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Ausgabe:

1980

Spalte:

275-277

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Oberlinner, Lorenz

Titel/Untertitel:

Historische Überlieferungen und christologische Aussage 1980

Rezensent:

Merkel, Helmut

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275

Theologische Uteratuxzeitung 105. Jahrgang 1980 Nr. 4

27»!

gen", die nicht von seinem Tod zu lösen sind. An der Didachc,
an Jakobus, Paulus und Mattäus (sie!) wird gezeigt, wie in
je verschiedener „Hermeneutik Jesu", aber in sachlich doch
ähnlicher Richtung Jesusworte bei den einzelnen neutestament-
lichen Autoren weiterwirken. In „Tiefendimensionen des Sprechens
" gibt es in fast allen Teilen des NT „überraschende Entsprechungen
" zu den „Sprachhandlungen" Jesu, für die es ein
angemessenes „Organum" zu erarbeiten gilt. Von daher begreift
T. abschließend das NT insgesamt als „Antwort" auf das Wort
Jesu und stellt weiterführende Erwägungen zum Thema der
„Mitte" des NT, zur „Sachkritik" und zum Problem der „Tradition
" an. Das Ganze ist ein interessanter Versuch, die Grenzen
der klassischen historisch-kritischen Methodik zu transzen-
dicren, sachlich eine notwendige Konsequenz aus der Überzeugung
des Autors, daß Jesus selbst „den Ausgang und das Fundament
des christlichen Glaubens und Zeugnisses" bildet (9).

Man kann den Autor nur zu dem Mut beglückwünschen, in
einer Zeit der Überspezialisierung der Exegese auch Unabgc-
schlossencs, aber Weiterführendes zu Grundfragen der Botschaft
Jesu zur Diskussion zu stellen. Eigentlich schade ist, daß
die abschließend beigegebene Ostcrpredigt nur von ferne ahnen
läßt, daß sich für T. auch die nicht ausdrücklich behandelte
Osterthcmatik in seine dargelegte Grundposition einfügen läßt.

Greifswald Günter Haufe

Oberlinner, Lorenz: Historische Überlieferungen und christo-
logische Aussage. Zur Frage der „Brüder Jesu" in der Syn-
opse. Stuttgart: Kath. Bibel werk [1975]. XI, 396 S. gr 8° =
Forschung zur Bibel, 19. Kart. DM 64,-.

Die Beurteilung der neutestamentl. Aussagen über Brüder
und Schwestern Jesu - leibliche Geschwister oder „nur" Vettern
und Basen? - wird bis heute fast ausnahmslos durch die
konfessionelle Zugehörigkeit des Exegeten bestimmt. Die aus
der Schule Anton Vögtles stammende und von der Katholisch-
Theologischen Fakultät der Universität Freiburg angenommene
Dissertation von Lorenz Oberlinner greift diese festgefahrene
Diskussion noch einmal auf, beschränkt sich aber erfreulicherweise
nicht auf das Hin- und Herschieben alter Urteile, sondern
bringt einen methodologisch klaren Neuansatz, der zur
Überwindung der alten Fronten helfen kann.

Der 1. Teil der Arbeit bietet eine kenntnisreiche und scharfsinnige
„Darstellung und Kritik bisheriger Lösungsversuche in
der Hcrrenbrüder-Frage" (10-148). Mit Recht rügt O., daß
evangelische Forscher meist allzu selbstverständlich auf die
historische Zuverlässigkeit der synoptischen Berichte vertraut
haben; aber auch die mancherlei apologetischen Winkelzüge
und Harmonisierungen katholischer Gelehrter (bis hin zu
J. Blinzler) werden eingehend geprüft und abgewiesen.

Dieser höchst instruktive Forschungsbericht zeigt die Berechtigung
des O.sehen Vorgehens: Er will vor alle historisch-
biographische Fragestellung „die voraussetzungslose Erarbeitung
der Aussageabsicht des Evangelisten in der von ihm übernommenen
, evtl. redaktionell gestalteten und in sein Evangelium
] eingefügten Perikope" stellen; „damit notwendig verbunden
ist eine Analyse der vormk Traditionsstufc" (8).

Der 2. Teil der Arbeit gilt der exegetischen Untersuchung jener
markinischen Perikopen samt ihrer synoptischen Parallelen, die
von Brüdern und Schwestern Jesu handeln: Mk 3, (20f) 31-35;
6,l-6a (149-354).

Da der Abschnitt Mk 3,20-35 vom Evangelisten zweifellos
als Einheit aufgefaßt wurde, bezieht O. die vielfach für Urgestein
der Überlieferung gehaltenen Verse 3,20f in die Untersuchung
ein. Auf Grund einer sorgfältigen Analyse kommt O.
zu dem Ergebnis, diese Verse seien eine reaktionclle Überleitung
des Evangelisten. Ist diese These auch nicht völlig neu1,
so hat doch erst O. sie überzeugend begründet. Historische
Überlieferung über die Angehörigen Jesu ist hier also nicht zu
finden. Dasselbe gilt für die Einheit Mk 3,31-35. Sie erweist
sich als nur leicht redaktionell überarbeitetes vormarkinisches
Überliefcrungsstück, dessen Erzählintcntion der Konstituierung

der „wahren Familie" Jesu gilt. „Das natürliche Verhältnis von
Mutter, Bruder und Schwester wird übertragen auf die .neue
Familie', die sich zusammensetzt aus denen, die den Willen
Gottes tun . . ." (191). Für die historische Rückfrage ist der Text
keine sichere Grundlage, da nicht feststellbar ist, „inwieweit
historische und biographische Aussagen und Rücksichten, Wissen
um die geschichtlichen Daten, und schließlich die Absicht
historiographischer Treue als maßgebliche Kriterien zugrunde
gelegt werden dürfen" (206). Der Evangelist Mk freilich hat
„an kaum jemand anders gedacht ... als an leibliche Brüder
Jesu" (239).

Die Analyse von Mk 6,l-6a schließlich, in ständigem Gespräch
mit E. Gräßcrs grundlegender Arbeit2 durchgeführt,
führt nach Abhebung relativ starker markinischer Überarbeitung
(V. la.c; 2c,-4; 6a gehen auf den Evangelisten zurück)
zur Rekonstruktion einer geschlossenen vormarkinischen Erzähleinheit
. Ihr Thema ist die Frage nach der Vollmacht Jesu,
„und zwar in Verbindung mit der Problematik seiner seinem
Anspruch diametral entgegengesetzten .Menschlichkeit', die den
Bewohnern seiner Heimatstadt Anlaß zu ihrem ablehnenden
und ungläubigen Verhalten gibt. Jesus als Mensch - ein Thema,
das nicht schamhaft verschwiegen werden soll, sondern dem
sich jeder stellen muß . . "(325). Da die Perikope „gerade die
volle Menschlichkeit Jesu, sein durch die menschlichen Bindungen
ausgewiesenes ,Sein-wic-wir'" aussagen will, will sie sicherlich
leibliche Brüder Jesu aussagen (334); für die tradierende
Gemeinde darf „das Wissen um leibliche Brüder Jesu zugrunde
gelegt werden" (338); an anderer Stelle spricht O. von einem
„begrenzt biographische[n] Interesse" der Überlieferung, das
auch für den Evangelisten gelte (345). Die These, Mk polemisiere
gegen die Familie Jesu oder gar gegen die Jcrusalcmer
Urgemeinde, wird überzeugend zurückgewiesen (346ff).

Man wird der Arbeit O.s ein Höchstmaß an Sorgfalt und Umsicht
im Umgang mit Quellen und Sekundärliteratur bescheinigen
können. Die Ausführungen zu Mk 3,20f. 31-35 haben den
Rez. überzeugt. Fragen bleiben zu Mk 6,l-6a. Die Annahme,
erst Mk habe die freie Sentenz V.4 eingefügt, ist zwar ein nütz
liches - wenngleich nicht alleiniges - Argument gegen Bultmanns
These, die Perikope sei eine aus dem Logion hcraus-
gesponnene „ideale Szene", aber sie ist nicht ausreichend begründet
. Leider stellt O. nicht die Frage nach der gattungsgeschichtlichen
Einordnung seiner rekonstruierten Einheit -
ohne deutendes Jesuswort sehe ich keine rechte Möglichkeit
dazu. Auch die allgemein vertretene literarkritischc These, V. 5b
sei ein den Mißerfolg Jesu abschwächender Zusatz des Evangelisten1
, wird von O. nicht wirklich widerlegt. Tiefsinnige
theologische Deduktionen (der Mensch könne „bei aller Ablehnung
Gott nicht die Initiative nehmen" [317]) sollten der Lite-
rarkritik fernbleiben. Natürlich kann man auch jedem redaktionell
überarbeiteten Text einen (erträglichen oder sogar tiefen
) Sinn abgewinnen.

Dieser - nicht die Hauptthesen betreffende - Dissens signalisiert
die Schwierigkeiten, in die unsere literarkritischen Bc
mühungen am ältesten Evangelium immer wieder geraten.
O. selbst gibt das etwa im Fall von Mk 3,34 zu erkennen: Aus
sprachlichen Gründen könnte dieser Vers redaktionell sein, um
des symmetrischen Aufbaus der Perikope willen hält er ihn
dennoch für traditionell. Ähnliche Abweichungen vom wort-
statistischen Befund erlaubt sich O. mit erwägenswerten, aber
keineswegs voll beweiskräftigen Argumenten auch an anderen
Stellen (246f, 296).

Über die subtile Exegese der drei markinischen Texte hinaus
hat die vorzügliche Untersuchung O.s noch ein sehr bedenkenswertes
grundsätzliches Ergebnis, daß nämlich - um den Obcr-
titel des Buches zu modifizieren - historische Überlieferung
als christologische Aussage dient. Das Kerygma ist nicht im
luftleeren Raum entstanden, sondern hat seinen Haftpunkt am
irdischen Jesus.

Erlangen Helmut Merkel

1 O. setzt sich mit seinem Vorgänger J. D. Crossan (NovTest 15. 1973. 81ff)
auseinander; H.-H. Schroeder, Eltern und Kinder in der Verkündiiiunq Jesu.
1972, HOff, hat er trotz seiner immensen Belesenheit übersehen.