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Ausgabe:

1980

Spalte:

527-529

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Henkys, Jürgen

Titel/Untertitel:

Krummacher, Hans-Henrik, Der junge Gryphius und die Tradition 1980

Rezensent:

Henkys, Jürgen

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Theologische Literaturzeitung 105. Jahrgang 1980 Nr. 7

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macher, Schopenhauer, Hegel, F. Chr. Baur, Rothe und Nietzsche
als konstitutiv für die eigenen Aussagen von den ersten
Seminarpredigten bis zur „Gott ist tot—Rezeption" 1882. Jene
verschiedenen Abhängigkeiten werden aber durch die zahlreichen
ausgiebigen Zitationen und deren spärliche Paraphrase
gerade nicht besonders einleuchtend gemacht, weil ihnen die
historisch-kritische Einordnung meist fehlt. Dieses Manko stört
am meisten im letzten Teil, wo aus der Overbeck-Nietzsche-
Beziehung wohl erheblich mehr herauszuholen gewesen wäre.

Die Arbeit ist aufgrund ihrer vielfältigen Bezüge wertvoll.
Doch kann sie durch das nur partielle Eingehen auf jene weder
deren Evidenz noch die des Themas dartun. „Gott, Mensch und
Welt bei Overbeck" zu ergründen, wird daher weiterhin ein
wichtiges Desiderat unserer Gegenwart bleiben müssen. Denn
der seither bestehende und von Overbeck besonders scharf
erkannte Bruch zwischen Theologie und Kirche, Glauben und
Wissen, Gott und Jesus, historisch-kritischer Forschung und
Religion harrt noch glaubwürdiger Analyse und Heilung.

Basel Karl Hammer

Christliche Kunst und Literatur

Krummacher, Hans-Henrik: Der junge Gryphius und die Tradition
. Studien zu den Perikopensonetten und Passionsliedern
. München: Fink 1976. 582 S. gr. 8°. Lw. DM 160,-.

Diese Kölner Habilitationsschrift hat einen langen Weg hinter
sich: 1966/67 von der Philosophischen Fakultät begutachtet
, danach in mehreren Phasen ergänzt und überarbeitet und
erst 1971 mit dem Vorwort versehen, ist sie schließlich 1976
erschienen. Seither sind weitere Jahre vergangen. Der Rez.
mußte sich fragen, ob eine Anzeige denn überhaupt noch am
Platze sei. Verstärkt wurde seine Hemmung dadurch, dafj er
weder für die Germanistik im allgemeinen noch für die Literatur
des 17. Jh. im besonderen die erforderliche Fachkompetenz
einbringen kann.

Dagegen erhob sich freilich bald die Frage, was denn hier
wohl „erforderlich" heißen könne, da der Vf. selbst, von der
forschungshemmenden Wirkung enger Fachzuständigkeiten
überzeugt, die Grenzen zwischen Literaturwissenschaft und
Theologie, insbesondere den Disziplinen Kirchen- und Theologiegeschichte
, Homiletik und Liturgik, immer neu überschritten
hat. „Man wird der Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte
wie der Literatur dieses Zeitraums nur gerecht, wenn man sich
bemüht, literarische und theologische Aspekte gleichermaßen
zu berücksichtigen. Nur so vermag sich ein angemessenes Bild
herzustellen, das den Theologen die Erscheinung der geistlichen
Dichtung auch in ihren Bindungen an die übrige Literatur
der Zeit zutreffend beurteilen läßt und das diese Erscheinung
dem Literaturhistoriker zu einem lohnenden Gegenstand
im Zusammenhang mit der übrigen Literatur macht."
(459 f).

Der germanistischen Gryphius-Forschung gegenüber, sofern
sie den großen Schlesier von der angeblich starren und streitsüchtigen
lutherischen Orthodoxie emanzipiert und einer vorwärtsweisenden
überkonfessionellen Mystik verpflichtet sieht,
bringt K. eine tief gestaffelte Materialfülle zur Geltung, mit
der sonst, wenn überhaupt, nur die Theologen umgehen. Der
Theologie, speziell ihrer Hymnologie gegenüber wendet er ein,
daß der dort bevorzugte enge Begriff des Kirchenliedes und
der Wertungsmaßstab eines gleichsam objektiven Bekennens
die Einheit der geistlichen Dichtung verkennen. Beide Seiten
fordert er vor das Forum der in den Quellen (einem Meer von
Quellen, falls es so etwas gibt!) aufzusuchenden wirksamen
Traditionen. Hier haben sie ihre Vormeinungen und ihre leitenden
Begriffe zu rechtfertigen oder neu zu formieren. Daß
sich für einen wesentlichen Teil der Literatur des 17. Jh. die
Arbeitsfelder von Germanistik und Theologie auf so herausfordernde
Weise überlagern, dürfte zu den besonders nachhaltigen
Eindrücken gehören, die K. s. Buch bei den Fachvertretern
beider Bereiche hinterläßt.

Von zwei Frühwerken des Gryphius her, den geistigen Zyklen
„Sonn- und Feiertags-Sonette" und „Tränen über das Leiden
Jesu Christi", beide bisher am Rande des Forschungsinteresses
gelegen, greift K. in die Diskussion um Eigenart und Stellung
des Dichters ein, um herrschende Urteile teils abzuweisen
, teils zu modifizieren, teils auf eine breitere Quellenbasis
zu stellen. Zugleich zeigt er am Beispiel des Gryphius, welche
methodischen Ansprüche die geistliche Literatur des 17. Jh. an
die damit befaßte Forschung stellt. Dieser dreifache Beitrag —
zur Erklärung der Einzelwerke, zum Gryphiusbild und zur
Selbstverständigung der Barockforschung insgesamt — gelingt
ihm aber nur durch ein weit ausholendes Verfahren, mit dem
erstaunliche Materialmengen in die Untersuchung einbezogen
oder doch wenigstens bibliographisch bereitgestellt und als
grundsätzlich belangreich ins Bewußtsein gebracht werden.
Das Quellenverzeichnis (Kleindruck) füllt 56 Seiten. Dazu sind
die nahezu 500 Seiten der Abhandlung durchsetzt mit teils
exkursartigen, teils Titel aufreihenden Anmerkungen. Zugegeben
, daß die Breite der Darstellung den Leser gelegentlich
unwillig werden läßt. Insgesamt aber leuchtet am Ende ein,
daß diese Breite in doppelter Hinsicht sachbegründet sein
mag: 1. Zu sicheren Urteilen über das unverwechselbar Eigene
eines Barockdichters zu kommen, ist wegen der Obermacht
der literarischen Konventionen dieser Epoche ein von vornherein
aufwendiges Unternehmen. 2. Die geistliche Dichtung
des hier untersuchten Typs unterliegt noch stärker als die
übrige zeitgenössische Literatur überkommenen und darum
mitaufzuarbeitenden Prägungen.

Der junge (nämlich in zwei Zyklen geistlicher Gedichte vertretene
) Gryphius und die Tradition — das heißt nun aber
keineswegs: Man subtrahiere das Traditionelle und gewinne
so das Eigene, das persönlich Besondere! Vielmehr: Das Eigentümliche
liegt in der Art, Tradiertes aufzunehmen und damit
umzugehen. Es liegt in der Auswahl, Verknüpfung und Zuspitzung
der überlieferten Absichten und Gehalte, also in den
Modalitäten ihrer gestalteten Bejahung.

Abgesehen von ausführlichen Abschnitten zur Einleitung und
zum Ausblick hat K.s Arbeit drei Teile. Der erste gilt den
Sonn- und Feiertagssonetten, der zweite der Liedpassion, der
dritte einer „Poetik der geistlichen Dichtung im 17. Jahrhundert
".

Am umfangreichsten und für K.s Verfahren am bezeichnendsten
ist der erste Teil. K. geht nicht sogleich von einzelnen
Texten aus, um an ihnen Anhaltspunkte für die Nachfrage
nach ihrer Traditionsbedingtheit zu gewinnen. Das geschieht
erst viel später. Sondern am Anfang steht eine Studie über
„Perikopenauslegung und -dichtung im 16. und 17. Jahrhundert
" (46-164). Aus Kirchen- und Schulordnungen lutherischer
Regionen wird abgelesen, auf welche Weise der dauernde Umgang
mit den gottesdienstlichen Lesereihen, insbesondere den
Evangelien, sozial verankert war. Die Ausgangsform Evange-
licnreihe treibt unter dem Einfluß aufweisbarer Praxis und
ihres kirchen- und frömmigkeitsgeschichtlichen Bedingungszusammenhangs
eine Vielfalt literarischer Folgeformen aus
sich hervor, die K. vier Hauptgruppen zuordnet: a) Postillen,
b) Lateinische Perikopenparaphrasen und deutsche Pcrikopen-
lieder, c) Perikopenepigramme und -Sprüche, d) Perikopenge-
bete in Prosa und Vers. Er zeigt, daß die gesamte Perikopen-
literatur des Zeitalters bewegt ist durch eine Tendenz zur
literarischen Differenzierung und zugleich durch das zunehmende
Bemühen um Verinnerlichung und persönliche Zueignung
des Evangeliums. So entsteht vor den Lesern das Bild
eines ausgedehnten und eigenständigen Literaturbereichs, der,
was den pulsierenden Kern und dessen organisierende Kraft
angeht, bisher noch nicht im germanistischen Allgemeinbewußtsein
gewesen zu sein scheint und dessen kundige und
umfassende Darstellung auch den Theologen reich belehrt.

Erst nach dieser Vorarbeit im Feld der Erbauungsliteratur
wendet sich K. den Sonetten selbst zu, um zunächst aufzuzeigen
, wieviel traditionelles exegetisches Gut (vermittelt durch
die mündliche Predigt und die Postillen) in ihnen verarbeitet
ist, um sodann nach den unmittelbaren Vorbildern bzw. Anregern
des Gryphius zu fragen (hier spielt Johann Heermann