Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1980

Spalte:

212-214

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Niesel, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Kirche unter dem Wort 1980

Rezensent:

Nicolaisen, Carsten

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

211

theologische Ahnungslosigkeit und charakterliche Brüchigkeit
uns tief beschämt... Wir sind der Überzeugung, daß kirchenpolitisches
Handeln nur möglich ist von Seiten der lebendigen
Gemeinde, nicht durch einzelne, auch nicht durch Gruppen...
Unser Kampf geht um die Gemeinde ... Unser Kampf geht um
den Stand der Diener am Wort ..." (3). Mit diesen Worten hat
Immer in seinem ersten Brief vom 21.9.1933 zur Gründung
des Coetus reformierter Prediger aufgerufen, der sich auf
einer Versammlung in Elberfeld mit etwa vierzig Teilnehmern,
zu denen auch Karl Barth gehörte, am 13. Oktober 1933 konstituierte
.

Ein konfessionelles Sonderinteresse lag Immer bei der Coc-
tusgründung fern. Vielmehr ging es ihm um den Zusammenschluß
zu einer disziplinierten, reformierten Bruderschaft innerhalb
der werdenden Bekennenden Kirche „zu täglicher
Fürbitte, regelmäßigem Bruderdienst in ernster gemeinsamer
theologischer Arbeit und zur Gemeinschaft der Leiden", wie es
in der Verpflichtungserklärung hieß (4).

An diesen Coetus hat Karl Immer seine Briefe geschrieben,
bemüht um klare theologische Ausrichtung, um die nötige
Weitergabe von Informationen und um die consolatio fratrum
mutua. Sie zeichnen sich durch eine hervorragende Klarsicht
und durch Entschiedenheit aus und richten sich in der Abwehr
zunächst sowohl gegen die Deutschen Christen wie gegen die
Neutralen. Beachtlich ist die Eindeutigkeit, mit der Immer
während der Krise der Bekennenden Kirche 1936 scharf gegen
den „kirchenzerstörenden Auftrag" der staatlichen Kirchenausschüsse
Stellung bezog (Brief vom 3. 11.1936, S. 227), wie
.er sich auch nicht gescheut hat, den Reichskirchenminister
Kerrl in einer Predigt als einen „Minister gegen kirchliche
Angelegenheiten" zu bezeichnen. Allerdings zeigen gerade die
Briefe aus der Zeit der Kirchenausschüsse und der Oeynhausener
Synode von 1936, wie schwer es selbst für Männer wie
Immer war, einen klaren Kurs zu halten. Mit zunehmender
Schärfe wenden sich die Briefe auch gegen die Kirchen- und
Kulturpolitik des nationalsozialistischen Staates, „gegen den
irreführenden Mißbrauch des Wortes vom .positiven Christentum
', gegen die Duldung einer haßerfüllten, zum Teil, unwahren
, des deutschen Volkes unwürdigen Judenhetze" (Brief vom
21.4.1936, S. 139). Gegen den zunehmenden Antisemitismus
wagte es Immer im November 1936, Auszüge aus einer Basier
Vorlesung Karl Barths aus dem Sommersemester des gleichen
Jahres über Israel, den „einzige(n) natürliche(n) Gottesbeweis",
zu bringen (234ff). Im gleichen Brief wird ein Artikel aus
dem Pester Lloyd wiedergegeben, der über Barths Vorträge
anläßlich seiner Ungarnreise 1936 berichtet und in dem es
heißt, daß unter allen geistigen Richtungen „die Kirche die
Schranke des totalen Staates" bezeichne (233f). Die Bedeutung
solcher Berichte und Zitate war damals für niemanden
zu überhören. Es gehörte beachtlicher Mut zu solchen Publikationen
im totalen Staat.

Die Geheime Staatspolizei verbot Immer am 14. 11.1936
„jegliche Herausgabe von Broschüren, Büchern ünd sonstigen
Druckschriften" (241), ein Verbot, dem das Gemarker Presby-
terium einstimmig und mit Namensnennung seinen Protest
entgegensetzte. Mit dieser Rückendeckung durch sein Presby-
terium und durch den Vorstand des Coetus hat Immer das
Verbot mißachtet und seine Briefe weiterhin versandt, bis er
am 5. August 1937 verhaftet wurde. Er erlitt im Gefängnis
einen Schlaganfall, der seine Überführung in ein Krankenhaus
zur Folge hatte. Der bewegende Brief vom 23.8.1937, der
sog. „Strahlenbrief", berichtet von diesem Erleben. Fortan war
Immers Schaffenskraft gebrochen. Der letzte Brief der Sammlung
aus dem November 1945 ist ein Nachruf auf den am
6. Juni 1944 verstorbenen Immer, den Udo Smidt und Herman-
nus Obendiek geschrieben haben.

Nach der Veröffentlichung der Coetusbriefe durch Beckmann
hat Heiner Faulenbach noch drei weitere Briefe Immers vom
13. 2.1936, vom Dezember 1939 und vom 6. 3. 1940 aufgefunden
und zum Druck gebracht (Monatshefte für Evangelische
Kirchengeschichte des Rheinlands 26, 1977, 297-304).

212

Wir besitzen heute einige umfassende Darstellungen des
Kirchenkampfes. Wer aber dem damaligen Geschehen unmittel
bar begegnen will, wird daneben Quellenpublikationen wie
diese lesen müssen. Joachim Beckmann, der schon sehr früh
eine bis heute unentbehrliche Dokumentation des Kirchen
kämpf es veröffentlichte (Kirchliches Jahrbuch 1933—1944.
Gütersloh 1948, 21976) hat sich mit der Herausgabe der Coetus
briefe — wie mit der fast gleichzeitigen Publizicrung dei
Akten der Rheinischen Bekenntnissynoden (1975) und der
Herausgabe der „Briefe zur Lage" von Heinrich Held (1977) —
ein hohes Verdienst erworben.

Dieses Verdienst wird nicht geschmälert, wenn einige kri
tische Bemerkungen zur Editionsweise gemacht werden müs
sen. 1. Der Hrsg. hat bis auf eine knappe Einleitung auf eine
Darstellung des historischen Kontextes und auf erläuternde
Anmerkungen verzichtet. Das macht es dem nachgeborenen
Leser schwer, sich in der Fülle der Ereignisse, der Anspielun
gen und Personennamen zurechtzufinden. Nicht einmal über
den Coetus werden nähere Angaben gebracht. Für künftige
Qucllcnpublikationen wird man im Interesse einer besseren
Lesbarkeit und Benutzung eine ausführliche Kommentienm
und Erläuterung fordern müssen. Der historische Abstand zu
den Geschehnissen des Kirchenkampfes ist inzwischen zu groß
geworden, als daß noch unmittelbare Kenntnisse vorausgesetzt
werden könnten. Es kann jedoch berichtet werden, daß für die
drei genannten Quellenwerke Beckmanns ein ausführliche!
Registerband in Arbeit ist, der hoffentlich einiges Fehlend
nachholen wird. 2. Karl Immer hat sich in den Coetusbriefen
große Mühe um die Verbreitung von Informationen gegeben
und ihnen darum auch Briefe anderer Verfasser, Dokument
und dergleichen beigefügt. Mit gutem Grund hat der Hrsg
aus diesen Beilagen ausgewählt und weggelassen. Manches
ist an anderem Ort abgedruckt oder unwichtig geworden. Doch
bleibt es bedauerlich, daß diese Auslassungen nicht in Anmerkungen
notiert wurden. Erst dann wäre die publizistische Be
mühung und Leistung Immers voll erkennbar geworden.

Nach der Lektüre der Coetusbriefe wie der anderen, von
Beckmann herausgegebenen Quellentexte drängt sich ein Desiderat
der Kirchenkampfforschung nachdrücklich auf. Aus
zahlreichen Landeskirchen Deutschlands liegen Berichte über
den Kirchenkampf vor. Ausgerechnet aber für die Rheinische
Kirche, die eine gewichtige Rolle gespielt hat, fehlt es an
einer Gesamtdarstellung. Die Leitung der Ev. Kirche im Rhein
land hat die Drucklegung der Quellenwerke durch Zuschüsse
unterstützt. So sei der Wunsch ausgesprochen, daß die rheini
sehe Kirchenleitung auch die Schaffung einer umfassenden gc
schichtlichen Darstellung des Kirchenkampfes im Rheinland
fördern möge. Sie ist dringend erforderlich.

Mülheim (Ruhr) Martin Rohkrämer

Niesei, Wilhelm: Kirche unter dem Wort. Der Kampf der Bekennenden
Kirche der altpreußischen Union 1933—1945. Göt
tingen; Vandenhoeck & Ruprecht 1978. XIII, 340 S. gr. 8° =
Arbeiten zur Geschichte des Kirchenkampfes, in Verb, mit
der Evang. Arbeitsgemeinschaft für kirchl. Zeitgeschichte,
Ergänzungsreihe, 11. Kart. DM 61,—.

Die von der ehemaligen Kommission für die Geschichte des
Kirchenkampfes betreute Reihe „Arbeiten zur Geschichte des
Kirchenkampfes" ist nach der Umwandlung der Kommission
in die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für kirchliche Zeitgeschichte
von den „Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte" abgelöst
worden. Für spezielle Arbeiten über den Kirchenkampf
in der Zeit des Nationalsozialismus, vor allem aber auch für
Darstellungen aus der Feder der an den damaligen Ereignissen
unmittelbar Beteiligten, steht weiterhin die Ergänzungsreihe
der „Arbeiten zur Geschichte des Kirchenkampfes", jetzt
herausgegeben von Georg Kretschmar in München und Klaus
Scholder in Tübingen, offen.

Theologische Literaturzeitung 105. Jahrgang 1980 Nr. 3