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Ausgabe:

1980

Spalte:

448-449

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Engling, Clemens

Titel/Untertitel:

Die Bedeutung der Theologie für philosophische Theoriebildung und gesellschaftliche Praxis 1980

Rezensent:

Nowak, Kurt

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447

Theologische Literaturzeitung 105. Jahrgang 1980 Nr. 6

448

Lektüre nachverfolgen. Jedenfalls haben hier Bibelwissenschaft
, Lutherforschung und Systematische Theologie ein
Feld aufgeschlossen bekommen, auf dem bisher verborgene
Schätze zur Einbringung in zukünftiges theologisches Denken
aufgedeckt werden.

Ein dem Rez. willkommenes Nebenergebnis ist das zwar
nur beiläufig (82) ausgesprochene Bestätigen der These gegen
Vogelsangs Nachschriftentheorie. Das im Schlußband
der WA neu zugänglich werdende sog. „Vatikanische Fragment
^ wird zur Psalmenbearbeitung von 1516 (und nicht
1518!) zugeordnet. Dafür gibt es vom Philologischen her
dann viele, auch dem Vf. vielleicht nicht an allen Stellen
bewußt gewordene eindeutige Belege.3 Kein anderer Forscher
hat die Psalmenbearbeitung Luthers, die 1516 zwischen
den beiden großen Psalmenvorlesungen liegt, bisher
so genau mit diesen verglichen und analysiert.

„Wenn Luther in der... Widmung der Operationes" erklärt
, seine zweite Psalmenvorlesung unterscheide sich
von der ersten „lang und breit", so ist — wie Raeder in D
„Rückblick" (303 ff.) schreibt - „dieser exegetische Fortschritt
in erheblichem Umfang durch eine bessere Kenntnis
des Hebräischen, verbunden mit einem systematischen Studium
des Grundtextes, bedingt". Die Erfassung „jenes einzigen
, legitimen Schriftsinnes" bringen nicht nur „seine
Bemühungen um das Sprachliche zu voller Auswirkung".
Dazu half entscheidend der große „Humanist Reuchlin"
durch sein 1506 erschienenes Werk De rudimentis Hebraicis,
dessen „grundlegende Voraussetzung für die philologische
Erforschung des Alten Testaments" Luther früh erkannte
und laufend zu Rate zog (303). Aber erst mit Hilfe der Sprachen
, die ihn „sicher und gewiß" (3) im Schriftsinn machten,
hat er das Unchristliche in Theologie und Kirche bekämpfen
können. — Vor dem Literaturverzeichnis und Registerteil
stellt Raeder als „Anhang" (310-320) Summarien über
die Psalmen 1—22 aus Dictata, Vatikanischem Fragment,
Bußpsalmen (1517) und Operationes zusammen. Es ist für
den Vergleich eine nützliche und etwa auch für Übungen
mit Texten aufschlußreiche Quellenarbeit.

Abgesehen von einigen Corrigenda4, sind an diese reife
Arbeit, die gewiß für die angekündigte neue Operationes-
Ausgabe grundlegend bleibt, keine Wünsche zu stellen. Erstaunlich
ist, was sich auch wieder mit diesem Werk zeigt,
welch unerschöpfter Reichtum — nicht nur in gedanklicher
Erkenntnistiefe und seelsorgerlicher Zuwendung, sondern
besonders hier — in der wissenschaftlichen Leistung des
Theologen und Philologen Luther begegnet. Freilich scheint
Raeder das, was Luther mit „Grammatica Theologica"
über „Theologische Philologie" (36) hinausgehend
herauszuholen und zu treffen unternimmt, nicht ausreichend
zu erfassen. Dafür müssen aber auch noch andere Äußerungen
Luthers untersucht werden, als wir hier analysiert bekommen
. Dennoch bietet der berühmte Kommentar, den
Luther mit dem Titel Operationes in Psalmos drucken und
seinen Studenten gleich zugehen ließ, oft Stellen über das
Programm der Wittenberger „theologisch bestimmten Philologie
: grammatica theologica" (34ff.), die zwar berücksichtigt
und in ihrer sprachlichen Form erschlossen sind bis
zu der Feststellung: „Die Sprachanalyse kann nicht von dem
absehen, was im Text zur Sprache kommt. Zur sprachlichen
Form gehört ihr theologisch verstandener Sinn" (36). Aber
für die letzte Erfassung von Luthers Betonen einer
freilich uneigentlich „grammatischen" Denkweise in Theologie
und Verkündigung, für die im Anschluß an
Luther R. Hei mann und G. Ebeling neu Verständnis
eröffnen, hat Raeder, um es freundlich zu sagen, auch in den
Operationes anderen Forschern Material genug belassen.
An dem „Grammatica Theologica"-Programm (WA 5,32,19;
vgl. 27,8) als einem Weg zu einer letztgültigen Sinnerfassung
von Gottes Wort als Sprache und zur Bewegung von hörenden
Menschen zum Handeln und Erdulden, zum Ändern
und Fortführen von Gegebenheiten findet sich noch eine
vieles entscheidende Aufgabe.

Jena Horst Beintker

' Vgl. ThLZ 94, 1969 Sp. 531. Dort Ist Raeders zweite Untersuchung
zur Benutzung des masoretischen Textes bei Luther (= BHTh 38)
von mir besprochen. Die erste Studie über das Hebräische bei Luther
in der ersten Psalmenvorlesung (Dictata) (= BHTh 31) hat der mit
dem Vergleich des hebräischen und griechischen Denkens sehr bekannt
gewordene Osloer Forscher Th. Boman in ThLZ 88, 1963
Sp. 9131 rezensiert.

2 Ich weiß sehr wohl, schreibt Luther in seiner Schritt „An die
Ratsherrn aller Städte deutschen Lands, daß sie christliche Schulen
aulrichten und halten sollen", wie der Hl. Geist „alles alleyne thut";
ich wäre aber dem Ziele lern geblieben, „wo mir nicht die sprachen
geholffen vnd mich der schrifft sicher vnd gewiss gemacht netten.
Ich hette auch wol kund Irum sein / vnd ynn der stille recht predigen
. Aber den Bapst vnd die Sophisten mit dem gantzen Endechristischen
regiment / würde ich wol haben lassen seyn was sie sind"
(zit. nach Raeder S. 31; vgl. WA 15, 42, 22ff). „Der teuftel achtet mey-
nen geyst" nicht so sehr, lügt Luther hinzu, wie meine Sprache und
Feder in der Schritt. „Denn meyn geyst nympt yhm nichts denn
mich alleyn. Aber die heyligen schrifft und sprachen machen yhm
die wellt zu enge" (43,3-6).

3 Daraul kann hier nicht eingegangen werden. Das belegen z. T.
die im Manuskript erstellte Edition und damit zusammengehörige
Beiträge; vgl. den immer noch etwas zu verborgenen ersten
Beitrag darüber: H. Beintker, Zur Datierung und Einordnung eines
neueren Luther-Fragmentes, in WZ (G). GS I, 1951/52, S. 70-78 (auch
bei Raeder S. 82 ungenau angegeben).

' Die vorzügliche graphische Gestaltung und sorgsame Betreuung
durch Verlag, Lektorat und Autor ist recht beachtlich; nur beiläufig
notierte Mängel seien genannt: S. VI 1. Z. II. statt I.; S. 87 Anm. 48
ist die Stelle VF 70,231, Sch mit „moral." versehen. Das ist zu tilgen,
denn weder VF, also Vogelsang, noch die Hs. geben Anlaß lür diesen
Hinweis; S. 144 Anm. 244 wäre ein genauerer Quellenbeleg zu Lyra
wünschenswert; S. 171 Anm. 2 muß WA 5,392,3 statt 302,3 stehen;
S. 324 ist lür Raeders Arbeiten selbst zweimal BHTh statt BHTH zu
setzen, da Abkürzungen nach RGG3 vorzunehmen waren (S. VII);
S. 340 Sp. 4 ist Jeweils zu korrigieren: 3. Z. 114,239 in 1131,239; 6. Z.
116,245 in 1151,245; letzte Z. 210,212 in 110,212; S. 341 Sp. 2 Z. 10: 138,353
in 1371, 353.

Engling, Clemens: Die Bedeutung der Theologie für philosophische
Theoriebildung und gesellschaftliche Praxis. Historisch
-systematische Untersuchungen. Zum Werk Johann
Nepomuk Ehrlichs (1810-1864). Mit einem Anhang.
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1977. 340 S. gr. 8" =
Studien zur Theologie und Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts
, 20. Kart. DM 74,-.

Bei Fries/Schwaiger wird J. N. Ehrlich lediglich zweimal
und nur ganz am Rande erwähnt.1 Um so mehr muß die
Studie Englings begrüßt werden, in der Ehrlich — wohl der
bedeutendste Schüler A. Günthers — erstmals ausführlich
gewürdigt wird. Am breitesten zeichnet der Vf. den fundamentaltheologischen
Ansatz Ehrlichs nach, der „in Reflexion
auf die im menschlichen Selbstbewußtsein, in Geschichte
und Gesellschaft gegebene Offenbarung" (119) gewonnen ist.
Als zentrale Vermittlungsgröße zwischen menschlicher und
göttlicher Wirklichkeit arbeite Ehrlich die Religion heraus.
Unverkennbar sei die Rezeption aufklärerischen Erbes (Ansatz
beim „kreatürlichen Selbstbewußtsein", Korrelation
von Vernunfterkenntnis und Offenbarung, Verkoppelung
von Erlösungsgedanke und Idee der Sittlichkeit), andererseits
auch die Frontstellung gegen den transzendentalen
Skeptizismus Kants wie gegen Hegels Panlogismus. Mancher
Satz Ehrlichs weist ganz in die kirchliche Lehrautorität
zurück. Kirche gilt als lebendiger Ausweis für gegenwärtig
vorhandene Religion und Offenbarung. Geschichte wird als
stufenweise Entfaltung der von Gott gesetzten religiösen
Grunddimension begriffen. Den philosophischen Denker
Ehrlich sieht der Vf. als Güntherianer („begrenzte Eigenständigkeit
" — S. 155), schreibt ihm jedoch ein methodengerechteres
Erfassen des Unterschieds von Theologie und
Philosophie zu. Ausgangspunkt ist auch hier der Mensch, u.
zw. als „ein des Selbstbewußtseins fähiges Reale" (168). In
der Vermittlung des Selbstbewußtseins mit der übernatürlichen
Offenbarungswirklichkeit sei Philosophie für Ehrlich
schon immer christlich bestimmt. Eine duale Wirklichkeitsstruktur
— Natur und Geist — bleibe in Polemik gegen „Monismus
" und „Naturalismus" konstitutiv. In Ehrlichs Sozialtheorie
stellt der Vf. als springenden Punkt personalisti-
sches Geist-Denken heraus. Ehrlich konstruiere seine Sozialethik
als religiös-christlichen Entwurf gegen antike und
humanistische Staats- und Gesellschaftslehren. Positives
Christentum erscheint als Garant von Personalität und