Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1980

Spalte:

438-439

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Jung-Stilling, Johann Heinrich

Titel/Untertitel:

Lebensgeschichte 1980

Rezensent:

Zeller, Winfried

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

437

Theologische Literaturzeitung 105. Jahrgang 1980 Nr. 6

438

Der vorliegende Band enthalt 14 Beiträge — zum Teil Korreferate
—, die sich mit dem italienischen Humanismus (Gert
Schulten : Giovanni Picos Brief über das humanistischchristliche
Lebensideal und seine europäische Rezeption,
7—49; Josef Nolte: Evangelicae doctrinae purum exem-
Plum: Savonarolas Gefängnismeditationen im Hinblick auf
Luthers theologische Anfänge, 59—92), Johannes von Staupitz
(Albrecht End riß : Nachfolgung des willigen Sterbens
Christi, 93—141), reformatorischem Geschichtsverständnis
und Epochenbewußtsein (Hans-Georg Hofacker:
..Vom alten und nüen Gott, Glauben und Ler", 145-177),
Flugschriften im allgemeinen (Konrad Hoff mann : Typologie
, Exemplarik und reformatorische Bildsatire, 189 bis
210; Hella Tompert : Die Flugschrift als Medium religiöser
Publizistik: Aspekte der gegenwärtigen Forschung.
211—221) und der Stadtreformation (Berndt Hamm : Laientheologie
zwischen Luther und Zwingli: das reformatorische
Anliegen des Konstanzer Stadtschreibers Jörg Vögeli
aufgrund seiner Schriften von 1523/24, 222-295; Peter-Johann
S c h u 1 e r : Bischof und Stadt vor Beginn der Reformation
in Konstanz, 300—315; Hans-Christoph R u b 1 a c k :
Politische Situation und reformatorische Politik in der Früh-
Phase der Reformation in Konstanz, 316—334) beschäftigen.
Die Stärke der meisten dieser Untersuchungen beruht darauf
, daß sie von einer überschaubaren Textbasis ausgehen
und diese sorgfältig interpretieren. Dadurch treten die geschichtlichen
Zusammenhänge deutlich hervor. Das kann
aber auch zu einer Engführung werden, die fragwürdige
Beurteilungen zur Folge hat.

Dieses Problem wird in dem Aufsatz von Nolte besonders
deutlich. Er analysiert zunächst die Gefängnismeditationen
des 1498 in Florenz hingerichteten Girolamo Savonarola,
ehe er aufzeigt, welche Gedankenverwandtschaft zu diesem
in Luthers Auslegung der Psalmen 50 (51) und 30 (31) in den
..Dictata super Psalterium" zu finden ist. Nolte vertritt die
Ansicht, daß Luthers Beschäftigung mit Savonarolas Gefängnismeditationen
ihn zu einer Auslegung von Ps 30, 2
(31, 2) geführt habe, die zur Initialzündung der Theologie
Luthers geworden sei (82). Diese Hypothese verbindet Nolte
mit einer Polemik gegen Heinrich Boehmer (nicht Böhmer!),
der durch sein überstarkes Interesse an Luthers Originalität
Savonarola erst zu einem nachträglichen Bundesgenossen
des Reformators gemacht habe (91). Wenn es auch ohne
Zweifel in der evangelischen Lutherforschung zwischen den
beiden Weltkriegen eine Tendenz gab, Luther in bezug auf
seine reformatorische Entdeckung aus dem positiven Zusammenhang
mit der Theologie- und Geistesgeschichte herauszunehmen
, muß eine solche Behauptung wie die von
Boehmer nicht falsch sein. Schließlich bezeugt Luther selbst,
daß er erst nach der Leipziger Disputation manchen Gesinnungsgenossen
entdeckte, der vor ihm gewirkt hatte. Unübersehbar
ist das in seinem Brief vom Februar 1520 an
Johannes von Staupitz, in dem er bekennt, daß er und seine
Anhänger Hussiten gewesen seien, ohne es zu wissen. Damit
scheidet Huß für eine Initialzündung aus. Als Luther Savonarola
erstmals 1520 erwähnt, bezeichnet er die Hussiten als
..viros Catholicos". während er von Savonarola nur vermutet
, daß er unter die „sanetos Christi" gezählt werden müsse
(WA 7. 139. 18-23). Besondere Bedeutung mißt Nolte Luthers
Vorrede zu einer Savonarolaausgabe von 1523 bei, wo
Luther den Florentiner als „Evangelicae doctrinae et Chri-
stianae pietatis purum et pulchrum exemplum" (WA 12, 248.
22 f.) vorstellt. Doch darf bei der Interpretation dieses Textes
nicht übersehen werden, daß es sich um eine Widmungsvorrede
handelt, die als literarische Gattung einen gewissen
rhetorischen Überschwang nahelegt, der keine Offenbarung
einer seit zehn Jahren vorhandenen Abhängigkeit oder
Dankbarkeit sein muß. Werden also Luthers Aussagen über
Savonarola in seine Biographie, speziell in sein Verhalten
zu den sog. Vorreformatoren nach 1519 eingeordnet, legt
sich die von Nolte hergestellte Verbindung nicht nahe.
Trotzdem bleibt sein Beitrag verdienstvoll, weil er auf Gedanken
über die Gerechtigkeit Gottes am Ende des 15. Jh.

hinweist, die in der Lutherforschung sonst nicht beachtet
werden.

Die Untersuchung von Hamm besticht durch ihre nach
vielen Richtungen abwägenden Urteile. Er geht den Einwirkungen
Luthers und Zwingiis auf Vögeli nach und arbeitet
ihre Verbindung als selbständige Laientheologie heraus.
Er beschreibt Vögeli als Angehörigen der Konstanzer Führungsschicht
, der einerseits die Stadtideologie des Mittelalters
in seine Theologie einfließen läßt, aber andererseits
aus Luthers Rechtfertigungslehre individualistische Züge
aufnimmt, die dieser Ideologie entgegenstehen. Durchgängig
zeigt er auf, wo Festhalten an der Tradition oder Wille zum
Umbruch vorliegt, so daß Hamm am überzeugendsten dem
Titel des ganzen Bandes gerecht wird. An einigen Stellen
lassen sich auch seine Ergebnisse noch in einen größeren
Zusammenhang stellen. So beurteilt Hamm es als eine Auswirkung
der Stadtideologie, daß Vögeli den Ratsherren die
Pflicht zuerkennt, sich um das Heil der Bürger auch in geistlichen
Dingen zu kümmern (292). Das war aber keine Besonderheit
der Ratsherren. Seit dem Scheitern der Reformkonzilien
im 15. Jh. strebten alle Reichsstände verstärkt nach
Macht über die kirchliche Verwaltung. Und wie Vögeli seine
städtische Obrigkeit auf die Verantwortung für das Seelenheil
der Untertanen anspricht, tut es Luther im Zusammenhang
mit den Visitationen bei seiner fürstlichen Obrigkeit.
Hier gibt es mehr Gemeinsamkeiten zwischen den Obrigkeiten
der Städte und der verschieden großen Territorien, als
es manchmal unser auf die soziologischen Unterschiede
achtender Blick wahrnimmt.

Dieser Band gewährt Einblick in eine Forschung, von der
eine fruchtbare Bereicherung unserer Kenntnisse über das
Denken und Handeln während des Spätmittelalters und der
Reformationszeit zu erwarten ist. Es ist aber wohl auch an
der Zeit, die Stadtreformation nicht mehr so vorwiegend
auf die reichsfreien und meist größeren Städte mit zum Teil
aufgearbeiteten Quellen zu beschränken, sondern sich auch
kleineren und landesherrlichen Städten zuzuwenden, wenn
man deren Bürger nicht aus der Betrachtung der Problematik
Reformation und Bürgertum ausschließen will.

Leipzig Hclmar Junghans

Kirchengeschichte: Neuzeit

Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Vollständige
Ausgabe, mit Anmerkungen, hrsg. v. G. A. Benrath.
Darmstadt: Wissenschaf tliche Buchgesellschaft 1976.
XXXI, 784 S., 11 Taf. 8°. Lw. DM 63,-.

Dem Hrsg. gebührt aufrichtiger Dank, daß er die „Lebensgeschichte
" Jung-Stillings in einer vorzüglich erarbeiteten
und wissenschaftlich brauchbaren Neuausgabe herausgebracht
hat. Dem Text liegen die zu Lebzeiten Jung-Stillings
erschienenen Ausgaben zugrunde. In den anhangsweise
gebotenen Anmerkungen werden nicht nur textkritische
Fragen erörtert und biographische Angaben beigebracht,
sondern auch alle von Jung-Stilling erfundenen Decknamen
aufgeschlüsselt. Der Leser erhält somit eine sachkundige
Unterrichtung über jene Personen und Stätten, mit denen
Jung-Stilling in seinem Werden und Wirken verbunden
war. Ein besonderer Abschnitt enthält darüber hinaus „Dokumente
zur Lebensgeschichte Jung-Stillings". Der Hrsg.
hat darin wichtige Quellentexte zusammengestellt, die Jung-
Slillings Lebensdarstellung durch weiteres Material ergänzen
. Ein Personen- und Ortsnamenregister, das auch die
Pseudonyma umfaßt, schließt den Band ab. Durch die Wiedergabe
zeitgenössischer Abbildungen, unter denen die
Kupferstiche von Daniel Chodowiecki besondere Erwähnung
verdienen, hat der Band eine wertvolle Bereicherung
erfahren.

In seiner Einleitung hat der Hrsg. vor allem auf die religiösen
Leitgedanken hingewiesen, die Jung-Stillings Den-