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Ausgabe:

1980

Spalte:

226-228

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Kvist, Hans-Olof

Titel/Untertitel:

Zum Verhältnis von Wissen und Glauben in der kritischen Philosophie Immanuel Kants 1980

Rezensent:

Schleiff, Hans

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urteilung menschlichen Verhaltens bemerkt: Sitte, persönliche
Macht sowie individuelle Vorliebe und individuellen Geschmack
. Turner meint, eine Angelegenheit werde dadurch
nicht falsch oder richtig, daß sie üblicherweise getan oder nicht
getan werde. Leere Appelle zur Wahrung der Tradition allein
könnten diese nicht rechtfertigen. Was die Macht betrifft,
werde kein vernünftiger Mensch dieselbe an sich kultivieren
wollen, und doch ereigne es sich im Erziehungsprozeß immer
wieder, daß Macht nicht angefragt werden dürfe. Ebenso determinierten
schließlich persönliche Vorlieben für etwas häufig
die Bedürfnisse und Rechte anderer, die diese Vorlieben nicht
teilten. „Niemand kann auf Dauer sein Verhalten dadurch
rechtfertigen, daß er an Sitte, Macht oder Geschmack appelliert"
(143). Was sind denn nun die entscheidenden Werte des Lebens
? Nach Turner ist alles das würdig, so genannt zu werden
, was die wesentlichen Lebensbedürfnisse zu erfüllen vermag
. Das nötige Wissen darum muß den Erziehern selbst in
ihrer eigenen Ausbildung vermittelt werden. Später müssen sie
sich die Zeit nehmen, um sich im Unterricht mit ihren Schülern
über deren Bedürfnisse und die entscheidenden Werte zu unterhalten
. Hierfür gibt es eigene Weisen der Artikulation. In
Soziodramen etwa können die Schüler in ihrer eigenen Sprache
ausdrücken, was sie empfinden. Weiße Kinder z. B., die die
Rolle von Afroamerikanern spielen, erfahren dabei, was es
heißt, Rassenvorurteilen ausgesetzt zu sein. Entschieden wendet
sich der Autor gegen Lehrbücher für amerikanische Kinder
, die keinerlei Beziehung zu wichtigen Situationen haben,
was er mit einem Beispiel belegt: „Billy sees Spot. Spot sees
the ball. Billy runs for Spot. Spot runs for the ball" (145f).
Entsprechendes gelte für die anderen Ebenen der Erziehung.
Weil die amerikanischen Lehrer vielfach Konformisten seien,
vermieden sie möglichst jede Diskussion über gewichtige Themen
, um die Aufsichtsbehörden nicht zu verärgern. Solche
Themen, die für die Studenten wichtig seien, sind für Turner
u. a. Sexualmoral, Religion und Fragen der menschlichen Bestimmung
. Der Austausch über solche bewegenden Fragen sei
wichtiger als die Vergabe von Zeugnisnoten.

Interessanterweise läßt der Vf. diesen Überlegungen ein
originelles Kapitel über Jesus Christus folgen. Turner ist nämlich
überzeugt, daß eine an den wirklichen Bedürfnissen der
Menschen orientierte Theologie (oder Religionsphilosophie)
helfen kann, die genannten Probleme zu lösen. Für eine solche
Theologie ist es erforderlich, von den Bedürfnissen im Leben
Gottes selbst zu sprechen als von etwas, was von den meisten
Theologen vergessen worden ist.

Das Kapitel beginnt mit einem Plädoyer für die logische Notwendigkeit
metaphysischen Denkens, dessen Bedeutung für
Turners Ansatz sich bald zeigen wird. Es wird sogleich auf
die Begründung moralischer Verantwortlichkeit angewendet.
Moralische Verantwortlichkeit — heißt es — kann sich nicht
im bloßen Handeln erschöpfen, sie ist vielmehr im Sein begründet
. Wie in den vierziger und fünfziger Jahren Paul Tillich
, wendet sich damit nunmehr auch Turner gegen Relativismus
und Behaviorismus in der amerikanischen Theologie und
Philosophie.

In Jesu Philosophie (!) ragt laut Turner nichts mehr heraus
als die Reguläre „Freiheit", „Verantwortung" und „geistiges
Wesen des Menschen". Entsprechend sind Jesus die Last und
Komplexität des Vorgangs bewußt, der zu gültigen moralischen
Entscheidungen führt. Dadurch gerät er in den Gegensatz
zu den Theologen seiner Zeit, die Gerechtigkeit predigen,
sich aber nicht wirklich um die Menschen sorgen. Dieser Gegensatz
führt zur Hinrichtung Jesu. Jesu Fürsorge veranschaulicht
, daß ihm Bedürfnisse nicht fremd sind; auch Gott
sind sie wohlvertraut. Gott thront nicht über den Bedürfnissen
! Sie gehören ja essentiell zum Leben. Mt 6,8 wird als Beleg
angeführt: Allein derjenige kann angemessen auf Bedürf-
nisse'eingehen, der sie auch für sich selber kennt. So ist Gott
letztlich Gott in seiner Sorge um den Menschen und in der
Erfüllung seines eigenen Wunsches, die essentielle Möglichkeit
für mehr Schönheit und Freude in der Welt umzusetzen

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in konkrete Akte durch seine schöpferische Aktion. Demgemäß
haben sich die Christen in der Gesellschaft zu verhalten,
wenn anders sie diesen Namen für sich beanspruchen. In diesem
Verhalten liegt die Differenz des christlichen Glaubens zu
anderen Religionen.

Von dieser Position aus wird das klassische Verständnis von
Gottes Allmacht und Allwissenheit angefragt. Der Bezug zu
den Passagen über die Kommunikation im Erziehungsprozeß
ist allenthalben gegenwärtig. Diese theologischen loci werden
im Bewußtsein der menschlichen Würde und ihrer Förderung
interpretiert. Das gilt auch für die vita aeterna. Sie drückt für
Turner aus, daß „Leben" ein heiliger Wert ist, dem die Fürsorge
Gottes gilt. Wer dem zustimme, könne in Übereinkunft
mit der Logik und ohne sinnlose Melancholie jede Philosophie
ablehnen, die diesem Wert widerspreche.

Für den Dogmengeschichtler ergibt sich angesichts all dieser
Transformationen ein reiches Betätigungsfeld. In der gegenwärtigen
Theologiegeschichte lassen sich Verbindungslinien zu
P. M. van Buren ziehen, der von ganz anderen Voraussetzungen
her zu manchen verwandten Ergebnissen kommt, wenn er
die Bedeutung Jesu Christi beschreibt, wenngleich genug unvereinbar
bleibt.1 Bei allem Bemühen des Autors um Eigenständigkeit
und trotz mancher Distanzierungen darf man seine
Theologie im Umfeld der amerikanischen Prozeßtheologie lokalisieren2
, die mit F. Th. Trotter wohl als „neue Metaphysik"
zu bezeichnen ist3.

So werden wir vom Vf. in eine uns fremde theologische
Landschaft geführt, die mehr und mehr kennenzulernen wir
uns angelegen sein lassen sollten, gerade um unsererseits zu
entsprechend präzise angesiedelten Entwürfen zu gelangen.
Dabei kommt es nicht auf die Noten „alt" oder „neu" an. Auch
den hier vorzustellenden Band wird man in der europäischen
Theologie gewiß nicht mit dem Enthusiasmus der Vorwortschreiber
begrüßen. Turners Bemühungen aber, die Bedeutung
Jesu zu erschließen, sind gewiß für Theorie und Praxis
unseres Lebens belangvoll, selbst wenn dem Theologiehistoriker
der eine oder andere Akzent verdächtig bekannt vorkommen
sollte. Die stark apologetisch gefärbten Kapitel über Einstein
und die Wissenschaftsorthodoxie (mit Mt 23,24 als
Motto!), Jacques Monod, B. Rüssel und den logischen Positivismus
dürften sich in den USA und anderswo der Gunst eines
breiteren kirchlichen Publikums erfreuen. Wer jedoch gegenüber
Apologetik sensibel geworden ist, wird zurückhaltender
urteilen.

Güstrow Jens Langer

1P. M. van Buren, Reden von Gott - in der Sprache der Welt, Zürich-
Stuttgart 1965.

2 Vgl. L. Gilkey, Der Himmel und Erde gemacht hat. Die christliche Lehre
von der Schöpfung und das Denken unserer Zeit, München 1971; J. B. Cobb.
Christlicher Glaube nach dem Tode Gottes. Gegenwärtiges Weltverständnis im
Licht der Theologie, München 1971; zur Einführung ist hilfreich D. D. Williams,
Prozeft-Theologie: Eine neue Möglichkeit für die Kirche, in: EvTh 30, 1970,
571-582.

3 F. Th. Trotter, Variationen über das „Tod-Gottes"-Thema in der jüngsten
Theologie, in: J. L. Ice/J. J. Carey (eds.), daf) Gott auferstehe. Debatte um den
Tod Gottes, Zürich 1971, lOOf.

Kvist, Hans-Olof: Zum Verhältnis von Wissen und Glauben in
der kritischen Philosophie Immanuel Kants. Struktur- und
Aufbauprobleme dieses Verhältnisses in der „Kritik der reinen
Vernunft": Abo: Research Institute of the Abo Aka-
demi Foundation 1978. 375 S. 8° = Meddelanden fran stif-
telsens för Abo Akademi forskningsinstitut, 24.

Es gehört Mut dazu, sich noch einmal in die Kant-Exegese
hineinzubegeben, nachdem sich schon so viele darin versucht
haben. Der Vf., dessen Arbeit an der schwedischen Universität
in Äbo (Turku), Finnland, von Gotthard Nygren betreut
wurde, begründet sein Vorhaben damit, daß das Verhältnis
von Wissen und Glauben bei Kant bisher nur selten gesondert

Theologische Literaturzeitung 105. Jahrgang 1980 Nr. 3