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Ausgabe:

1979

Spalte:

140-141

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Kasper, Walter

Titel/Untertitel:

Zur Theologie der christlichen Ehe 1979

Rezensent:

Winter, Friedrich

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fach den Fakten entnommen werden können. Freilich bezweifle
ich, daß diese Behauptung generell stichhaltig ist. Für Gustafson
ergibt sich daraus — typisch für die Bewußtseinslage in der
spätbürgerlichen Gesellschaft —, daß eine gemeinsame Basis
für Wertungen unauffindbar ist. Bichtig aber ist sicher, daß
jeder Entscheidung auch nichtrationale Faktoren zugrundeliegen,
zumal auch Gustafson weiß, daß der Mensch als einziger rational
über Leben und Situation reflektieren kann. Gesetzliche
Festlegungen werden in ihrer Schutzfunktion ernstgenommeu
und müssen dem Leben als der fundamentalen Gabe Gottes
zugulekommen. So gelangt auch dieser Theologe zu dem Ergebnis
, daß kein Selbst ohne das Funktionieren und die Ver-
iimerlichung wenigstens einiger objektiver Werte und Normen
denkbar ist. Uberzeugt von der ursprünglichen Moralität des
Menschen, nimmt er die Wirkung der göttlichen Gnade auch in
der Schöpfung und mithin in der Ganzheit des Lebens wahr
und findet von hier den Weg zu einer auch die Nichtchristen
einbeziehenden Erfahrungsethik.

Paul Lehmann geht es zentral um die Erhaltung des Humanen
, doch auch er ist davon überzeugt, daß Gottes Wille nicht
in Formeln eingefangen werden kann. Bechte Ethik sei nicht
mit Prinzipien und Vorschriften, sondern mit Beziehungen
und Funktionen verbunden. Im Unterschied zu den vorgenannten
Theologen argumentiert Lehmann aber christologisch,
da christliche Ethik auf Offenbarung statt auf Moral orientiere,
und gelangt so bei ekklesiologischer Akzentuierung zu einer
koinonia-Ethik. Allein in der Gemeinschaft des Volkes Gottes
könne Ethik in ihrem freien und kreativen Antwort-Charakter
sich verwirklichen, und diese gilt ihm als die neue und gereifte
Menschheit, in der Gottes Wille aufhört, ein vages allgemeines
Prinzip zu sein. Die streng christliche koinonia schirme den Einzelnen
wie ein Regenschirm gegen das Böse ab. Zwar soll der
Nichtgläubige nicht dehumanisierenden Kräften überlassen bleiben
, aber es gelingt Lehmann nicht wirklich, die Begrenzung
der von Gott ausgehenden gemeinschaftsstiftenden Kraft auf die
innerchristliche Bruderschaft zu überwinden.

Molin kritisiert mit vollem Recht, daß für alle vier Theologen
die Gesellschaft nur eine Art Ausweitung des Personalen
ist, daß also die für viele christliche Ethiker typischen individualistischen
Akzente trotz guten Willens nicht überwunden
werden und die gesellschaftlichen Strukturen in ihrer Eigenständigkeit
wie Variationsbreite unerkannt bleiben. Um diesem
schwerwiegenden Mangel abzuhelfen, befragt er weitere Gesell-
schaftsethiken. Doch begegnet ihm bei William Stringfellow und
Jacques Ellul eine geradezu dämonologische Sicht der Gesellschaft
, die den Christen einzig zu endlosem Widerstand und
zu verachtender Distanz gegen alle weltlichen Ordnungen aufrufe
. Auch bei James Cone hat die Gesellschaft scharfe negative
Konturen, doch es geht bei dem flauptvertreter der Black
Theology in den USA um die spezifische Erfahrung des
Schwarzseins in einer von Weißen beherrschten Umgebung, die
zur Ausbildung von Black Power zwecks realer Befreiung
zwingt. Wo es um die Kritik an der konkreten Gesellschaft von
links her geht, befragt Mohn im übrigen bezeichnenderweise
keinen Marxisten, sondern Herbert Marcuse, den zeitweiligen
i'rotagonisten der „Neuen Linken". Diesem geht es um die Aufhebung
der Eindimensionalität des Menschen in einer Welt
lediglich technologischer Rationalität und Indoktrination. Marcuse
weiß um die Notwendigkeit der qualitativen Veränderung
seines kapitalistischen Gesellschaftsgefüges, vermag aber trotz
seines Postulats, den bei aller Pluralität bestehenden grundlegenden
Konformismus des Establishments mittels einer kritischen
Theorie aufzubrechen, keinen realen Lösungsweg anzubieten
.

So wendet sich Molin schließlich dem dänischen Ethikor Knud
E. Logstrup zu. Dieser geht nicht von der Vcränderungsbedürf-
tigkeit des Bestehenden aus, sondern von der allein menschlichen
Tun vorgegebenen Schöpfungsordnung. Logsirups Ethik
lebt von einem Urvertrauen in das Leben. Zu der vorgegebenen
Lebensstruktur gehört nach ihm die Jnterdependenz der Menschen
ebenso wie die Notwendigkeit, auf die durch anderes
menschliches Leben an mich ergehende ethische Forderung zu
antworten. Diese Forderung bleibe unausgesprochen, so daß

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jeder eine eigene Entscheidung treffen müsse, sei aber radikal,
sofern sie Selbstlosigkeit impliziere. Neben der radikalen Forderung
gebe es freilich soziale Standards als Teil der überindividuellen
Uberlieferung, die der Tyrannei der Formlosigkeit wehren
und in ihrer Fixiertheit vergewissernd und schützend wirken
. Doch sind diese weder unfehlbar noch unveränderlich; sie
können auch Leben vergewaltigen und bleiben auf jeden Fall
ohne die persönliche Bereitschaft zur Liebe unzureichend. Gegen
Kierkegaard, der den Christen als Wanderer durch eine
feindliche, fremde und ihm im Tiefsten gleichgültige Welt begreife
und dadurch letztlich dem Leben nihilistisch gegenüberstehe
, betont Logstrup die Bedeutung der elementaren und
spontanen Lebensäußerungen wie Liebe, Vergebung, Erbarmen
und Vertrauen, die dem menschlichen Leben Ganzheit verleihen
, durch zweckhafte Kalkulation aber zerstört werden.
Logstrup, fraglos einer der tiefgründigsten christlichen Ethiker
der Gegenwart, versteht den Menschen also als umgeben von
guten Strukturen der Schöpfung, die vom Menschen nicht erst
produziert werden. Doch muß man fragen, ob aus dem starken
Vertrauen in das dem Leben seit je innewohnende Gute bei
ihm nicht eine zu harmonische Sicht der Wirklichkeit resultiert,
die den Kampf für das erst zu verwirklichende Gute unterschlägt
. Molin stellt abschließend auch mit Recht fest, daß
Chrislologie, Soteriologie und Ekklesiologie bei Logstrup eine
zu geringe Rolle spielen. Doch so wenig ich Molins Forderung
widersprechen möchte, eine christliche Gesellschaftsethik auch
vom 2. Glaubensartikel her zu entwerfen, muß doch angemerkt
werden, daß schon die christliche Schöpfungslehre um das uns
schlechthin Vorgegebene wie um das von Menschen erst zu
Realisierende wissen muß, wenn sie der Wirklichkeit im Vollsinn
standhalten und gerecht werden will.

Rostock Gert Wrnidelborn

Kasper, Walter: Zur Theologie der christlichen Ehe. Mainz:
Matthias-Grünewald-Verlag [1977]. 95 S. 8° = Grünewald-
Reihe. DM 12,50.

Der Vf. hat sich in seiner gehallvollen Schrift ein großes
Programm vorgenommen. Er möchte sich angesichts der großen
„Diskrepanz zwischen der amtlichen Glaubenslehre der Kirche
und den praktisch gelebten Überzeugungen vieler Gläubigen"
(S. 9) in Ehesachen theologisch hilfreich äußern. Dafür reicht
nicht die Erhebung einzelner moralischer Normen, sondern eine
„Gesamtschau der christlichen Ehe" (S. 10) ist erforderlich in
einer „engen Verknüpfung von Schöpfungs- und Erlösungsordnung
" (S. 11). Daraus soll keine vordergründige Anpassung der
Kirchenlehre, sondern die Freiheit zur Bewältigung der heutigen
schwierigen Ehefragen erwachsen. —

Nach diesen Gedanken in der Einleitung (S. 9—12) trägt Vf.
„Die menschlichen Werte der Ehe" (I., S. 13—33) aus den heutigen
anthropologischen Wissenschaften zusammen, geht besonders
auf die personale Bestimmung der heuligen Eheauffassung
ein, ohne ihre institutionelle Seite zu übersehen und
beschreibt dann den ganzheitlichen Charakter der übe mit den
Elementen personaler, fruchtbarer und in der Treue sich bewährender
Liebe. „Alle diese Aussagen lassen sich freilich nicht
rein ,objekliv' machen. Aus sich sind die aufgewiesenen Phänomene
vieldeutig und auf eine letzte und endgültige Deutung
angewiesen" (S. 33). — Diese Deutung konzentriert Vf. dann
um den Leitbegriff der Sa kramen talität der Ehe (II. Die sakramentale
Würde der Ehe, S. 34—54). Mit Hilfe biblischer Texte
und der kirchlichen Tradition wird die Ehe gesehen als „vorläufige
Schöpfungsgröße" (S. 35) und als „eine Form, durch die
(lotles ewige, in Jesus Christus offenbare Liebe und Treue geschichtlich
vergegenwärtigt wird" (S. 40). Prinzipiell wird das
Wesen der Sakramcntalitäl der Ehe dann als Christuszeichen
(Epiphanie der in Jesus Christus erschienenen Liebe Gottes),
als Sakrament der Kirche (Kirche im Kleinen, Bund zweier
Menschen in der Gemeinschaft der Glaubenden) und als escha-
tologisches Zeichen (Vorwegnahme und Vorfeier der eschatolo-
gischen Hochzeil) genauer bestimmt. Am Rande wird in diesem

Theologische Literaturzeitung 104. Jahrgang 1979 Nr. 2