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Ausgabe:

1980

Spalte:

529-531

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Johann Georg Herzog, Kirchenmusiker

Titel/Untertitel:

Liturgiker und Erlanger Universitätslehrer in seinen Briefen an Max Herold 1980

Rezensent:

Brunners, Christian

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Theologische Literaturzeitung 105. Jahrgang 1980 Nr. 7

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mit seinen verschiedenen Perikopcndichtungen eine wichtige
Rolle), um schließlich die sprachlich-thematische Eigenart des
Sonett-Zyklus zu erheben.

Eine entsprechende Schrittfolge gibt es im zweiten Teil bei
der Annäherung an das Spezifikum des Lieder-Zyklus. Als Textgrundlage
wird die Bugcnhagenschc Passionsharmonie herausgestellt
, als gliederungsbestimmender Sozialfaktor die Praxis
der Passionspredigten: Die Zahl der Lieder — es sind 19 —
läfjt einen Zusammenhang mit solchen Kirchenordnungen erkennen
, die für die fortlaufende Behandlung der von Bugcn-
hagen zusammengestellten Passionsgeschichte die Sonntagsnachmittagsgottesdienste
von Estomihi bis Palmarum samt den
dazwischenliegenden Mittwochs- und Freitagsgottesdiensten
vorsahen. Es folgt der Aufweis traditioneller Auslegungsmotivc,
die z. T. bis zu den Kirchenvätern zurückverfolgt werden. Ihr
Besonderes im Vergleich mit anderen Passionsdichtungen haben
die Gryphius-Lieder darin, daß sie Erzählung und Auslegung
gleichermaßen zu ihrem Recht kommen lassen. Hierin bilden
sie die lutherische Passionspredigt ab.

Beim Drang des Vf. nach Vollständigkeit ist es erstaunlich,
dafj er die Melodiczuweisungen und die dadurch mitentschiedene
Frage der Strophenmuster für die 19 Lieder gar nicht
behandelt. Nach den vielen Belegen für die Traditionsgebundenheit
des jungen Gryphius würde es nicht verwundern,
wenn auch in dieser Hinsicht Aufschlußreiches zutage käme.

Der dritte Teil nimmt Anlaß bei der Vorrede zu den „Tränen
", könnte also dem zweiten untergeordnet werden. Dennoch
ist es zu begrüßen, daß hier eine gesonderte und abgerundete
Darstellung vorgelegt wird. K. erarbeitet jetzt nicht vom Allgemeinen
her das Besondere. Vielmehr wertet er das Besondere
der Vorrede als zusammenfassenden Ausdruck eines Allgemeinen
, nämlich einer sonst allermeist nur implizit vorhandenen
Poetik der geistlichen Dichtung des Barock. Diese Poetik
hängt eng mit der augustinisch-mclanchthonischen Rezeption
antiker Rhetorik für den Bereich der kirchlichen Verkündigung
zusammen. Sofern geistliche Dichtung auf eigene .Erfindung"
verzichtet und sich als Exegese und Paraphrase, also als unbedingt
quellengebundene Kunst darstellt, ist sie der Stillage des
sermo humilis zuzuordnen. Daneben gibt es im 17. Jh. aber
auch geistliche Dichtung im hohen Stil - Gryphius verweist
auf eigene Passionsdichtungen neben den „Tränen" - die mehr
als der reformatorischen Verkündigungstradition dem opitia-
nisch-humanistischen Aufbruch verpflichtet ist. Den Germanisten
will K. den Sinn für die literarische Eigenständigkeit der
niederen, den Theologen den Blick für die äußere Vielfalt und
den inneren Zusammenhang der niederen mit der höheren
geistlichen Dichtung öffnen.

Alles in allem: ein wegen seiner Qucllenfülle, seiner Fragestellungen
und Gesichtspunkte und seiner interdisziplinären
Herausforderungen anregendes und - jedenfalls für den Rez.
- ungemein hilfreiches Buch.

Pctcrshagcn bei Berlin Jürgen Henkys

Stollberg, Oskar: Johann Georg Herzog, Kirchenmusiker, Litur-
giker und Erlanger Universitätslehrer, in seinen Briefen an
Max Herold 1865-1908. München: Kaiser 1978. 252 S. m.
2 Porträts 8°. Kart. DM 26,-.

Wie wenig evangelische Kirchenmusik und Liturgie der zweiten
Hälfte des 19. Jh. erkundet und im theologischen Forschungsbild
präsent sind, zeigt die Tatsache, daß die beiden
Personcnnamen des Buchtitels im RGG-Registerband nicht auftauchten
. Und doch handelt es sich bei Herzog (1822-1909)
nach einem musikwissenschaftlichen Urteil um den „bedeutendsten
in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts wirkenden
evangelischen Kirchenmusiker" (Fr. Krautwurst, 1959;
bei Stollberg S. 110). Der Theologe und Liturgiker Herold
(1840—1921) war ab 1876 (Mit-) Herausgeber der ersten deutschen
evangelischen liturgisch-kirchenmusikalischen Zeitschrift
.Siona" (heute fortgeführt in der Zeitschrift „Musik und Kirche
"). Beide Männer — einander zunächst als Lehrer und
Schüler, dann in ähnlichen Wirkungsabsichten und freundschaftlich
verbunden — arbeiteten zeitlebens im bayerischen
Raum, beide zu ihrer Zeit mit internationaler Ausstrahlung.

Oskar Stollberg, Musikwissenschaftler und jahrzehntelanger
Kantor im fränkischen Schwabach, einer Wirkungsstätte Herolds
, ist schon in früheren Veröffentlichungen für eine gerechte
Würdigung der hymnologisch-liturgischen Bestrebungen
in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts eingetreten.
Er möchte auch durch die nun vorgelegte Edition und Interpretation
dem klischeehaften Urteil entgegentreten, es habe
sich bei jenen Bestrebungen um pures Archaisieren gehandelt.
Stollberg betont den produktiven Beitrag Herzogs zur musikalischen
Liturgiegeschichte.

Herzstück der Veröffentlichung ist der erstmalige Abdruck
von fünfzig Schreiben Herzogs an Herold (180—224). Dazu tritt
eine umfangreiche und z. T. minutiöse Kommentierung der
Briefe aus biographischen, zeit-, musik- und liturgiegeschicht-
lichcn Perspektiven (19—101). Stollberg hat Herzog und Herold
auch in Kurzbiographien vorgestellt (102—118) und fügt einen
ausführlichen Anmerkungsteil (119—177) sowie Quellen- und
Literaturverzeichnis bei (225—243). Der Verlag hat überdies
durch Porträts, Schriftprobe Herzogs, Notenbcispielc und Zierleisten
dem Buch eine anschauliche und ansprechende Ausstattung
gegeben.

Herzog gehört nach seinen Briefzeugnissen in die liturgische
Restaurationsbewegung des 19. Jh. Er stand im Einfluß des
Nculuthertums und vollzog als Hauptleistung — lehrend,
komponierend, musizierend und forschend — die musikalische
Ausgestaltung und Praxisüberführung der seit Mitte des Jahrhunderts
erscheinenden bayerischen Agenden- und Choral-
werke. Die Repräsentanz Herzogs für die Restaurationsbewegung
zeigt sich auch darin, daß etwas von deren Zwicgesichtig-
keit in den Briefen aufscheint: einerseits Reform der rationalistisch
verkümmerten und subjektiv verdünnten Gottesdienstmusik
aus den Kräften der Tradition, besonders der des
16. Jh., auch der Wille zum Gemeindegemäßen und zu einer
der eigenen Gegenwart gemäßen Musiksprache; andererseits
durch die (schon auf A. F. J. Thibaut zurückgehende) Stilisierung
eines liturgischen a-capella-Chorstils eine Abschnürung
von der damals .modernen' musikalischen Entwicklung und
von der Breite der eigenen evangelischen Tradition (Bachs
Kantaten läßt Herzog z. B. nur für das Kirchenkonzert und
nicht für den Gottesdienst gelten). Die Briefe legen auch die
Schlußfolgerung nahe, daß der .akademische' Zuschnitt der
restaurierenden Reform nicht in hinreichende Kommunikation
mit dem breiten Volkscmpfindcn zu kommen vermochte.

Herzog in seiner Person und in seinem Wirken durch diese
Briefausgabe in Erinnerung gerufen und für ein unbeachtetes
Kapitel der Kirchenmusikgeschichte eine Fülle von Informationen
gegeben zu haben, das ist das Hauptverdienst dieser
Veröffentlichung, die zu einer differenzierten Beschäftigung
mit der liturgisch-musikalischen Restauration herausfordert.
Dringend wären in diesem Zusammenhang etwa Studien zu
O. Kade, dem musiksetzenden Partner Th. Kliefoths; interessant
wären Einblicke in den von Stollberg erwähnten (151)
Schriftwechsel zwischen Herold und Fr. Spitta; unerläßlich ist
eine neue wissenschaftliche Würdigung der liturgischen und
geistlichen Musik des 19. Jh. insgesamt.

Stollbergs Interpretation der Briefe hebt mehrfach hervor,
daß die musikalisch-liturgische Restauration Fragestellungen in
Gang setzte, die die Arbeit am Gottesdienst bis in die Gegenwart
mitbestimmt haben: so die Wiedergewinnung des rhythmischen
Choralsingens, Probleme der Gregorianik, funktionale
Zuordnung der Musik zur Liturgie, die liturgische und musika
lischc Bildung von Studenten und Pastoren, die gottesdienst-
lichc Dimensionicrung kirchlichen Lebens überhaupt.

Herzogs Orientierung an einer unter romantisch-historisic-
rendem Blickwinkel rezipierten Tradition muß auch als ein
Reagieren auf zeitgeschichtliche und kirchliche Probleme verstanden
werden. Erst eine Analyse dieser Wechselbeziehungen
bis hinein in kirchenpolitischc und soziale Verhältnisse würde
innerhalb einer Gesamtdeutung Antwort auf die Frage ermöglichen
, inwieweit die musikalische Restauration auf die Herausforderungen
der Zeit angemessen oder verfehlt reagiert