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Ausgabe:

1980

Spalte:

449-451

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Deufel, Konrad

Titel/Untertitel:

Kirche und Tradition 1980

Rezensent:

Fahlbusch, Erwin

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Theologische Literaturzeitung 105. Jahrgang 1980 Nr. 6

450

Freiheit und damit eines wahrhaft sittlichen Lebens im
Staat. Da Religion nur über die Kirche ihre sittlich-praktische
Kraft entfalten könne, gelte Kirche als unverzichtbar
im Gefüge von Staat und Gesellschaft.

Dem historisch-systematischen Teil der Arbeit ist eine
Vita Ehrlichs vorangestellt, in der auch intime Winkel des
offenbar fragilen und von Depressionen belasteten Seelenlebens
Ehrlichs beleuchtet werden. Ob der Vergleich mit
Kierkegaard zutreffend ist (35f.), mag gefragt werden. Im
Anhang gibt der Vf. längere Auszüge aus Ehrlichs bisher
unveröffentlichtem Tagebuch wieder, das manchen Einblick
auch in Wissenschafts- und kirchenpolitische Zusammenhänge
gewähren.

Vf. interpretiert Ehrlich „von hinten", d. h. von seiner
Theologie her, die am Ende des Ehrlichschen Werkes steht,
„weil im philosophischen und sozialtheoretischen Werk
eine deflziente theologische Theorie federführend ist" (131).
Es wäre u. E. weiterer Prüfung wert, ob ein genetischer
Interpretationsgang nicht zu weiteren Ergebnissen führen
könnte (vgl. z. B. 220!).

Für die evangelische Theologie vermag Ehrlichs fundamentaltheologischer
Ansatz offenbar einen Denkanstoß darzustellen
. Kürzlich sind Ebeling und Pannenberg auf ihn
aufmerksam geworden. Über dem vernunftgemäßen Erweis
von Offenbarung, wie ihn Ehrlich geliefert zu haben glaubte,
werden sich die Geister allerdings scheiden. Auf jeden Fall
ist die Ehrlichsche Vermittlung von Idee und Wirklichkeit
im Begriff der Theologie via kreatürliches Selbstbewußtsein
nicht ohne Reiz. Auch die Ausarbeitung von Theologie als
„Supormodell" von Wirklichkeit, das auf Aufnahme anderer
Modelle genuin angelegt ist, besitzt trotz der Entfernung,
die uns vom Denken Ehrlichs trennt, noch stimulierende
Kraft. Es wäre nicht unwillkommen gewesen, wenn der Vf.
in einem gesonderten Arbeitsgang die Konzeption Ehrlichs
im Lichte der gegenwärtigen methodologischen Debatte diskutiert
hätte. Andererseits mag sich der Leser dadurch
selbst zum Weiterdenken ermuntert fühlen — und auf diese
Weise dem Autor für seine auch in den Technika solide
Studie danken.

1 H. Fries/G. Schwaiger (Hrsg.): Katholische Theologen Deutschlands
im 19. Jahrhundert. München 1975 (3 Bde). Vgl. I, 354; II, 224.

Leipzig Kurt Nowak

Deufel, Konrad: Kirche und Tradition. Ein Beitrag zur Geschichte
der theologischen Wende im 19. Jahrhundert am
Beispiel des kirchlich-theologischen Kampfprogramms
P. Joseph Kleutgens S. J. Darstellung und neue Quellen.
München-Paderborn-Wien: Schöningh 1976. 518 S. 8° =
Beiträge zur Katholizismusforschung, Reihe B: Abhandlungen
. Kart. DM 48,-.

In der Geschichte der römisch-katholischen Theologie tritt
zu Beginn des 19. Jh. im Trend der Zeit das Bemühen hervor
, das spekulative und das geschichtliche Denken zu vermitteln
und die Kirche als eine „lebendige Tradition" darzustellen
(Tübinger Schule), und daneben der Versuch, die
zeitgenössische Philosophie (Kant, Fichte, Hegel) in die
theologische Reflexion zu integrieren (G. Hermes, A. Günther
). Aber am Ende des Jahrhunderts beherrscht die Theologie
und Philosophie der „Vorzeit" das Feld, d. h. die Neuscholastik
; im Neuthomismus wird das zeitlos gültige
System behauptet und mit der Definition des jurisdiktio-
nellen Universalepiskopats des Papstes und seiner lehramtlichen
Unfehlbarkeit im I. Vatikanum ist die Instanz gegeben
, welche die Lehrentwicklung kontrollieren kann. Das
auffällige und bedeutsame Geschehen steht in weitverzweigten
Zusammenhängen, die noch nicht völlig aufgehellt
sind. Als „Inaugurator" (K. Feckes) und „Haupt der Neuscholastik
" (L. Scheffczyk) gilt Joseph Kleutgen
(1811-1883), den M. J. Scheeben (K. Eschweiler: „die kostbarste
Blüte der Neuscholastik") einen ..Thomas redivivus"
nannte. Deshalb verdient eine Monographie, die sich dem
„kirchlich-theologischen Kampfprogramm P. Joseph Kleutgens
SJ" widmet und „zum Verständnis dieser Wende in
einem namhaften Vertreter einen Beitrag leisten" will (17),
von vornherein ein besonderes Interesse.

Trotz zahlreicher Arbeiten über Kleutgen blieb „über
Lebensgang und Gestalt besonders viel Dunkel gebreitet",
wie K. G. Steck noch 1967 in seiner Untersuchung über
„Joseph Kleutgen und die Neuscholastik" feststellen muß
(in: Festschrift für Joseph Klein, hrsg. v. Erich Fries, Göttingen
1967, 288). Indessen bringt jetzt Konrad Deufel
„ein neues Licht" in dieses Dunkel, indem er auf bisher
unbeachtetes umfangreiches Archivmaterial zurückgreift
und dieses seiner Darstellung zugrunde legt.

Der V{. wendet sich zunächst (I. Hauptteil, 20-93) der Biographie
Kleutgens zu. Er zeichnet eine Persönlichkeit von „traurigem Gemüt
und einem schwach entwickelten Selbstgefühl" (182 Anm. 22),
die Zeit ihres Lebens „Scheitern, Mißerfolg und oft auch Demütigung
- erfahren hat (181). Ein solcher Mensch braucht „zum Ausgleich
für seine mangelnden Selbstwertempflndungen straffe Ordnungen
und eine klare Autorität" (182). Kleutgen fand sie, wie der
Vf. zeigt, in der „heilen Kirche des Mittelalters" und hinter den
„Mauern St. Ignatli". Im II. Hauptteil (94-178) entwickelt der Vf.
das kirchlich-theologische Kampfprogramm Kleutgens „auf dem
Hintergrund der Verschränkung von Persönlichkeit und theologischem
Anliegen" (18). Das skizzierte Persönlichkettsbild (ein „in
allen Lebensphasen... grenzenloser Pessimismus", 92; 181) gibt
dem Vf. die Spur, die Orientierungsdaten zu finden, die Kleutgens
Verständnis der Zeitläufte als apokalyptisches Geschehen und der
Kirche als bleibende Autorität und rechtliche Körperschaft sowie
sein Programm zur „Wiederherstellung der Front im katholischen
Lager" bestimmen. Hinzu tritt der Hinweis auf ähnliche Denker
(de Maistre, F. J. Stahl) und die zeitgenössische Reaktion gegen
Revolution und Aufklärung.

Die Schlußbetrachtung (179-196) unterstreicht noch einmal, „daß
bestimmte zeitbedingte Auffassungen Kleutgens zu ganz bestimmten
theologischen Positionen führen" (184) und zwischen Biographie
und Theologie ein enger, persönlich motivierter und sachlich begründbarer
Zusammenhang besteht, daß Kleutgen dem katholischen
Wolfftanismus des 18. Jh. verpflichtet ist. den neuzeitlichen Souveränitätsbegriff
aufnimmt und „aufgrund der starken emotionalen
Einbindung in seinen Orden" seine Theologie als „Sohn des hl.
Ignatius" betreibt (185ff). Abschließend stellt der Vf. fest. Kleutgen
habe „sich restaurativ zum Erbe der Vergangenheit zurück" gewendet
und sei „dem größeren Geist dieser Zeit nicht ganz gerecht"
geworden; „er führte einen nach innen und rückwärts gewandten
Monolog, nicht aber einen auf seine Zeit hin offenen Dialog", wobei
der Vf. anerkennt, daß Kleutgen aber auch versucht habe, „manches
von dem neu ins Bewußtsein zu rufen, was im enthusiastischen
Pathos der Aufklärung für Kirche und Theologie verlorengegangen
war" (196). Wichtig ist dem Vf.. Kleutgen noch „unter einem zusätzlichen
Blickwinkel zu sehen", d. i. die „frappierende Parallele"
zu den heutigen sog. Traditionalisten, die „inhaltliche Übereinstimmung
", „oft nahezu wörtliche Identität" mit Kleutgen aufweisen
(189 0. So ist für den Vf. die kritische Würdigung Kleutgens „zugleich
eine Stellungnahme zu den kirchlichen Problemen unserer
Zeit" (191).

Es ist das besondere Verdienst des Vf., daß er in einem
umfangreichen Anhang (197—487) die ausgeschöpften Quellen
aus den Archiven des Franziskanerklosters Münster/
Westf.. der Gregoriana und des Collegium Germanicum in
Rom sowie der Niederdeutschen Jesuitenprovinz in Köln
allgemein zugänglich macht. Dabei handelt es sich um
117 Briefe Kleutgens aus den Jahren 1833-1882, eine Rede
zu Allerheiligen 1847 und das Gutachten für die Indexkongregation
über Anton Günther. Hierzu ist allerdings
anzumerken, daß der Vf. nicht alle Briefe aus dem Archiv
des Collegium Germanicum ediert hat und ihm sachliche
und Transkriptionsfehler unterlaufen sind, wie Peter
Walter (Rom) in einer minuziösen Arbeit nachweist
(„Zu einem neuen Buch über Joseph Kleutgen SJ", in:
ZKTh 100, 1978, 318-356); die von Deufel nicht edierten
Briefe und Briefteile (zehn Nummern) legt Walter zusammen
mit den notwendigen Erläuterungen im Anhang seines
Aufsatzes vor (339-356).

Der Wert der vorliegenden Arbeit liegt außer in der
Quellenedition in der Darbietung von Person und Werk
Kleutgens, wenngleich ich hier die Kritik Walters (s. o.)
teile. Er meint, aus dem Quellenmaterial hätte sich „ein
differenzierteres Persönlichkeitsbild zeichnen lassen", und
zweifelt, ob „man die Theologie Kleutgens so einfach monokausal
auf seine Persönlichkeit zurückführen" kann (319);
er weist auf die musische Seite Kleutgens hin, die eis
wesentliches Element seiner Persönlichkeit bilde (320).
Dem möchte ich noch Beobachtungen hinzufügen, die Deufel
selbst registriert, aber als Schwäche. Scheitern, Unsicherheit,
Orientierungslosigkeit deutet (vgl. 24ff.); das sind: (1) Kleutgens
enge Bindung an seine Mutter, die ihn in seinem
Kindheitstraum, Priester zu werden, bestärkt und ihn letzt-