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Ausgabe:

1980

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

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Neuerscheinungen

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dacht vom Anfang der Ethik an deren Ende geholt und unter
eschatologischer Perspektive betrachtet wird. Hierbei kommt
auch die Utopie zu ihrem Recht und überhaupt solches ethisches
Wollen, das über einen beschränkten Pragmatismus hinausgeht
und sich größeren Dimensionen hingibt."

Die Ethik des 2. Artikels muß in einem Atem damit genannt
werden, weil die eschatologische Ausrichtung ja in ihr angelegt
ist. Vielleicht an keiner Stelle sonst geht Barth so konzentriert
von der Rcchtfertigungslehre aus wie hier. Dafj die Sündenvergebung
der Leitgedanke dieser Ethik ist, scheint mir
für das Unternehmen einer evangelischen Ethik von großer
Bedeutung zu sein. Die Fruchtbarkeit dieses Ansatzes müßte
erst noch ausgeschöpft werden, weil Barth selber diese Linie
später nicht weiter verfolgt hat. Von besonderem Interesse ist,
wie nahe Barth hierbei an Gogarten herankommt — und wie
anders dann doch alles gewendet wird. Aber die Sicht des
Nächsten als Gottes Begegnung mit uns schafft Berührung
nicht nur mit Gogarten, sondern auch mit neueren Positionen
wie denen von H. Braun oder D. Solle. Gleichzeitig aber zeigt
Barth in der Kritik an Mystik und Moral, wo er die Gefahren
sieht, wenn dabei die Rcchtfertigungslehre verlassen wird
und eine direktere ethische Theologie aufgebaut werden soll.
Die Entwicklung der Rcchtfertigungslehre in sorgfältiger Absetzung
von der Oslanders bekommt dabei höchste Aktualität.

Sehr nachdenklich wird man, wenn man darauf achtet, auf
wie wenig konkrete ethische Sachverhalte Barth eingeht —
eingehen kann. Man mußte sich ja schon angesichts der ausgeführten
Ethik im Rahmen der Schöpfungslehre der KD fragen
, welcher Stoff der Einzclethik noch unter dem Gesichtspunkt
des zweiten (und dritten) Artikels zur Verhandlung anstehen
sollte. In der vollständigen Ethik von 1928/29 kommt
nun an den Tag, daß nach der Schöpfungslehre in der Tat
kaum noch ethisches Material übrigbleibt. Im Grunde ist es
nur der Komplex Staat und Recht. Aber was Barth 1928/29
über das Verhältnis von Kirche und Staat vortrug, bildet dann
doch einen Fremdkörper, der sich schon durch die Form (Thesen
) als Fremdkörper auch in Barths eigener Sicht zu erkennen
gibt. Der Staat taucht hier sehr abrupt auf, rein biblizi-
stisch abgeleitet aus Rom 13. Diesen Abschnitt hat Barth dann
auch herausgenommen, als sein Freund R. Pestalozzi eine
Abschrift des Ethikkollcgs vornehmen und über den Studentenweltbund
in Genf vertreiben ließ. Bei der Wiederholung
der Vorlesung 1930/31 in Bonn hat Barth diesen Abschnitt
wieder eingefügt, allerdings so überarbeitet wie keinen anderen
Teil. 1933 wollte er ihn zu einer selbständigen Veröffentlichung
ausarbeiten zur Klärung in der kirchlich-theologischen
Geistesverwirrung nach der faschistischen Machtergreifung,
blieb aber mittendrin stecken — m. E. weil der theologische
Zugang nicht einsichtig war. Ich halte den Abschnitt über
Kirche und Staat für einen Übergriff über den Zusammenhang
der an der Rechtfertigungslehre orientierten theologisch-ethischen
Erörterungen hinaus und meine, es spreche für die
Qualität dieser Erörterungen, daß man es so empfindet. Die
Selbstverständlichkeit, mit der wir uns daran gewöhnt haben,
daß die Theologie zu allem und jedem Stellung nehmen kann
und muß und daß das Thema „Staat" ein genuiner Teil ihrer
ethischen Belehrung sei, dürfte höchst fragwürdig sein. Auf
der anderen Seite zeigt Barth aber auch positiv, wie zu ethischen
Materialproblemcn Stellung genommen werden kann:
nämlich nicht prinzipiell theologisch begründend, sondern fragend
, gleichsam in ideologiekritischem Sinne. Was Barth unter
den Gesichtspunkten von Gesetz, Sünde und Sündenvergebung
zu Erziehung, Recht und Sitte sagt, ist ein großartiges Beispiel
für die sozusagen ideologiekritischc Auswirkung der Rcchtfertigungslehre
in der Ethik und gleichzeitig dafür, wie von
ihr aus die ethisch Handelnden in Freiheit gesetzt und nicht bevormundet
werden.

Auch unter dem Gesichtspunkt des 1. Artikels versucht Barth,
die Ethik nicht zur Bevormundung auswachsen zu lassen; doch
seine dort vorgenommene Behandlung ethischer Einzelprobleme
läßt die Frage aufkommen, woher er die Argumente

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hat, die er jeweils aufbringt. Auch hier bemerkt man ideologiekritische
Tendenzen, vieles ist aber nur von der Umsicht und
Weitsicht des Menschen Barth geprägt, ohne daß ein anderer
das theologisch nach vollziehen könnte. Ganz unsicher werde
ich darin, was das Reden vom Gebot Gottes dabei soll. Das
Problem theologischer Ethik wird einem hierbei besonders
deutlich: Wie genau kann das eigentlich sein, was die Theologie
in die ethische Situation hinein zu sagen hat? Und das
bringt einen auf weitere Fragen, vor allem: ob die Lehre vom
Gebot Gottes überhaupt durchführbar ist, weiter: ob sie mit
den drei Glaubensartikeln verbunden werden kann, weiter:
ob die systematische Auseinanderlegung der drei Artikel sinnvoll
ist. Welcher der verschiedenen Gedankenkreise ergibt
einen legitimen theologischen Zugang? Ich neige dazu, dem
Ansatz bei der Rechtfertigungsichre in der eschatologi sehen
Ausrichtung unseres 2. Bandes den Vorzug geben — obwohl
ihn Barth gerade nicht isoliert vornehmen wollte und ihn später
nicht ausgebaut hat. Aber das Wichtige der Nachlaßveröffentlichungen
ist ja gerade, daß alles nochmal in Bewegung
kommt — nun besser als bisher: nicht an Barth vorbei oder
einfach gegen ihn (weil manchen die KD zu doktrinär oder
auch zu heterodox anschaut), sondern mit ihm.

Nicht unerwähnt bleibe die sorgfältige Edition dieses Nachlasses
durch Dietrich Braun. Die Quellenlage ist sinnfällig
und unaufdringlich vor Augen geführt, die Anspielungen und
Zitate sind präzise belegt. Fraglich muß immer bleiben, was
alles belegt werden soll — inzwischen sind es schon allgemeine
Bildungsinhalte wie der Inhalt von Shakespeares Kaufmann
von Venedig, die in Fußnoten erscheinen; doch wahrscheinlich
ist das jetzt nötig. Dann aber kann man fragen, ob nicht auch
die fremdsprachigen Zitate übersetzt werden sollten.

Münster Dieter Schellong

Man kann über die Nachlafjedition nicht sprechen, ohne Max Geiger zu
nennen, der am 2. Dezember 1978 im Alter von 56 Jahren gestorben ist. Die
Todesnachricht erreichte mich gerade nach Abschluß dieser Besprechung. Max
Geiger hat den Kreis der Herausgeber des Nachlasses zusammengerufen und
immer wieder zusammengeführt zur Weiterarbeit am Werke Barths, ohne
Scheuklappen und Festlegungen. Die Lücke, die er hinterläßt, wird uns noch
oft an ihn denken lassen.

Dantine, Wilhelm: Zurück zum Vergeltungsrecht? Gemeinsame
Verantwortung von Jurisprudenz und Theologie (LM 17,
1978 S. 66-69).

Ermecke, Gustav: Zur Bestimmung der Lage in der katholischen
Moraltheologie und zum Problem einer Fundamentalmoral
(MThZ 30, 1979 S. 33-44).

— :Die soziale Bedeutung der Ehe. Im Vorraum christlicher
Ehelehre (ThGl 69, 1979 S. 89-94).

Hertz, Anselm: Strafe und ethische Norm (WuA 20, 1979 S. 13
bis 17).

Honecker, Martin: Nicht nur für die Experten. Grundwerte
sind Anfragen an alle Bürger und Christen (LM 17, 1978
S. 25-29).

Kirche und Menschenrechte (Themenheft Concilium 15, 1979
Heft 4)

Huber, Wolfgang: Menschenrechte: Ein Begriff und seine
Geschichte (S. 199-204)

Lochman, Jan Milic: Ideologie oder Theologie der Menschenrechte
: Die Problematik des Menschenrechtsbegriffs heute
(S. 204-209)

Limburg, James: Die Menschenrechte im Alten Testament
(S. 209-218)

Plongeron, Bernard: Konfrontation mit den Menschenrechtserklärungen
im 17. Jahrhundert: Anathema oder
Dialog der Christen? (S. 218-223)

Wackenheim, Charles: Die theologische Bedeutung der Menschenrechte
(S. 224-228)

Pfürtner, Stephan H.: Menschenrechte in der christlichen
Ethik (S. 228-233)

Coriden, James A.: Die Menschenrechte in der Kirche: eine
Frage der Glaubwürdigkeit und Authentizität (S. 234-239)

Rcfoule, Francois: Bemühungen der obersten kirchlichen
Autorität um die Menschenrechte (S. 240—244)

Theologische Literaturzeitung 105. Jahrgang 1980 Nr. 3