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Ausgabe:

1980

Spalte:

432-433

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Müller, Ulrich B.

Titel/Untertitel:

Zur frühchristlichen Theologiegeschichte 1980

Rezensent:

Käsemann, Ernst

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Theologische Literaturzeitung 105. Jahrgang 1900 Nr. 6

432

S. 183-196) und der allgemeinen Paränese in 2,12 (S. 197 bis
208) zuwendet. Die gemeinsame Linie in beiden Abschnitten
ist diese: Das Verhaltenszeugnis des Christen besteht in
seiner nicht erzwungenen Einordnung in die gegebenen gesellschaftlichen
Strukturen, soweit diese nicht dem Willen
Gottes entgegenstehen. Die Exegese der Vfn. zu diesen Partien
ist im allgemeinen ansprechend, wenn auch manche
Einzelauffassung gekünstelt erscheint. So soll z. B. der
„reine" Wandel der Frauen lt. S. 193-196 darin bestehen,
daß — unter dem Vorzeichen des eben angedeuteten Grundsatzes
— in ihrer Ehe sozusagen bejahtermaßen alles beim
Alten bleibt (was für die nichtchristlichen Ehemänner
christlichen Zeugniswert haben soll!), während der IPetr
doch wohl meint, daß die Männer an einem zum Besseren
veränderten Verhalten ihrer Frauen (z. B. im Verzicht auf
Luxus und ausgiebige Toilette) etwas von ihrem Christsein
sollen ablesen können. Überhaupt sieht der IPetr den Unterschied
zwischen NichtChristen und Christen nicht darin, daß
die einen schlechtere ethische Normen hätten als die anderen
, sondern daß erst die Christen den an sich allgemein
gebilligten Normen besser entsprechen: das „befremdet"
die NichtChristen nach 4,3!

Eine ganz andere Betrachtungsweise zeigt sich im Johannes
-Evangelium (Teil C, S. 133-166). Der Evangelist durchdenkt
die Frage, wie „die Verkündigung der Glaubenden"
(in der Einheit von Wort und Tat) „aus dem Wirken Jesu
hervorgeht" (S. 133). In zweifacher Weise führt Joh über
Mt und IPetr hinaus: „Werke" Jesu und „Werke" der Jünger
nach Ostern sind lt. 14,12 direkt aufeinander bezogen
(S. 158ff.); außerdem reflektiert Joh stärker darüber, daß
nicht nur das Verhalten des je einzelnen Christen gegenüber
Außenstehenden, sondern gerade auch ihr Verhalten zueinander
in der Bruderschaft denen „draußen" zum Zeugnis
werden kann.

Am problematischsten bleibt Teil A der Arbeit („Wort
und Tat bei Jesus", S. 11—94), gerade weil er eigentlich die
theologische Begründung für alles Weitere hergeben soll.
In Teil A wird nämlich von Jesu Verhalten im Zusammenhang
mit seiner Botschaft gar nicht gesprochen — vielleicht
vermeidet Vfn. diese an sich „moderne" Betrachtung bewußt
, um einer Verwechslung des Gedankens der Nachfolge
mit dem der Nachahmung vorzubeugen? —; stattdessen handelt
der Abschnitt von Jesu messianischen Taten als Pendant
zu seiner Verkündigung (dies ist auch der Gesichtspunkt
, unter dem — mit nur wenig wechselnden Akzenten —
im Unterteil A II [S. 39—94] das Jesusbild der drei synoptischen
Evangelien noch je gesondert betrachtet wird). Es
werden also im Blick auf Jesus zwei sehr andere Größen
zueinander in Beziehung gesetzt (nebenbei: auf der reichlich
schmalen Basis von drei Texten der Jesustradition) als in
den Teilen B bis D im Blick auf die Christen, deren „Taten"
bzw. eben: deren Verhalten in sich ja gerade nicht Heilstaten
bzw. messianisches „Verhalten" sind bzw. ist. So bleibt
es bei der sehr allgemeinen Aussage, daß es bei dem Verhältnis
von Wort und Tat bei Jesus wie bei dem von Wort
und Verhalten bei den Christen jeweils um die Ganzheit
der Person gehe. Es wird also allenfalls so etwas wie eine
Strukturanalogie aufgezeigt, aber nicht gesagt, inwiefern
das Verhaltenszeugnis der Jünger in dem Heilswerk Jesu
(in Wort und Tat) seinen ermöglichenden Grund hat. Eine
solche Frage wird nicht einmal deutlich gestellt, und über
den kategorialen Unterschied zwischen (messianischen) Taten
Jesu und (ethischem, zwischenmenschlichem) Verhalten
der Christen gleitet Vfn. auf S. 92—94 hinweg, indem die
Rede nahtlos von den „Wundertaten Jesu" als Teil seiner
Verkündigung zum „Verhaltenszeugnis" der Christen überwechselt
. Wenn „im Wirken Jesu die Begründung fürdas
verkündigende Reden und Tun der Jünger" liegt (S. 94),
dann doch gerade nicht in der Art des Wirkens, sondern im
Effekt des Werks Jesu. Eine derartige Einsicht deutet sich
auf S. 91 einmal an, wird aber sogleich wieder verunklart;
Vfn. kommt aus dem exegetischen Ansatz des Teiles A (bei
Mt 11,2-6; Mk 3,1-6 und Mt 8,5-13) nicht wieder heraus.

Übrigens läßt auch die Exegese der eben genannten Texte
z. T. Wünsche offen, da sich Vfn. hier nicht genügend mit
der neueren Literatur (bes. zu Mt 11,2—6 vgl. etwa P. Hoffmann
, Studien zur Theologie der Logienquelle, 1972, S. 190
bis 233, und anderes) auseinandersetzt.

Wenn also die Arbeit auch kaum im Rahmen der aktuellen
Debatte, die ja immer auch als systematisch-theologische
Debatte geführt werden muß, einen weiterführenden Beitrag
darstellt, so hat sie doch ihren Wert in den z. T. anregenden
Exegesen der Teile B bis D, vor allem zum Problemkreis
der Ethik im 1. Petrusbrief.

Naumburg (Saale) Nikolaus Walter

Müller, Ulrich B.: Zur frühchristlichen Theologiegesrhichte.

Judenchristentum und Paulinismus in Kleinasien an der
Wende vom ersten zum zweiten Jahrhundert n. Chr. Gütersloh
: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn [1976]. 103 S.
8°. Kart. DM 26,-.

Straff aufgebaut und auch im einzelnen durchsichtig, behandelt
das Buch an Hand der Johannes-Apokalypse und
der Pastoralbriefe jene in seinem Titel sehr genau inhaltlich,
räumlich und zeitlich genannten Strömungen. Zwei Grundeinsichten
bestimmen die Analyse: 1. Erhebliche Teile des
palästinisch-syrischen Christentums haben sich nach dem
jüdischen Kriege in das paulinische Missionsgebiet geflüchtet
. Die sie auch in Didache, 3Joh und Texten des Matthäus-
Evangeliums repräsentierenden Wanderpropheten stoßen
in den von ihnen vorgefundenen blühenden Gemeinden auf
ihnen fremde theologische Tradition und eine Organisation
mit festen Gemeindeämtern. Trägt der Seher der Offenbarung
ihren Angriff auf das bestehende Christentum vor,
so werden seine Gesinnungsgenossen in den Pastoralen
selber als Irrlehrer angegriffen. Dabei tritt jedoch 2. eine
weitere Front zutage: Kol und Eph machen deutlich, daß
inzwischen auch die paulinische Botschaft fortentwickelt
wurde, u. zw. in Richtung auf eine betont präsentische
Eschatologie, wie sie in extremer Zuspitzung in 2Tim 2.18
oder der von Jud bekämpften Haeresie begegnet. Der Seher
wendet sich gegen einen enthusiastischen und ethisch unbekümmerten
„Heilsperfektionismus", der sich die paulinische
Gnadenlehre zunutzegemacht haben könnte. Aufnahme
finden er und seinesgleichen dort, wo es vorher Ge-
meindoprophetie gegeben hat. Doch ist der Wanderprophet
als Zeuge der Naherwartung, welche, an der Menschensohn-
Christologie orientiert, das Gericht über der satten Gemeinde
wie über heidnischen Verfolgern verkündigen läßt,
im kleinasiatischen Raum ein Fremdkörper. Er bleibt es,
obgleich er den ihn selbst bestimmenden asketischen Rigorismus
für die Gemeinde auf das Mindestmaß im Sinne des
Aposteldekrets mildert. Letztlich geht es um die Nachfolge
Jesu.

In den Pastoralen kommt die andere Seite zu Wort. Das
hier angegriffene Judenchristentum unterscheidet sich vom
Apokalyptiker darin, daß es weder das prophetische Selbstbewußtsein
noch die Naherwartung des Apokalyptikers erkennen
läßt. Doch verzichtet es ebenfalls auf apostolische
Legitimation und vertritt aus Furcht vor Verunreinigung
durch den Götzendienst eine rigorose Askese. Von juden-
christlicher Gnosis sollte man, von der Undeutlichkeit der
Formulierung abgesehen, nicht sprechen, weil kosmischer
Dualismus nicht erkennbar ist. anders als etwa in Kol auch
Gesetz und Engelverehrung nicht verknüpft werden. Erwogen
wird, daß wie bei Papias mündliche Überlieferung eine
gewichtige Rolle spielt, was dazu passen würde, daß Paulus
völlig übergangen wird.

Verwischt das Verfahren typischer Ketzerbekämpfung
hier schärfere Konturen, so gilt das nicht für die Enthusiasten
, welche den extremen Gegensatz zu der ersten Gruppe
bilden. Sie verkörpern jene radikalen Pauliner. welche sich
mit Christus auferstanden wissen und daraus emanzipato-
rische Konsequenzen in der Ethik ziehen. Der Verfasser