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1980

Kategorie:

Religions- und Kirchensoziologie

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649

Theologische Literaturzeitung 105. Jahrgang 1980 Nr. 7

550

Platz ein. Als Professor für Soziologie und Sozialpolitik und
Mitglied des Direktoriums des Zentrums für interdisziplinäre
Forschung an der Universität Bielefeld gilt sein besonderes
Interesse vier zusammenhängenden Problcmbcreichen: 1. dem
„theoricgelcitcten Bedenken des Verhältnisses von Kirche,
Christentum und Gesellschaft" (6), 2. der „Thematisierung von
Kirche als sozialem Kommunikations- und Handlungszusam-
menhang" (15), 3. der Interdependcnz von Theologie, Kirchenrecht
und Kirchenorganisation im kulturell-sozialen Kontext
und 4. der Tradierung und möglichen Zukunftschancen des
Christentums auf verschiedenen Ebenen.

Zu einem wirklichkeitsbezogenen Kirchenverständnis gehört
die Anerkennung des geistlich-weltlichen Doppclcharakters von
Kirche, um in einer dauernden Reflexion theologische und
sozialwissenschaftliche Erkenntnisse aufeinander zu beziehen,
zu vergleichen und zu beurteilen, damit Einseitigkeiten und
Fchlinterpretationcn vermieden werden. Theologie und Soziologie
stellen von ihren spezifischen Voraussetzungen her unterschiedliche
Wissenssysteme dar, in denen bestimmte Sachverhalte
zur Sprache kommen, andere jedoch nicht erscheinen
bzw. ausgeklammert werden. Es wäre falsch, seitens der Theologie
durch Verweis auf den Heiligen Geist sozialwissenschaft-
lichc Erkenntnisse über die „weltliche" Dimension von Kirche
vernachlässigen oder negieren zu wollen — andererseits kann
die Soziologie keine Aussagen über die „geistliche" Dimension
von Kirche und das Wirken des Heiligen Geistes machen. Erst
das volle Ernstnehmen der anderen Partnerwissenschaft ermöglicht
neue Erkenntnisse und weiterführende Ergebnisse.

Der Vf. wendet sich in seinen theologisch-soziologischen
Überlegungen gegen die Übernahme eines ahistorischen, uferlosen
und abstrakten Begriffes von „Religion". Er befürwortet
die Begriffe „Christentum" und „Christentumsgeschichte", um
Kirche zu begreifen, d. h. „Phänomene, die wir naiv dem Kirchenverständnis
zurechnen, in ihrem historischen und gesellschaftlichen
Zusammenhang adäquat zu situicren, um sie da
durch in ihrer Konstitution wie auch in ihren Wandlungsmög-
lichkeitcn zu begreifen" (124). — Die Geschichte des Christentums
bildet nach Kaufmann „ein gemeinsames Erfahrungsob
jekt historischer, theologischer und soziologischer Reflexion"
(124) sowie den umfassenderen Bezugsrahmen eines unserer
Zeit adäquaten Kirchenverständnisses, denn eine nur auf die
katholische Kirche oder auf eine andere Konfession begrenzte
Sicht im Verständnis von Kirche und Kirchcngeschichtc erweist
sich als zu einseitig und zu eng. Weil wir heute immer mehr
in Weltperspektiven denken und handeln und die Interdependcnz
einer Weltgcscllschaft zu einer erfahrenen Realität für
jeden einzelnen wird, erweist sich ökumenisches Bewußtsein
als gültige Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit.

Ausgehend von dem viel zitierten Krisenbewußtsein in der
katholischen Kirche in der Bundesrepublik, untersucht der Vf.
einzelne Phänomene dieses Bewußtseins und deckt deren geschichtliche
Wurzeln auf. Seit dem Abschluß des I. Vatikanums
und der Gründung des Deutschen Kaiserreiches im Jahre 1871
entwickelte sich die katholische Kirche unter den Bedingungen
des Kulturkampfes soziologisch gesehen zu einem relativ geschlossenen
, eigenständigen gesellschaftlichen Teilsystem mit
einer Machtkonzentration im Papsttum und in der Hierarchie
der „Amtskirche" bei gleichzeitiger Abgrenzung gegenüber
allen Tendenzen des „Modernismus". Beide Faktoren trugen
zweifellos zur inneren Geschlossenheit, Machtfüllc und Stabilität
der katholischen Kirche in Deutschland bei. Als sich nach
dem Ende des 2. Weltkrieges die politischen und sozialkulturcl
len Bedingungen dieser Konstellation änderten, ließ sich die
Geschlossenheit der kath. Kirche als gesellschaftlich homogenes
Teilsystem nicht mehr aufrechterhalten. Latente Krisenerscheinungen
wurden offenbar und verdichteten sich zu einem
allgemeinen Krisenbewußtsein unter den Gläubigen, weil wesentliche
Probleme infolge der Abgrenzung nicht aufgearbeitet
waren, z. B. Aufklärung, Säkularisierung, Atheismus, das
Selbstvcrständnis der neuzeitlichen Wissenschaften, Sozialismus
und Arbeiterschaft, das einseitige Verhältnis zu anderen Kirchen
und Religionen. Trotz zahlreicher theologischer Denkanstöße
und kirchlicher Aktivitäten, die besonders seit dem II.

Vatikanum starken Auftrieb erhielten, ist nach wie vor ein
weitverbreitetes Krisenbewußtsein festzustellen, weil Gestalt,
Machtfülle und Wirkungsmöglichkeiten der kath. Kirche zwischen
dem I. und dem II. Vatikanum in einer rückwärts gewandten
Schau oft als erstrebenswert-vorbildlich angesehen
werden.

Was in dieser Schau als beklagenswerter Verlust empfunden
wird, erscheint in der makrosoziologischen Sicht des Vf.
als Transformation im Geschichtsverlauf, welche die neuen
Möglichkeiten eröffnet, durch die unveräußerliche Glaubens
gehalte der Kirche in geschichtlich-gesellschaftlich wandelbaren
Formen in die Zukunft hinein tradiert werden können. Hierzu
gehört jedoch, daß sich in der Gegenwart Kirche und Christen
des geschichtlich-gesellschaftlichen Kontextes bewußt werden,
in den sie unausweichlich verflochten sind. Die Hauptfaktoren
sehen wir in der wachsenden Differenzierung und Komplexität
gesellschaftlicher Prozesse, in der Zunahme des Organisationsgrades
wichtiger Lebensbereiche und in dem Streben nach
Selbstgestaltung der Person innerhalb von Kollektivgebilden.
— In seinem konfessionsübergreifenden Geschichtsverständnis
nennt Kaufmann hinsichtlich der Tradierungs- und Zukunftschancen
des Christentums 3 Perspektiven: „1. Der deutsche
Katholizismus als spezifische Tcilkultur ist unwiderruflich in
Auflösung begriffen. 2. In organisatorischer und institutioneller
Hinsicht wird das zukünftige Christentum stärker von der
katholischen Tradition geprägt sein. 3. Im Welt- und Lebensverständnis
wird das zukünftige Christentum stärker von der
protestantischen Tradition geprägt sein" (90).

In der Entfaltung dieser 3 Perspektiven dürften folgende
Überlegungen des Vf. auch für die Kirchen und Christen in
der DDR wesentlich sein i Der sich in der Gesellschaft abzeichnende
Trend zunehmender Organisiertheit wird sich gleichfalls
in den Kirchen auf der institutionell-organisatorischen Ebene
durchsetzen und zu einer gewissen Effektivität und Stabilität
im Verwaltungsbereich der „Amtskirchen" führen; hierbei dürfen
keineswegs die latenten Gefahren einer Machtkonzentration
, Uniformität, Bürokratie und binncnkirchlichcn Entropie
übersehen werden. — Die Nachteile einer rigorosen „Abgrenzung
" der Kirchen in der Form einer selbstgewählten gesell
.schaftlichen Isolierung und Gettoisicrung überwiegen die Nach
teile der „Offenheit" (z. B. Angleichung und Nivcllierung). —
Einheit in der Vielfalt konkretisiert sich heute in den Kirchen
als ein recht verstandener „Pluralismus", der in einem span-
nungsgcladencn Miteinander unterschiedlicher Konfessionen,
Lehrmeinungen, Glaubcnshaltungen und Traditionen die Lebendigkeit
gesamtkirchlichen Lebens gewährleistet. Konfessionell
gemischte Gesellschaften besitzen somit bessere Chancen einer
lebensvollen Tradicrung des Christentums als konfessionell
homogene Gesellschaften. — Persönliche Glaubenscntschcidun-
gen, die Zunahme des Freiwilligkeitsprinzips kirchlicher Zugehörigkeit
und Mitarbeit sowie Tcilidcntifikationcn mit verschiedenen
Aufgaben wird die Zukunft der Kirchen stärker
bestimmen als die manchmal fraglos hingenommene Tradicrung
des Christentums in früheren Jahrhunderten europäischer
Kirchengeschichte.

Magdeburg Erwin Hinz

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