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Ausgabe:

1980

Spalte:

616-618

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Vorgrimler, Herbert

Titel/Untertitel:

Busse und Krankensalbung 1980

Rezensent:

Andersen, Wilhelm

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Theologische Literaturzeitung 105. Jahrgang 1980 Nr. 8

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Nowak, Kurt: „Euthanasie" und Sterilisierung im „Dritten Reich".

Dio Konfrontation der evangelischen und katholischen Kirche
mit dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und
der „Euthanasie"-Aktion. Halle (Saale): VEB Max Niemeyer
Verlag 1977.222 S. gr. 8° = Arbeiten zur Kirchongeschichtc und
Religionswissenschaft, 6. Lw. M 28,-.

Die Veröffentlichung von P. K. Kaul (Nazimordaktion T 4,
Berlin 1974) hat erschütternde Dokumente aus unserer jüngsten
Vergangenheit bekannt gemacht und damit einen allgemeinen Informationsbedarf
in unserem Lande decken helfen. Es ist sehr zu
begrüßen, daß in der Reihe „Arbeiten zur Kirchengeschichte und
Religionswissenschaft" dio 1971 vorgelegte Dissertation Nowaks
jetzt endlich obonfalls einem größeren Leserkreis zugänglich gemacht
wird. Damit liegt auch meines Wissens der erste zusammenfassende
Boitrag zur Haltung beider großer Konfessionen zu den
Problomen Euthanasie und Storilisation im „Dritten Reich" vor.

Nowak gliedert sein Buch in drei Abschnitte. Im 1. Abschnitt
werden die wesentlichen ideologischen Hintergründe und ihre gesellschaftlichen
Wurzeln beschrieben, die zum Verständnis des
Themas notwendig sind (Sozialdarwinismus, nordischer Rasson-
kult). Das 2. Kapitel (Eugenischo Ausmerze und Vernichtung
„lobonsunwerten" Lebens in Theorie und Praxis) beschreibt einleitend
dio Entwicklung dos Sterilisierungs- und Euthanasioge-
dankens vor 1933 in Verbindung mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen
dor Zeit. Dabei wird mit Recht sehr ausführlich auf die
umstrittene Schrift von Binding und Hoche („Dio Freigabe der
Vernichtung lebonsunwerton Lebons" 1920) und die Stellungnahmen
dazu von theologischor, juristischer und medizinischer Seite
eingegangen. „Erb- und Rassenpflege" im „Dritten Reich" und die
„Euthanasioaktion 1939-1945" beschließen das Kapitel.

Es ist für Loser, die diese Zeit nicht miterlebt haben, hilfreich,
daß dor Autor bei der Abfassung des letzten Abschnittes (Die
Haltung der beiden großen Kirchen zur Sterilisierung und Vernichtung
„lebensunwerten" Lebens) immer wieder auf dio Schwierigkeiten
der Informationsgowinnung und -weitergabo und die systematische
und verleumderische Gegenpropaganda hinweist.

Die katholische Kirche lehnt die Unfruchtbarmachung (zu damaliger
Zeit dio einzige sichere Form der Empfängnisverhütung) ab,
während in evangelischen Einrichtungen keino Bedenkon bestanden
, freiwilligen Unfruchtbarmachungen zuzustimmen. Weder bei
dieser Frage noch beim Thema „Vernichtung des ,lobensunworten'
Lebons" gab es einen Dialog zwischen den Konfessionen. Dios ist
eine bedrückende Erkenntnis.

Der, wenn auch getrennt und z. T. mit unterschiedlichen Mitteln
und Argumenten geführte erfolgreiche kirchliche Widerstand gogen
dio „Euthanasie"-aktion ist schon oft beschrieben worden. Eine
gründliche Analyse dor zahlreichen Fohlhaltungon, dio dabei offensichtlich
wurdon, scheint auch weiterhin sinnvoll (z. B. Stellung
zum ökonomisch, rassisch oder politisch „lobonsunwerton" Leben,
Vorschlag der isolierton Herausnahme dor in Heimen dor Inneren
Mission befindlichen Behinderten aus dor geplanten staatlichen
,,Euthanasie"gesetzgebung).

Hat diese historische Dokumentation über den lnlörmations-
wort hinaus in einer Zeit, da sich in zunehmendem Maße unsere
Gesellschaft für die geschädigten Mitbürger einsetzt, noch für dio
Bewältigung dor Gegenwart oinc Bedeutung? An oinigo Problom-
kroiseu, dio sich aus dor Arbeit dos Rez. bei Geistigbohindertcn
ergeben, soll doutlich wordon, daß man diese Fragen bejahen muß.

1. Bei Gesprächen über Hilfen für geistig Schwerstbehinderto fällt
gelegentlich auf, daß dio Frage „sei es nicht besser, dem Leben
dieser kranken Menschen ein Ende zu setzen, da es für sie selbst
keinen Wert mehr habe und die Angehörigen schwer bolaste"
(Seito 140) gedanklich noch nicht völlig bewältigt ist.

2. Je leistungsfähiger ein Geistigbohinderter im Arbeitsprozeß ist,
desto besser sind im allgemeinen seine Wohn- und Lebensbedingungen
.

3. Der Rehabilitationsaufwand bei Geistigbohiuderten nimmt oft
mit zunehmender Stärke der Behinderung ab, obwohl gerade
dio Intensivformon der Behinderung einen großen Aufwand
nötig hätten (Kosten-Nutzen-Denken?).

4. Es ist immer noch etwas besonderes, wenn sich begabte junge
Christen für die Arbeit an Schwerstbehinderten bereit finden.

5. Zum Menschsein Behinderter gehört auch die Sexualität. Damit
ist auch dio irreversible Unfruchtbarmachung (Sterilisation) für
Personen, dio nicht in der Lage sind zu erziehen, und die üblichen
reversiblen Antikonzeptika selbst sicher anzuwenden,
ernout Diskussionsgegenstand geworden.

Beim Nachdenken über diese und ähnliche Probleme kann man
keineswegs auf das Studium der Vergangenheit verzichten. Nowaks
Buch kann dazu im kirchlich-diakonischen Bereich eine sehr gute
Grundlage sein. Es sollte deshalb nicht nur von interessierten
Fachleuten gelesen, sondern bosonders in den kirchlichen Aus- und
Woiterbildungsstätten gründlich ausgewertet und studiert worden.

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Dogmen- und Theologiegeschichte

Vorgrünler, Herbert: Buße und Krankensalliung. Freiburg-B&Sel-
Wien: Herder 1978. IX, 234 S. gr. 8° = Handbuch dor Dogmengeschichte
, hrsg. von M. Schmaus, A. Grillmeior, L. Scheffczyk
u. M. Seybold, IV. Bd., Fasz. 3. Kart. DM 75,-.

Dio vorliegende Arbeit verdient aus mehreren Gründen eine besondere
Hervorhebung. Sie ist in dorn nun schon fast drei Jahrzehnte
in Erscheinung begriffenen Handbuch der Dogmcngoschichtc
das erste Tcilstück, das aus dem, einem großon Dom vergleichbaren
, Werk ausgewechselt wird. Sie ersetzt die am 24. Febr. 1950
mit dorn Imprimatur versehono Studie von B. Poschmann über
Buße und Letzte Ölung. Das nötigt zu der Frage, ob bzw. wie die
Grundkonzeption des Workes, dio damals im Namen der Herausgebor
von M. Schmaus entwickelt und der ersten Teilveröffentli-
chung vorangestellt wurde, sich durchgehalten hat, oder ob neue
Akzontsetzungen oder gar grundlegende Umorientierungon erfolgten
.

Das Vorwort für das Gesamtwerk ist verständlicherweise in
diesem Faszikel jetzt nicht noch einmal veröffentlicht. Das grundlegende
Konzept, über don Weg Auskunft zu geben, auf dem das
heutige kirchliche Lehrgut entstanden ist, wurde beibehalten. Es
darf nicht unerwähnt bloibon, daß bei der Darstellung der Dog-
monentwicklung das Wort Dogma nicht im engoren Sinne nur
dio von dor Kircho formulierte Offenbarungslohro bedeutet, sondern
im weiteren Sinno dio gesamte katholische Lehrvorkündigung
bozeichnot, mag sio „in bestimmten durch Konzilsbeschlüsso oder
durch päpstliche Lehrontschoidungon vorgelegten Formulierungen
odor in der alltäglichen Glaubonsvorkündigung erfolgen" (vgl.
Vorw. Bd. IV, Fasz. 3, S. IX).

Die sehr betont herausgestellte Solbstbeschränkung, das Handbuch
ziele nicht auf cino Information übor den heutigen Stand der
Forschung (vgl. ebd.), hat sich aber nur bodingt durchhalten lassen.
Dio immer gründlicher orfolgondo Diskussion mit den (nicht nur,
aber vor allem biblischen) Arbeiten protestantischer Autoron und
das 1950 noch nicht im Erwartungshorizont aufgetauchte zweito
Vatikanische Konzil, das vielfache Berücksichtigung orfordorlich
machte, haben das Gesamtwerk notwendigerweise zu einer wichtigen
Informationsquelle gomaeht.

Da der Fasz. IV, 3 in der ersten Auflage von B.Poschmann boreits
vom gleichen Rez. in diesor Zeitschrift vorgestellt wurde (84, 1959
Sp. 801ff), soll jetzt die Aufmerksamkeit auf oinigo markante
Unterschiodo gerichtet werden. Es ist allerdings vorwog festzustellen
, daß die neuen Akzontsetzungen oder Veränderungen den
theologischen und methodischen Rahmen nicht sprengen, dor für
das Gesamtwerk am Anfang festgelegt wurde und durch dio Jahrzehnte
bisher Gültigkeit behalten hat. Es wird weiterhin mit
großer Sachkenntnis und einem unverkennbaren Streben nach
Wahrheitsgemäßhoit nachzuweisen versucht, wie sich dio gegenwärtige
- in diesem Falle - Btißlohrc und Bußpraxis aus den durch
das Offenbarungsgeschehen bestimmten Anfängen unter dem
Beistand des Heiligen Geistes entwickelt hat. Damit befaßt Vor-
grimmlor sich auf 214 von den 234 Seiten. Auf 20 Seiten behandelt