Vergleichbare Unternehmungen ziehen sich über Jahrzehnte
hin und veralten noch während des Erscheinens.
Möge dem Lexikon des Mittelalters ein günstigeres Schicksal
beschieden sein. Ein guter Anfang ist jedenfalls gemacht.

Rostock Gert Haendler

Schüssler, Hermann: Der Primat der Heiligen Schrift als
theologisches und kanonistisches Problem im Spätmittelalter
. Wiesbaden: Steiner 1977. XV, 312 S. gr. 8» = Veröffentlichungen
des Instituts für Europäische Geschichte
Mainz, Abt. f. abendländische Religionsgeschichte, 86.
Lw. DM 74,-.

Vf. hat sich mit seiner Untersuchung auf ein in der Theologiegeschichte
seltsamerweise vernachlässigtes Gebiet begeben
, das doch gerade für das Selbstverständnis der Reformation
von entscheidender Bedeutung ist, nämlich auf das
Gebiet der gegenseitigen Bezogenheit von Schrift und Kirche
.

Vf. hat »las Erscheinen seines Werkes nicht mehr erleben
können. Es war als Habil.-Schrift geplant gewesen. Es ist
nun von seinem Freund und Lehrer P. Meinhold, mit einem
Vorwort versehen (XI—XII), herausgegeben worden.

So sehr Vf. das alte Standardwerk von F. Kropatscheck
(Das Schriftprinzip der lutherischen Kirche, 1. Band: Die
Vorgeschichte. Das Erbe des Mittelalters, 1903) lobend erwähnt
und wiederholt heranzieht, so sehr hat das Thema
längst eine Neubearbeitung verlangt, die J. Beumer auch in
seinem Beitrag zum Handbuch der Dogmengeschichte („Die
mündliche Überlieferung als Glaubensquelle", 1962) nicht
gegeben hat.

Vf. geht aus von der Berufung Luthers auf Nikolaus de
Tudeschis (= Panormitanus) und seine Auseinandersetzungen
mit Prierias, Cajetan und Eck. Die Untersuchung
setzt bei der Vorscholastik ein (1—23). Diese betont den Primat
der Hl. Schrift unter den Autoritäten kräftig, setzt aber
auch die Lehrvollmacht der Kirche selbstverständlich voraus
, ohne ihr Aufeinanderbezogensein wohl als Problem zu
empfinden. Dann untersucht Vf. „Die Stellung der Hl. Schrift
in der Kanonistik und Theologie der Hochscholastik" (24
bis 60). In dieser Zeit tritt die kirchliche, genauer die päpstliche
Gewalt deutlicher hervor, so daß sich die Frage des
Verhältnisses der beiden Autoritäten, Schrift und Kirche,
zueinander stellt. Dem „Verhältnis von Hl. Schrift und
Kirche als theologisches Problem der Spätscholastik" ist
das III. Kap. gewidmet (61-158). Nach anfänglich entgegengesetzten
Tendenzen (einmal wird mehr der Schrift, einmal
mehr der Kirche der Primat unter den Autoritäten zuerkannt
) bahnt sich allmählich eine — verschieden nuancierte
— vermittelnde Lösung an, „die den Primat der Schrift
theoretisch aufrechtzuerhalten, aber mit der normativen
Funktion eines irrtumsfreien Lehramtes durch den Gedanken
der wechselseitigen Bezeugung von Schrift und Kirche
auszugleichen sucht" (XIV). Die Autoritätskrise z. Z. des
Großen Schismas und der Reformkonzilien läßt Stimmen
aufkommen, die die Gewißheit kirchlicher Lehre weder an
die Vollmacht eines Amtes noch an die eines Konzils, sondern
wieder an die Schriftgemäßheit knüpfen möchten.
Dieses „Schriftprinzip", auch von Panormitanus vertreten
und von manchen Theologen und Kanonisten aufgenommen
, ist lehramtlich nie verurteilt worden (vgl. Kap. IV:
„Der Primat der Hl. Schrift in der kanonistischen und kirchenpolitischen
Diskussion zur Zeit der Reformkonzilien",
159-224, und Kap. V: „Schriftautorität und kirchliche Lehrgewalt
in der kanonistischen und theologischen Diskussion