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Ausgabe:

1980

Spalte:

374-377

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Wiedenhofer, Siegfried

Titel/Untertitel:

Politische Theologie 1980

Rezensent:

Bassarak, Gerhard

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Theologische Literaturzeitung 105. Jahrgang 1980 Nr. 5

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gentes und präzis durchgeführtes Thema besitzt. Allerdings
kreisen die Darstellung bzw. die Überlegungen des Vf. stets
um den Geschichtsbegriff Bultmanns, und die fundamentale
Bedeutung des Neuen Testaments bzw. der Exegese für
alle theologische Arbeit wird gebührend herausgestellt.

Eine Einleitung (9—19) nimmt den Gedankengang der Untersuchung
skizzenhaft vorweg und stimmt den Leser in die
(im wesentlichen implizite) Kritik innerhalb der folgenden
Darstellung ein.

Kap. l (20-58) befaßt sich mit dem Geschichts- und Theologieverständnis
des jungen Bultmann — ein dankbares Feld
der Forschung. Stegemann zieht manches aus den meist unbekannten
frühen Publikationen Bultmanns ans Licht und
erhellt partiell den Denkweg ,des Marburgers', wie er sich
auszudrücken pflegt (daneben spricht er gerne von ,dem Na-
zarener'), indem er die Wurzeln von Bultmanns späterem
.System' in der frühen Kritik an bestimmten Gedanken der
religionsgeschichtlichen Schule, des Liberalismus und seines
Lehrers Wilhelm Herrmann aufzeigt. Er stellt mit Recht
fest, daß sich bei Bultmann bereits 1920 „ein Grundgerüst
.dialektischer' Theologie" findet (21). Freilich ist es mißlich,
den jungen Bultmann' „bis zum Jahre 1924" zu datieren
und danach — in der Begegnung mit Heidegger — wesentlich
Neues bei ihm zu entdecken. Mißlich nicht nur, weil Bultmanns
Begegnung mit Heidegger früher anzusetzen ist —
Bultmann schreibt am 23.12.1923 an Hans von Soden im
Blick auf sein laufendes Seminar: „Das Seminar ist für mich
diesmal besonders lehrreich, weil unser neuer Philosoph
Heidegger, ein Schüler Husserls, daran teilnimmt... Es war
mir interessant, daß Heidegger — auch sonst mit der modernen
Theologie vertraut und besonders ein Verehrer
Herrmanns — auch Gogarten und Barth kennt und besonders
den ersteren ähnlich einschätzt wie ich" —; mißlich vor
allem, weil Stegemann Bultmann durchgehend den bekannten
Vorwurf macht, seine existentiale Analyse des menschlichen
Daseins sei philosophischer Herkunft und schränke
das theologische Verstehen entscheidend ein. Aber Bultmanns
Geschichtsbegriff war schon vor der Begegnung mit
Heidegger im wesentlichen ausgebildet, wie u. a. die Tatsache
zeigt, daß Bultmann zu Anfang der Begegnung mit
Heidegger diesem das (einschließlich des Vorworts!) fertig
vorliegende Jesusbuch vorlas (brieflich). Bultmann hat in
Heideggers existentialer Analytik des Daseins das neutesta-
mentliche Verständnis vom Menschen wiedererkannt und
sich in hermeneutischer Abzweckung der Heideggerschen
Begrifflichkeit bedient.

Kap. 2 behandelt „Bultmanns existential-ontologische Begründung
der Einheit von Theologie und Exegese". Das Kapitel
kreist also um hermeneutische Probleme, um das Verhältnis
von Geschichte und Geschichtlichkeit, um existen-
tiales Verstehen und existentielles Einverständnis, um das
Verhältnis von historischer Kritik und existentialer Interpretation
. Es kulminiert in der Feststellung, die Bultmanns
Theologie leitende existentiale Analytik des Daseins führe
zu einer „Reduktion des gesellschaftlich-geschichtlich wirklichen
Menschen auf eine durch den .Willen' ausgezeichnete
transzendentale Subjektivität", die durch die „wirtschaftlichen
, sozialen, politischen und kulturellen Einrichtungen"
nicht wesentlich tangiert würde (83. 89). Bultmann hat diese
seit längerem geläufige Kritik (mit Recht!) als Mißverständnis
seiner „existentialen Interpretation bzw. der ihr zugrunde
liegenden Analyse des menschlichen Seins" angesehen
(,In eigener Sache', G. + V. III, 184), und es verwundert
, daß Stegemann nicht wenigstens versucht, solche und
entsprechende Äußerungen Bultmanns als Selbstmißverständnis
,des Marburgers' aufzuweisen.

Im 3. Kap. (116—147; 148-160 enthalten die Anmerkungen)
geht es einerseits um den theologischen Primat der Exegese
im Zusammenhang mit Bultmanns Schrift- und Offenbarungsverständnis
, andererseits um „Erwägungen zur Chri-
stologie Bultmanns". Diese .Erwägungen' setzen beim Problem
.historischer Jesus' und .kerygmatischer Christus' ein
und weisen mit Recht auf die Aporie hin, in die Bultmann

mit seiner Kerygma-Theologie angesichts des Vorhandenseins
kirchlicher Uberlieferung vom historischen Jesus gerät
. Stegemann diskutiert dies Problem freilich nicht aus und
erkennt deshalb nicht, daß es sich um eine historische bzw.
traditionsgeschichtliche (und entsprechend zu überwindende
), nicht aber um eine theologische Aporie handelt, für die
er sie hält, um auf dem Wege über „das im christologischen
Kerygma zugemutete ,vere homo'" (146) die bei Bultmann
angeblich entleerte volle .Wirklichkeitserfahrung' in die
Theologie einzuholen. Um welche Wirklichkeit es sich dabei
konkret handelt und wie mit ihr theologisch verfahren werden
soll (bzw. wie sie theologisdi sichtbar wird), verrät der
Vf. freilich nicht, so daß seine Kritik Bultmanns blaß bleibt.
Die historische Exegese, wie Bultmann sie betrieben hat,
zwingt ja durchaus dazu, alle „Faktoren einer geschichtlichgesellschaftlichen
Lage zu analysieren" (18), u. zw. sowohl
beim antiken Autor wie beim gegenwärtigen Hörer, und
wer Bultmanns ethischen Ansatz nicht so mißversteht, wie
es jüngst H. E. Tödt in einem Essay über .Rudolf Bultmanns
Ethik der Existenztheologie' (1978) getan hat, kann keinen
Zweifel daran haben, daß das Kerygma eine auch Gesellschaft
und Natur umgreifende (.Marburger Predigten', 60 ff.)
„geschichtliche Macht" ist (G. + V. III, 184).

Indessen scheint Stegemann seine Kritik an Bultmann radikaler
zu meinen, wenn er in Aufnahme von Bultmanns
hermeneutischem Grundsatz, jeder theologische Satz sei ein
Satz über den Menschen und umgekehrt, den ,wahren Menschen
' zum Geheimnis der Theologie machen möchte. Daß
mit dieser an Feuerbach erinnernden Aufstellung die „ursprüngliche
Intention Bultmanns" wiedergewonnen würde,
ist freilich eine groteske Behauptung. Indessen mißversteht
der Rez. möglicherweise die Andeutungen des Vf., dessen
Ausführungen in den umfangreichen Partien seiner Arbeit
klar und verständlich sind, in denen er Bultmann zitiert
und paraphrasiert, die aber in der Kritik jener Deutlichkeit
ermangeln, die allein eine präzise Position oder wenigstens
eine gründliche Auseinandersetzung mit anderen Versuchen
der Interpretation oder Kritik zu geben vermag. Beides
fehlt dieser Dissertation leider in ausreichendem Maße.

Wer Bultmanns Theologie kennt, wird in diesem Buch
nicht viel Neues erfahren; wer Anleitung zu überzeugender
Kritik sucht, wird das Buch mit einiger Enttäuschung aus
der Hand legen.

Berlin Walter Schmithals

Wiedenhof er, Siegfried: Politische Theologie. Stuttgart —
Berlin - Köln - Mainz: Kohlhammer [1976]. 148 S. 8°.
Kart. DM 19,80.

Die schöne Arbeit geht auf einen Vortrag zurück, den der
Autor in Vertretung von Professor Ratzinger vor oberitalienischen
Theologen gehalten hat. „Mit dieser Tagung", so
heißt es im Vorwort, „sollte die ... Aktualisierung alter kultureller
Zusammenhänge zwischen der Region Veneto und
dem bayrischen Raum auch in der Form des theologischen
Gesprächs aufgenommen werden." In einer konzentrierten,
dichten Sprache wird auf knapp 60 Seiten der Gegenstand
abgehandelt. Es folgen 45 Seiten Anmerkungen, 30 Seiten
Literaturverzeichnis und je ein Sach- und Personenregister.

Die Arbeit beschränkt sich auf die deutschsprachigen katholischen
und evangelischen Entwürfe seit 1965. Der Autor
trägt der Meinung Rechnung, „daß sich die Sache totgelaufen
habe" (9) und hält deshalb eine Zusammenfassung für sinnvoll
. Er sieht zwei Phasen; die erste dauert von 1965 bis 1969,
die zweite bis 1975. Eine traditionelle „politische Theologie"
gilt als überholt, die für die Theologisierung der Politik und
die Politisierung der Theologie verwendet wurde. (Vorabendländisch
der griechisch-römischen Antike als Legitimation
politischer Ordnung dienend, nach Konstantin christlich
rezipiert „von der Reichstheologie des Eusebios ... bis
hin zur deutschen Kriegstheologie zwischen 1870 und 1918 ...
bis ... hin zu den theologisch-politischen Theorien, die in
der Wende von 1933 und im Anbruch der nationalsozialisti-