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Ausgabe:

1980

Spalte:

237-238

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Lück, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Praxis Kirchengemeinde 1980

Rezensent:

Winkler, Eberhard

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Seite 1

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237

Theologische Literaturzeitung 105. Jahrgang 1980 Nr. 3

238

nicht nur die Theologen, Pfarrer und Kirchenjuristen) an der
Erörterung dieses Themas teilnehmen. So wollen es jedenfalls
die Initiatoren dieses „Arbeitsbuches". Dieser Einladung zum
Gespräch entspricht dann auch der erste Teil des Buches (bis
S. 148), der u. a. Problemskizzen, Zitate aus der Literatur mit
weiterführenden Gesichtspunkten, Denkanstöße und Literaturhinweise
bietet; die Denkanstöße sollen vor allem helfen, das
Gespräch in der Gruppe anzuregen. Die geschickte graphische
Gestaltung tut ein übriges, um den Gebrauch des Arbeitsbuches
zu erleichtern.

Der zweite Teil (149—274) verrät den genauen Hintergrund,
auf dem der Eingangsteil zu sehen ist: die Synode der EKD,
die im November 1975 in Freiburg unter dem Thema „Kirche
zwischen Auftrag und Erwartungen" zusammentrat. Hier finden
wir demzufolge wichtige Dokumente abgedruckt, die vor
und während der Synode entstanden sind und die zeigen, wie
das Unbehagen an der Volkskirche immer in Korrespondenz
steht mit den Chancen dieser geschichtlich gewordenen ek-
klesialen Existenzform. Da ist einmal der Auftrag, an den sich
diese Kirche als corpus Christi gebunden weiß und den sie
erfüllen möchte. Ihm steht oft die andersartige Erwartung des
corpus Christianum gegenüber. Aber bereits diese Unterscheidung
findet-ihre Kritiker, zumal die Kirche ständig ein corpus
permixtum ist und bis zum Jüngsten Tage bleibt. Fragen über
Fragen werden jedenfalls laut und auch gestellt: Wem soll
es diese Kirche rechtmachen? Wie soll sie sich verhalten?
Welche Erwartung kann die Kirche erfüllen, wo sie doch von
der Erfüllung ihrer Erwartungen durch Christus lebt?

Dieser zweite Teil schließt mit dem „Wort der Synode der
Evangelischen Kirche in Deutschland an die Gemeinden". In
ihm wird der Wunsch ausgedrückt, „mit uns an diesem Thema
weiterzuarbeiten" (271). Das „Arbeitsbuch", das drei Jahre
später erschienen ist, erfüllt in seiner spezifischen Weise diesen
synodalen Wunsch, indem es alle wesentlichen Gesichtspunkte
zu dieser Thematik im Pro und Kontra aufnimmt und zur
Erweiterung des Problembewußtseins beiträgt. Zu korrigieren
'ist auf S. 104 das Jahr der Weltkirchenkonfer'enz von
Stockholm (1925 statt 1915).

Leipzig Gottfried Kretzschmar

Lück, Wolfgang: Praxis: Kirchengemeinde. Stuttgart—Berlin—
Köln-Mainz: Kohlhammer [1978]. 144 S. 8° = Kohlhammer
Urban-Taschenbücher, 642: T-Reihe. Kart. DM 12,—.

Lück stellt das Verständnis der Ortsgemeinde als Gemeinschaft
in Frage, indem er historische Beobachtungen, eigene
Erfahrungen als Pfarrer in Wiesbaden und Ergebnisse der
Umfrage „Wie stabil ist die Kirche?" auswertet. Im Leitmotiv
der Gemeinschaft sieht er eine Gefährdung der Offenheit und
zugleich der Einheit der Gemeinde. Die Mehrheit der Mitglieder
könnte durch den Ausschließlichkeitsanspruch bestimmter
Gemeindcmodelle heimlich exkommuniziert werden. Lück
setzt dagegen den Charakter der Kirche als einer für verschiedene
Positionen offenen und kommunikationsfähigen
Heilsanstalt. Die Theorie der Kirchgemeinde muß von der Gesamtheit
aller Getauften ausgehen. Dann sind unterschiedliche
Einstellungen und Erwartungen nicht nur zu akzeptieren, sondern
zu fördern, indem Artikulationshilfen angeboten werden,
die einen Dialog ermöglichen. So soll sich die Kirchgemeinde
als konziliare Gestalt von Kirche am Ort verwirklichen.

In der Differenzierung und im Beieinander verschiedener
Ausdrucksformen und Aspekte liegen Chancen der Kirchgemeinde
. Unter gesellschaftlich-universalem Aspekt kommt
die Suche nach einer Gesamtschau der Wirklichkeit zur Geltung
. Sie darf nicht als Bevormundung der Gesellschaft mißverstanden
werden. Der Gottesdienst gehört zu den öffentlichen
Veranstaltungen der Kirche, leidet aber unter exklusiven
Faktoren. Das verstehende Hören bei Hausbesuchen ist
eine Voraussetzung dafür, daß es zum verstehenden Reden im
Gottesdienst kommt. — Unter persönlich-universalem Aspekt
ist eine „lebenszyklisch aktualisierte Kirchlichkeit" zu beobachten
, deren Bezugspunkt die Familie ist und der besonders die
Amtshandlungen dienen. In der Familie, die »nach wie vor
der bedeutsamste Sozialisationsagent in Sachen Glauben und
Christentum" ist, findet Lück eigenständige theologische Traditionen
, die oft von der offiziellen Lehrentwicklung unberührt
blieben. — Unter persönlich-partikularem Aspekt beschreibt
Lück das Bedürfnis kritischer Mitglieder nach einem individuell
verantworteten Lebensstil. Für diese Gruppe ist der Pfarrer
„Bürge", der die christliche Tradition persönlich darstellen
und durch sein Leben in ihrer Bedeutung erkennbar machen
soll. — Unter gesellschaftlich-partikularem Aspekt werden
schließlich die Mitglieder gesehen, die in der Gesellschaft
irgendwie zu kurz kommen. Leider zieht der Vf. daraus den
Schluß, das Interesse dieser Mitglieder sei nur vordergründig
christlich (109). Dieses abwertende Urteil ist zwar verbreitet,
widerspricht aber dem Bemühen des Autors, den verschiedenen
Gruppen gerecht zu werden.

In der Komplexität der Gemeinde sieht Lück zwei verbindende
Faktoren: die Gemeinsamkeit derer, die sich als evangelisch
verstehen und damit ihr Christsein unter dem Vorzeichen
der Freiheit sehen, sowie die Hochschätzung des Pfarrers
als Integrationsfigur der Kirchgemeinde. Der Pfarrer ist
„Kommunikationsagent und Generalist", und als solcher „Einflußführer
" in der Kirchgemeinde. In dieser Funktion und als
Experte für Theologie muß er zwar seine eigene Meinung
haben, doch diese nicht als die verbindliche Position durchsetzen
, sondern ein breites Spektrum der Standpunkte fördern.

Aus der Komplexität der Gemeinde zieht Lück Konsequenzen
für eine funktionale Gliederung in fünf Fachbereiche. Zum
Fachbereich „Kirchengemeinde" gehören die auf die Öffentlichkeit
bezogenen Aufgaben (gesellschaftlich-universaler Aspekt).
Der Fachbereich „Familie" umfaßt über die direkte Familienarbeit
hinaus alle am Lebenszyklus und den Knotenpunkten
des Lebens orientierte Arbeit. Im Fachbereich „Tradition" ist
Erwachsenenbildung zu leisten, während der Fachbereich
„Selbsthilfe" dem Angebot von Gemeinschaft zur Stabilisierung
und Vertiefung des Glaubens durch Gruppenarbeit dient.
Der Fachbereich „Projekte" schließlich will „Kirche für andere"
in Aktionsgruppen darstellen. Die Leitung der Fachbereiche
soll bei Laien liegen. Die Differenzierung ermöglicht unterschiedliche
Partizipation am kirchlichen Leben.

Zu fragen ist, ob Lück den neueren Konzeptionen von Gemeindeaufbau
immer gerecht wird. Mir scheint auch, daß die
an sich sympathische Rolle des Pfarrers als „Kommunikationsagent
" in diesem Konzept zu wenig Raum läßt für ein Zeugnis
mit verbindlichem Anspruch. Der Faktor „Auftrag" wird m. E.
zu negativ gesehen. Trotzdem ist das Buch eine Hilfe, besser
auf die differenzierte Wirklichkeit der Kirchgemeinden einzugchen
und für die verschiedenen Erwartungen offen zu
sein.

Gutenberg bei Halle/S. Eberhard Winkler

Von Personen

Kurt Galling zum 80. Geburtstag

Am 8. Januar 1980 wurde der emeritierte ordentliche Professor
für Altes Testament und Biblische Archäologie Dr. theol.
Dr. phil. Kurt Galling 80 Jahre alt.

Der in Wilhelmshaven Geborene begann sein Studium in
Berlin und wechselte dann nach Jena über, wo er 1921 zum
Lic. theol. und 1923 zum Dr. phil. promoviert wurde. 1925 habilitierte
er sich in Berlin und war von 1928 an in Halle. Da
er sich zur Bekennenden Kirche hielt, blieb er nichtbeamteter
a. o. Professor bis 1945. Die Theologische Fakultät Bern verlieh
ihm 1934 die Ehrendoktorwürde. Unmittelbar nach dem
zweiten Weltkrieg wurde er als ordentlicher Professor für Altes
Testament und Palästinakundc nach Mainz, 1955 nach Göttingen
berufen. 1962 folgte er einem Ruf auf den neu errichteten
Lehrstuhl für Biblische Archäologie an der hiesigen Universi-