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Ausgabe:

1980

Spalte:

318-320

Kategorie:

Referate und Mitteilungen über theologische Dissertationen und Habilitationen in Maschinenschrift

Autor/Hrsg.:

Zehrer, Karl

Titel/Untertitel:

Die evangelischen Freikirchen und das "Dritte Reich" 1980

Rezensent:

Zehrer, Karl

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Theologische Literaturzeitung 105. Jahrgang 1980 Nr. 4

318

Am „Wesen des Christentums'' (Teil C) wird erwiesen, daß
und wie bei Feuerbach diese Möglichkeit zur Wirklichkeit
wird: (1.) Der gesamten christlich-abendländischen Geschichte
des Geistes wird von ihm der atheistische Zusammenhang von
Forderung nach Verwirklichung menschlicher Freiheit und
absoluter Maßstäblichkeit des Menschen durch eine „Hermeneutik
des Unbewußten" unterstellt, die ein Wissen um den
Widerspruch dieses Verständnisses zum Verstandenen voraussetzt
. (2.) Die derart verstandene Geschichte wird zwar als
im Grunde atheistische bejaht, aber als formal und material
in falscher Weise atheistische radikal kritisiert; die Reduktion
Gottes auf das Wesen des Menschen ist deshalb einerseits die
Reduktion Gottes auf eine falsche Selbstauslegung des Wesens
des Menschen, andererseits die Reduktion eines depotenzierten
Gottes auf das wahre, naturalisierte, an das Maß der Natur
zurückgebundene Wesen des Menschen. (3.) Der wahre Atheismus
und mit ihm die wahre These vom Menschen als absolutem
Maß aller Dinge soll zwar als notwendige Konsequenz
der christlich-abendländischen Geschichte bewiesen werden;
aber der Beweis erweist sich - auch im Fall des metaphysischen
Gottesgedankens, der hier Rahmen des christlichen ist!

- als inakzeptabel, da bestimmt durch einen circulus vitiosus.
Weil auch die späteren Versuche, das atheistisch-anthropoio-

gistische Prinzip zu begründen, von diesem circulus vitiosus
bestimmt bleiben, wird auf die Untersuchung der Modifikationen
dieses Prinzips in den späteren Schriften verzichtet.
Statt dessen wird nach Feuerbachs philosophischen Anfängen
gefragt, um dieses Prinzip als Konsequenz seiner eigenen Dcnk-
geschichte verständlicher zu machen: seine bisher kaum auch
nur annähernd gründlich untersuchten Frühschriften von 1828
und 1830 werden eingehend untersucht (Teil D und E). Diese
Untersuchung ergibt vor allem:

(1.) Feuerbachs lateinische Dissertation beziehungsweise Habilitation
, die von der Forderung nach Verwirklichung der einen,
allgemeinen und unendlichen Vernunft geleitet ist, ist zwar
bestimmt durch die unhegelische, abstrakt subjektivitätskri-
tischc Verwerfung des „homo mensura", das mit einem „homo
singularis i. e. individuum mensura" identifiziert und dem abstrakt
ein „veritas mensura" entgegengesetzt wird. Aber das
„homo mensura" ist als „genus humanum mensura" in der
Gestalt des „cogitatio mensura" nicht nur präsent, sondern gerät
- insbesondere aufgrund einer Krise im Verhältnis von
Logik und Metaphysik und einer einseitigen Orientierung an
der Einheit aller Menschen im Denken - in verborgenen Widerstreit
mit dem „veritas mensura". Zudem bleibt die geforderte
Verwirklichung der Vernunft aufgrund der Krise im Verhältnis
von Logik und Metaphysik sowie einer unhegelischcn
negativen Fixierthcit auf die Sinnlichkeit und (empirische) Einzelheit
, die trotz ihrer unmittelbaren Vermittlung mit dem Allgemeinen
diesem abstrakt entgegengesetzt bleibt, in sich apo-
retisch.

(2.) In den „Gedanken über Tod und Unsterblichkeit" werden
diese Aporien einerseits durch die Wiedereinführung des Gottesgedankens
, und zwar eines pan-theistischen Gottesgedankens
bestimmter Prägung, andererseits durch die teilweise Preisgabe
der negativen Fixierthcit auf die Sinnlichkeit und empirische
Einzelheit und eine entsprechende Bejahung des Individuums
bewältigt. Aber diese Schrift ist zugleich in einer Weise
widersprüchlich, daß sie - nicht zuletzt aufgrund der Katastrophe
des allein noch als wahr behaupteten Gottesgedankens

- deutlich zu einer Schlichtung ihrer Widersprüche durch die
später ausdrückliche These vom naturalisierten, an das Maß
der Natur zurückgebundenen Menschen als dem absolut absoluten
Maß aller Dinge hin tendiert. - Der insbesondere theologisch
wichtige Erweis dessen, daß, warum und wie Feuerbach
in dieser Schrift vor der Preisgabe der spekulativ-idealistischen
Grundvoraussetzungen im Unterschied zu Hegel mit dem neuzeitlichen
Christentum zugleich das Wesen des Christentums
radikal kritisiert und zugleich bewahrt (verwirklicht), macht
Feuerbachs spätere Hermeneutik des Unbewußten als eine
„Hermeneutik der Verweigerung" verständlicher, die ausführlich
erläutert und von Hegels Hermeneutik des Christentums
abgegrenzt wird.

Sofern in diesen Untersuchungen verschiedentlich nachgewiesen
wird, daß Feuerbachs philosophische Anfänge von einer mehr
oder weniger bewußten Umorientiemng gegenüber dem Denken
Hegels bestimmt sind, ist Feuerbachs späterer Weg nicht
mehr einfach als Konsequenz einer mißglückten Hegelrezeption
oder eines Mißverständnisses Hegels bereits im Ansatz
(P. Cornehl) zu begreifen. Diese Umorientierung wäre - das
wird hier verschiedentlich thetisch formuliert - durchaus auf
Aporien im Denken Hegels zurückzubeziehen, und sie setzt -
das wird hier verschiedentlich erwiesen - ein zwar immer
pervertiertes, aber nicht zu bestreitendes theologisches Gespür
voraus.

Indem Feuerbachs Werk sich auch und gerade mit seiner
radikalen Kritik am Christentum als sich selbst kritisierend erwies
, kann auf seine theologische und philosophische Kritik
verzichtet und es abschließend nur als nützlicher Hinweis auf
Gefahren durchaus nicht bloß der Theologie verstanden werden
(Teil F).

Zehrer, Karl: Die evangelischen Freikirchen und das „Dritte
Reich". Diss. B Leipzig. 1978. 710 S.

Untersucht ist das Verhältnis von mehr als 15 cvangelischtn
Freikirchen Deutschlands zum NS-Staat. Da die Mehrheit dieser
Kirchen seinerzeit der Vereinigung evangelischer Freikirchen
oder der Vereinigung lutherischer Freikirchen angehörte, fand
neben der offiziellen Haltung der einzelnen Kirchen auch diejenige
dieser beiden Vereinigungen Berücksichtigung. Punktuell
wurde auch auf solche Freikirchen eingegangen, die sich
in irgendeiner Weise mit der Deutschen Evangelischen Kirche
verbunden hatten und in denen es daher Entwicklungen gab,
die noch besonderer Untersuchungen bedürfen. Da die evangelischen
Freikirchen bis in die jüngste Zeit hinein in ihren
wissenschaftlichen wie auch populärwissenschaftlichen Selbstdarstellungen
(vgl. die Reihe „Die Kirchen der Welt" im Evan-
gel. Verlagswerk Stuttgart, sowie Hans-Beat Motel, „Glieder an
einem Leib", Konstanz 1975 und das als Nr. 233 erschienene
Siebenstern-Taschenbuch „Was glauben die anderen?", Gütersloh
1977) auf ihre Geschichte in den Jahren 1933-45 sovicr
wie nicht eingehen, und es auch - abgesehen von einigen
punktuellen Ausführungen in bestimmten Abhandlungen über
den cvangel. Kirchenkampf (so bei Armin Boyens, „Kirchenkampf
und Ökumene 1933-39") - bisher noch keine anderen
kritischen Untersuchungen über die evangelischen Freikirchen
während der Zeit der NS-Herrschaft gibt, wird mit der Abhandlung
nicht nur eine Lücke in der sog. „Dritten-Reich-Forschung
", sondern auch in der Kirchcngeschichtsschreibung geschlossen
. Sic beseitigt einerseits viele Unklarheiten und möchte
andererseits dazu helfen, daß auch dieses Stück jüngste Kirchengeschichte
nicht einfach verdrängt, sondern in ökumenischer
Gesinnung bewältigt wird.

Im Unterschied zu den evangelischen Landeskirchen und auch
der katholischen Kirche waren die evangelischen Freikirchen
Deutschlands bekanntlich niemals staatlich privilegiert. Sie
verstanden sich auch nicht als Nachwuchs-, sondern vorwiegend
als Zuwachskirchen. Von jeher forderten sie vom einzelnen
Kirchcnglied ein entschiedenes Engagement. Fast durchweg
unterhielten sie sich von freiwilligen Spenden ihrer Angehörigen
. Viele von ihnen besaßen ausgezeichnete Verbindungen zu
Mutter- und Schwesternkirchen außerhalb des damaligen Deutschen
Reiches. Einige waren sogar institutionell mit diesen
Kirchen verbunden. Schon aus diesen Gründen befanden sich
alle diese Kirchen in einer grundsätzlich anderen Situation als
die evangelischen Landeskirchen, über deren Verhältnis zum
„Dritten Reich" Untersuchungen von Kurt Meier vorliegen
(„Der cvangel. Kirchenkampf", bisher Bd. I und II).

Es wird nachgewiesen, daß die evangelischen Freikirchen -
obgleich sie teilweise recht abweichende theologische Standpunkte
vertraten - eine relativ einheitliche Haltung dem NS-
Staat gegenüber einnahmen. Keine von ihnen hatte jemals
ernsthafte Differenzen mit ihm. Es war aber auch keine mit
dem Nationalsozialismus oder dem von ihm beherrschten Staat