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Ausgabe:

1980

Spalte:

224-226

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Turner, Dean

Titel/Untertitel:

Commitment to care 1980

Rezensent:

Langer, Jens

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langsamen, aber sicheren Verfall preisgegeben. Die Zeiteinwirkung
förderte eine fortschreitende Verbürgerlichung und
Privatisierung des Glaubens. Die Monopolisierung des Pfarr-
Amtes beseitigte jede Art charismatischer Dienste innerhalb
der Gemeinde. Man häuft die Aulgaben auf einzelne und
läfjt die Gaben der anderen völlig außer betracht. Die Askese
erlischt, das Chorgebet hört auf. Dafür lebt man mit dem Anspruch
auf standesgemäße Versorgung ein behagliches Privatleben
, das für andere und für die Kirche unfruchtbar und belanglos
ist. Fontane hat das im „Stechlin" bissig aber treffend
, im „Kloster Wutz" (Lindow) beschrieben. Die evangelische
Kirche war das Mönchtum los, aber sie hatte damit eine
für sie lebenswichtige Wurzel verloren.

Dennoch gab es im reformierten und im lutherischen Pietismus
Bemühungen, das Verlorene wiederzugewinnen. Zinzen-
dorf nimmt mit solchen, „die das Wort mit Ernst meinen"
Luthers 3. Weise des Gottesdienstes in seinen „Chören" und
„Chorhäusern" auf. Das gilt aber nun bereits als so außergewöhnlich
, daß die so entstehenden „Gruppen und Kreise" im
Grunde nur außerhalb der verbürgerlichten Parochialgemcinde
existieren können. •

Ein neuer Zug kam in die Entwicklung durch die bruderschaftlichen
und schwesternschaftlichen Gedanken Wicherns
(1808-1891) und Löhes (1802-1872). Ersterer erwähnt neben
„Gemeinde" und „Verein" die „kirchliche Korporation" zur
Ausübung christlicher Liebeswerke. Letzterer weiß, daß „ohne
Heiligung der Glaube nicht ernst zu nehmen ist" (Katechismus
des apostolischen Lebens). Nicht allein die Not, die nach Hilfe
schreit, ist die Grundlage für die Diakonie, sondern vor allem
die Ausrüstung im gemeinsamen Leben und die Hingabe als
„Dankopfer der ganzen Existenz".

Von der Seite der wissenschaftlichen Theologie her engagiert
sich Adolf von Harnack (1851—1930) „für das Wiederaufleben
eines gereinigten und erneuerten evangelischen Mönch-
tums". Schließlich kann S. Kierkegaard (1813—1855) in seiner
unkonventionellen Art sagen: „Zurück zu dem Kloster, aus
dem Luther ausbrach, ist die Sache des Christentums zunächst
zu führen."

Es ist das Verdienst des Vf., im Aufspüren von Grundsätzlichem
und im umsichtigen Nachzeichnen der Entwicklung
in diesem ersten geschichtlichen Teil Verlorenes und Wiedergewonnenes
für die Lebensformen heutigen kommunitären Lebens
entdeckt und aufgezeigt zu haben. Nicht nur Angriffe
und Verdächtigungen, Kritik und Ablehnung, sondern vor allem
Dynamik, Ausstrahlung und Segen der Bruder- und Schwesternschaften
heute sind in der historischen Entwicklung bereits
in vielen Zügen enthalten.

Der zweite, systematische Teil beginnt mit der Feststellung,
daß der legitime Ansatz des Ordenslebens bereits in den neu-
testamentlichen Aussagen über Jüngerschaft und Nachfolge
und nicht erst in späteren Begründungen liegt. Dabei geht
es sowohl um das totale Heilsangebot Jesu als auch um totalen
Gehorsam ihm gegenüber. In dieser Radikalität, die immer eine
Entscheidungssituation bedeutet, liegt die Stärke gemeinsamen
Lebens. In ihr sind zugleich auch alle gegen das gemeinsame
Leben gerichteten Angriffe enthalten, weil jede Entscheidung
eben immer ja oder nein bedeuten kann. So falsch es
ist zu fordern, alle müßten sich so lür diese Form der Nachfolge
entscheiden, so verkehrt ist es auch, diejenigen, die sich
für kommunitäres Leben entschieden haben, zu verdächtigen,
weil man sich selbst nicht entscheiden will. Der Vf. sieht richtig
, daß in den Kommunitäten heute sowohl die Weise der Jerusalemer
Urgemeinde als „familia dei" gemäß Apg 2, 42 zu
leben, als auch die andere aus der Missionsarbeit des Paulus
erwachsene Art praktiziert wird. In jener zweiten Art vollzieht
sich das neue Leben innerhalb der jeweils gegebenen
natürlichen Lebensordnungen, während die erste Weise zum
großen Teil aus ihnen herausruft. Warum sollte nicht beides
vollgültig und vollmächtig nebeneinander bestehen können?
Entscheidend ist für beide, daß es wirklich um neues Leben

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geht und nicht nur um neue Formen, unter denen in Wirklichkeit
das alte Leben bleibt.

Haikenhäuser untersucht sodann die Evangelischen Räte
(Ehelosigkeit, Gütergemeinschaft, Gehorsam) in ihrer Bedeutung
für das kommunitäre Leben. Der Blick auf Kirche und
Eschatologie beschließt das Ganze. Wichtig ist dabei die Feststellung
, daß die Kommunitäten die geographischen und konfessionellen
Grenzen der Kirche überschreiten und so mehr als
andere Zusammenschlüsse Wegbereiter der ökumenischen Einheit
sind. Was in ökumenischen Gremien bedacht, beraten
und erarbeitet wird, wird in den Kommunitäten vielfach bereits
gelebt (Taize!). Dabei muß man aber natürlich bedenken,
daß es Kommunitäten in der ihnen eigenen geschlossenen Gemeinschaft
und Lebensform leichter haben, Einheit zu leben,
als verfaßte Kirchen, die damit immer zugleich als Gesamtinstitution
Grundsätzliches bedenken müssen. Immerhin besteht
der Kern des Ganzen darin, wie ernst man das paulini-
sche Bild von dem einen Leib und vom Haupt und den Gliedern
nimmt und was man darum und dazu bereit ist, aufzugeben
und loszulassen. Aufgeben führt hier eher zum Ziel als
Aushandeln.

Die umfangreiche Arbeit des Vf., erfüllt von eigenem Leben
und Erleben, ist nicht nur eine umfassende Darstellung kommunitären
Lebens in der evangelischen Kirche, sie hat ihre
Bedeutung auch darin, daß Kirchen diese Form des Lebens
heute nicht nur dulden, sondern aufnehmen und annehmen.
Ebenso wichtig ist, daß Kommunitäten wissen, daß sie innerhalb
ihrer Kirchen „gelebte Hoffnung für die Welt" sind.

Stendal Friedrich Carl Eichenberg

Bartz, Wilhelm: Freikirche, Evangelische Kommunität und
Bruderschaft, Sekte (TThZ 88, 1979 S. 69-74).

Dejaifve, G.: Oü en est le probleme de l'infaillibilite: (NRTh
100, 1978 S. 373-388).

Ravier, Andre: Une fille de notre race: Sainte Bernadette
Soubirous (NRTh 101, 1979 S. 80-90).

Philosophie, Religionsphilosophie

Turner, Dean: Commitment to Care. An Intcgrated Philosophy
of Science. Education and Religion. Old Greenwich, Conn.:
The Devin-Adair Company [1978). XVI, 416 S. gr. 8°. Lw.
$ 12.50. .

Der Autor, Anfang der Fünfziger, ordinierter Pfarrer der
„Disciple of Christ Church", lehrt an der Universität von Nord-
Colorado. Er hat sich in seinen bisherigen fünf Büchern u. a.
mit Anthropologie und der Gottesfrage befaßt; eines behandelt
, was er den „Einstein-Mythos" nennt. Vor seiner jetzigen
Tätigkeit lehrte er in Mexiko und Labrador, an der Universität
von Maryland, auf den Azoren und den Bermudas, in Neufundland
und Grönland. Alles ist das aber noch nicht nach
Auskunft der dem Band beigegebenen Notizen über den Autor.

Der Kernsatz des Buches steht — nach einem werbenden
Vorwort der „Christian Scholars Foundation" und einer ebensolchen
Einleitung von Truman G. Madsen — am Anfang und
lautet: „Der letztgültige Schlüssel zum Universum ist Liebe"
(3). Eindrucksvoll wendet der pädagogisch offensichtlich erfahrene
Vf. diese Einsicht z. B. auf die im umfassenden Sinne
verstandene Erziehung an: Bei seiner reichen erzieherischen
Arbeit auf verschiedenen Ebenen des amerikanischen Ausbildungssystems
habe er als dominierenden Mangel festgestellt,
daß es dem Unterricht daran fehle, für Denken und Handeln
wesentliche Bedürfnisse und Werte zu vermitteln. Er habe bei
Lehrern, Pfarrern und Eltern drei falsche Kriterien für die Be-

Theologische Literaturzeitung 105. Jahrgang 1980 Nr. 3