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Ausgabe:

1980

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

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Neuerscheinungen

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In dieser Reihe hat nun Wilhelm Niesei eine ausführliche
Darstellung nicht des Kirchenkampfcs, sondern des Weges der
Bekennenden Kirche (BK) in der größten deutschen Landeskirche
, der Evangelischen Kirche der Altpreußischcn Union
(APU) — jetzt Evangelische Kirche der Union (EKU) —> vorgelegt
. Die altpreußische Landeskirche stand im Kirchenkampf
an vorderster Front, wurde sie doch schon im Sommer 1933
durch einen massiven Eingriff des nationalsozialistischen Staates
„zerstört"; d.h. ihre obersten Organe wurden durch einen
Staatskommissar mit regimetreuen, den „Deutschen Christen"
zumindest nahestehenden Personen besetzt, — ein Zustand,
der durch die wenig später erfolgten Kirchenwahlcn bestätigt
wurde. Gegen dieses als häretisch empfundene und auch bald
und immer wieder zu Vcrfassungsverletzungen greifende Kirchenregiment
, das mit Gewalt die Anpassung an aus national-

ozialistischem Geist erwachsene kirchenpolitische und kirchliche
Vorstellungen durchsetzen wollte, sammelte und konstituierte
sich die BK, die auf der Bekenntnissynode in Dahlem
im Herbst 1934 das kirchliche Notrecht proklamierte und eigene
kirchenleitende Organe bildete. Die obersten dieser Organe
für die altpreufjische Kirche waren neben der Bekenntnissynode
der Bruderrat — etwa dem Kirchensenat entsprechend
—, der als Exekutivorgan aus sich den Rat der Evangelischen
Kirche der APU herausstellte, der etwa dem Evangelischen
Oberkirchenrat entsprechen sollte. Diese notrechtlichen Organe
der BK wollten ihren Anspruch verwirklichen, das Kirchenregiment
allein aus dem Bekenntnis heraus auszuüben und
auch als Kirchenbehörde „Kirche unter dem Wort" zu sein;
diesen Anspruch durchzuhalten, ist bis zum Ende des Zweiten
Weltkrieges am konsequentesten den bekenntniskirchlichen Organen
der APU gelungen.

W. Niesei ist wohl wie kaum ein zweiter dazu berufen, den
Weg und den Kampf der BK Altpreußens zu schildern, stand
er doch von Anfang an als — reformiertes — Mitglied des Rates
der APU in besonderer kirchenleitender Verantwortung. Bereits
1949 hat Niesei die Beschlüsse der altpreußischcn Bekenntnissynoden
, die bis 1943 abgehalten werden konnten,
herausgegeben; jetzt, im Ruhestand, hat er eine Gesamtdarstellung
vorgelegt. Dabei greift er nicht wie ein Memoirenschreiber
allein auf seine Erinnerungen zurück; die bereits in
großer Fülle vorliegende Quellen- und Sekundärliteratur wird
zwar nur gelegentlich herangezogen, aber durch sorgfältiges
Auswerten seiner offenbar umfassenden zeitgenössischen Notizen
und selbst gesammelten Akten (die sich jetzt im Archiv
der EKU in West-Berlin befinden) sowie der einschlägigen Ar-
•rhivüberlieferung (besonders des von Günther Härder aufgebauten
Archivs für die Geschichte des Kirchenkampfes, jetzt
ebenfalls im Archiv der EKU) gelingt es dem Vf., ein wirklich
umfassendes Bild von der vielfältigen und teilweise sehr
schwierigen Arbeit der BK in Altpreußen zu zeichnen, — ein
Bild, auf dem allerdings der Hintergrund, nämlich der nationalsozialistische
Weltanschauungsstaat und die ihm weitgehend
entgegenkommenden „offiziellen" Kirchenbehörden, blaß
und undifferenziert bleibt.

Die Schwierigkeiten für die altpreußische BK lagen einmal
darin, ihren Anspruch, die rechtmäßige evangelische Kirche zu
sein, gegenüber den zuwiderlaufenden Bestrebungen des nationalsozialistischen
Staates und der Kirchenbehörden aufrechtzuerhalten
und keine Beschränkungen des Öffentlichkeitsanspruches
der christlichen Verkündigung zuzulassen, zum andern
darin, daß sie nicht verhindern konnte, daß die ihr angeschlossenen
Provinzialkirchen in gewichtigen Fragen eigene
Wege gingen und eher zu Kompromissen mit den „offiziellen"
Kirchenbehörden geneigt waren als der altpreußische Bruderrat
selbst. Das zeigte sich etwa in Ostpreußen, wo der Pro-
vinzialbruderrat die Zusammenarbeit mit den von dem staatlichen
Kirchenminister eingesetzten Kirchenausschüssen nicht
grundsätzlich ablehnte, und in Westfalen, wo der sich zur BK
haltende Präses Koch bereit war, zusammen mit einem „Deutschen
Christen" die geistliche Leitung über die Kirchenprovinz
auszuüben und damit den Alleinvertretungsanspruch der BK

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relativierte. Besonders belastend und weitreichend in ihren
Konsequenzen war die Frage der Legalisierung der „jungen
Brüder", die, wenn sie vor bekenntniskirchlichen Gremien ihre
Prüfungen abgelegt hatten, nur bei faktischer Anerkennung der
offiziellen Kirchenleitung in den Dienst übernommen wurden
und damit versorgt waren, — eine Frage, die zumal in den
Jahren des Zweiten Weltkrieges den Kirchenkampf für viele
Familien auch zu einem materiellen Existenzproblem werden
ließ. Die Schilderung dieser Nöte und der Versuche der BK
Altpreußcns, hier gangbare Wege und Auswege zu finden, gehört
zu den eindrucksvollsten Passagen des Buches.

Von den vielen Darstellungen aus der Sicht der Beteiligten
und Betroffenen, die nicht immer der Gefahr entrinnen konnten
, zu Hagiographien der jeweiligen Gruppierungen auch innerhalb
der BK zu werden, unterscheidet sich das Buch Wilhelm
Nieseis wohltuend. Zwar ist auch bei ihm der Stolz über
das im Kirchenkampf Erreichte zu spüren, nämlich die „Reinheit
" der Kirche, ihrer Verkündigung und ihrer Ordnung, bewahrt
zu haben, aber Niesei unterläßt es nicht, immer wieder
auch auf die Defizite des Kampfes der BK aufmerksam zu machen
. Diese Defizite lagen darin, daß die BK ihre politische
Verantwortung nicht eindeutig genug wahrgenommen hat. Sie
war zu oft bereit — aus welchen Motiven auch immer —, dem
an sich gebotenen direkten politischen Konflikt mit dem nationalsozialistischen
Weltanschauungsstaat aus dem Wege zu gehen
. Zwar wehrte sie erfolgreich den ideologischen Totalitätsanspruch
des Nationalsozialismus ab und machte demgegen
über den Anspruch der Kirche auf die Freiheit und Öffentlichkeit
ihrer Verkündigung geltend. Die BK war damit zweifellos
ein Politikum, aber sie scheute sich weitgehend vor einem
unmittelbar politischen Handeln. Das wird deutlich etwa an
der Kundgebung der altpreußischcn Bekenntnissynode von
1935, die sich „lediglich" gegen die neuheidnische Religion,
nicht aber gegen die nationalsozialistische Weltanschauung
richtete (63f), und an der Zurückhaltung der BK, sich zur na
tionalsozialistischen Judenpolitik zu äußern (78f. 192). Hier
findet Niesei deutliche Worte für die Versäumnisse der BK,
die dem von ihr selbst auf der Barmer Bekenntnissynode von
1934 behaupteten Anspruch Gottes „auf unser ganzes Leben"
und der daraus resultierenden Verantwortung der Kirche auch
für das, was im Bereich des Politischen geschieht, nicht immer
hat entsprechen können.

Für den Fachmann ist es ein Gewinn, daß nun auch die Geschichte
der BK in der größten deutschen Territorialkirche vor
liegt; der Nichtfachmann wird sich etwas schwer tun, sich zu
rechtzufinden, denn die Kenntnis des Verlaufs des Kirchenkampfes
und seiner vielfach verwickelten Beziehungen und
Konstellationen wird stillschweigend vorausgesetzt. So sind die
von Gertraud Grünzinger, einer Mitarbeiterin der Evangelischen
Arbeitsgemeinschaft für kirchliche Zeitgeschichte in München
, erarbeiteten biographischen Anmerkungen und die umfassenden
Indizes eine gute Hilfe für die weitere Erschließung
des Buches.

München Carsten Nicolaisen

Bierbaum, Max, u. Adolf Faller: Niels Stensen. Anatom, Geologe
und Bischof 1638—1686, mit einem Kapitel von A.-L. Tho-
masen: Der Wandel des Stcnsenbildes. Münster/W.: Aschendorff
[1979). XI, 203 S. gr. 8°. Lw. DM 48,-.

Fischer, Martin: Friedrich Perthes und Günther Ruprecht. Verleger
in Krisenzeiten von Kirche und Gesellschaft (WPKG
67, 1978 S. 97-103).

Gabler, Ulrich: Die Anfänge der Erweckungsbewegung in
Neu-England und Jonathan Edwards, 1734/1735 (ThZ 34,
1978 S. 95-104).

Glenthoj, Jörgen: Das Ultimatum (JK Bh zu Heft 4 „Gottes

Wort ist nicht gebunden" 1978 S. 43-45).
Ludwig, Hartmut: Von der Buße der Kirche (JK Bh zu Heft 4

„Gottes Wort ist nicht gebunden" 1978 S. 9—14).

Theologische Litcraturzcitung 105. Jahrgang 1980 Nr. 3