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Ausgabe:

1979

Spalte:

131-132

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Scharrer, Siegfried

Titel/Untertitel:

Theologische Kritik der Vernunft 1979

Rezensent:

Fritzsche, Hans-Georg

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so daß Hegels eigenständiger Weg gerade aus seiner Kantabhängigkeit
sich gewinnt. Christologie als Darstellung von
Freiheit auszubilden, führt bei Hegel zu in immer weitere ge-
schiehtlich-wellhafte Bezüge ausgreifenden Theorien, indem auch
deren produktiven Grund in sie eingehen zu lassen, unvermeidlich
zur unendlichen Vernunftaufgabe wird. Dabei entgrenzt
die Christusgestall sich immer mehr, d. h. sie als besondere
Vorstellung relativiert sich so, daß sie zugleich im
Ganzen der geschichtlichen Wirklichkeit unausdrücklich präsent
bleibt. Hegels unerhörte philosophische Anstrengung gilt diesem
Prozeß des sich in seine Umgebung hinein verwirklichenden
, so sein wahres Leben erst gewinnenden Ideals. Das fliessende
Ineinanderübergehen der einzelnen Konkretisierungsversuche
ist schließlich die seiner Wirklichkeilsfülle, d. h. dem
Wirklichkeitsgeschehen überhaupt angemessene Tätigkeit.

An die Stelle einer allumfassenden Theorie tritt das unerschöpfliche
Theoriegeschehen, in dem das Wirklichkeitsganze
indirekt gegenwärtig ist. Theologie repräsentiert dabei fortdauernd
die notwendige Frage nach dieser Ganzheit unter selber
partikularen Bedingungen.

Kiel J- Ringleben

Scharrer, Siegfried: Theologische Kritik der Vernunft. Vorwort
v. H. Thielicke. Tübingen: Katzmann Verlag [1977]. 156 S.
8" = Theologische Beiträge, 1. Kart. DM 28,—.
Seit dem vielzitierten Aufsatz von Heinrich Scholz: ,Wie ist
eine evangelische Theologie als Wissenschaft möglich?' (Zwischen
den Zeiten 1931) ist das sog. Kontrollierbarkeitspostulat
aus den wissenschaflstheoretischen Erörterungen von Theologen
nicht mehr wegzudenken. Und seitdem Denker wie Karl
Barth in irgendwie imponierender Weise (oder Pose) zu verstehen
gegeben haben, daß sie sich nicht vom Logiker in ihrer
Arbeit werden irritieren lassen (KD 1/1, s. Reg.), ist es immer
wieder der Ehrgeiz von Theologen (und natürlich auch ihr
wissenschaftlicher Eros samt theologischem Engagement), nun
gerade die Theologie vor dem kritischsten Prüfstand allgemeiner
Wissensehaftstheorie zu rechtfertigen. Im vorliegenden
Fall wird das Problem also von der Forderung nach Beweisbarkeit
und Nachprüfbarkeit besonders der grundlegenden Aussagen
her aufgebaut und zu letzter erkenntnistheorelischer Zu-
spilzung vorangetrieben, mit dem Ergebnis: daß es schlechthin
gesicherte Sätze, „absolutes Wissen, absolute Beobachtung"
(S. 79), nicht gibt. Besonders an empiristischen und positivistischen
Wissenschaftstheoretikern wird dies vorgeführt:
„Alle Positionen, die wir in unserer Abhandlung untersuchten
oder streiften, hatten doch eines gemeinsam: Das Wissen
darum, daß etwas nicht in Ordnung ist.

Bei Wittgenstein war die Umgangssprache ,verhext', bei Carnap
ihre Syntax nicht in Ordnung. Popper litt unter dem Subjektivismus
der Protokollsätze. Er wollte das Subjekt völlig aus
dein Uberprüfungszusammenhang ausklammern, mußte aber
darauf vertrauen, daß es zu keiner babylonischen Sprachverwirrung
kommt. Dies wäre das Ende des Wissenschaftsspiels.
. . Und nach Habermas war unsere Kommunikation ,verzerrt'.
Bei allen entzündete sich an diesem Dilemma die Hoffnung auf
ein ,Neues': Bei Carnap auf eine neue Sprache, bei Popper die
Hoffnung auf Objektivität, Habermas machte den Vorgriff auf
,die ideale Sprechsituation'" (S. 136f).

Aber wie löst Sch. nun den Knoten und bringt die Theologie
hierbei nicht nur ins ,Spiel', sondern sogar in die Rolle einer
grundlegenden Funktion?

Er legt den Finger darauf, daß es keine Kontrolle ohne Ver-
linnen gibt und daß sogar ethische Implikationen aus dem
praktischen Wissenschaftsbetrieb nicht wegdenkbar sind. Ist
Intersubjektivität die einzig mögliche Objektivität, ist sie indes
ihrerseits „wieder anthropologisch und sozialgeschichllich bedingt
" (S. 82), dann ist Vertrauen der „Ermöglichungsgrund
der Vernunft" (S. 91) und „die Plausibilitätsstruktur der Forschergemeinschaft
" (S. 78) das eigentliche Problem. („Wir wollen
nun kurz nachweisen, daß beispielsweise hinter Poppers
methodologischen Regeln seiner Theorie ethische Gründe ver-

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borgen sind:. . . Zum anderen setzt die Falsifikationsforderung
die Bereitschaft voraus, liebgewonnene Theorien fallenlassen zu
können"; S. 80f)

Die Frage ist natürlich, ob damit ein Problem gelöst oder
ein Problem verschoben ist — oder auch mit dem Begriff Vertrauen
' Dinge personalisiert und theologisiert (wenn nicht
mystifiziert) werden, die die Logik der Induktion längst kennt:
die grundsätzlich-philosophische IXegelmäßigkeitsvoraussetzung
(deren Fehlen im antiken Weltbild dort die Induktion noch
nicht erlaubte, die aber im biblischen bzw. „hebräischen" Denken
mit dem Noah-Bund gegeben ist, vgl. S. 93) und die fachspezifische
Einheitlichkeitsvoraussetzung (vom freien Fall der
Körper überall bis zur Statistik des sozialen Verhaltens von
Menschen). Was Vertrauen als „letzter Ermöglichungsgrund der
Vernunft" hierüber hinaus mehr besagt, könnte in einer Ethik
des Wissenschaftlers aufgehen und für jede Sachfrage indifferent
sein. Oder nicht? (s. S. 87 zur „sozial-geschichtlichen Bedingtheit
der Vernunft", was die ,kritische Theorie' wie die Horkheimers
verlange). Das Buch ist so geschrieben, daß man eigentlich
nur im Wechselgespräch konstruktive Kritik üben kann.
Das betrifft vor allem die vielen Apercus zu theologischen Dingen
wie: griechisches und hebräisches Denken, Bilderverbot, Johannesprolog
oder Luthers Wort von der ,Hure Vernunft' und
ein kurzes Programm: „Vorschlag eines neuen Zweistufenplans
theologischer Wissenschaft" (S. 127—131).

Das Problem der Logik ist aber wieder ganz unmittelbar berührt
, wenn die zweite große Wende in diesem Buch (nachdem
,Vertrauen' ins ,SpieI' der Wissenschaftstheoretiker gebracht
wurde) so erfolgt:

„Vertrauen kann sich nicht selbst begründen, Vertrauen muß
sich entzünden. Vertrauen wird geschenkt. ... Da Vertrauen als
letzter Ermöglichungsgrund sich nicht selbst begründen kann,
muß es von Ihm entzündet werden. . . ,Wer sein Leben verliert
' .., der wird es erst gewinnen'' (S. 118f). Sch. weiß, daß
das „nur metaphorisch" geredet sein kann. Er wagt aber auch
die Analogie von der Dynamik und Offenheil des geschichtlich
wirkenden Gotles auf Offenheit und Bereitschaft zur Preisgabe
alles systematisch Verfestigten beim Wissenschaftler. Das bedeutet
für die Theologie sowohl „theologische Selbstkritik"
(S. 130) als auch „Ideologiekritik" überhaupt. Das Buch schließt
mit den Sätzen (die auf mehr zurückblicken als auf etwa nur
eine bekannte Spielart theologischer Apologetik):
„Wahrheit als Vertrauen führt zur Gruppe, zur Gemeinschaft
. . . Die zur Sachlichkeit befreite Vernunft entwickelt mit Lust
und Liebe in Theorie und Praxis die Phantasie sozialer Veränderung
. In dieser von uns entfalteten Weise bekommt Theologie
einen neuen Auftrag: Wissenschaftsseelsorge. Wohl gemerkt
, nicht nur Sorge um die Subjekte, die Wissenschaftler,
sondern auch für Wissenschaft selbst. . . . Theologie in diesem
Sinne würde die umfassendste Falsifikationstheorie entwickeln.
Sie nimmt den Theorien ihren Totalilätsanspruch, weist die
Vernunft auf ihre verslecklen Axiome hin, will den Ermöglichungsgrund
Vertrauen freilegen, um durch Wahrheit als Vertrauen
den Weg zum Leben zu bahnen" (S. 138). Folgt
.loh 14,6.

Wenn sich mit dem Namen Descartes' nicht immer das
Schlagwort von der „Subjekt-Objekt-Spaltung" (S. 125 und oft)
verbände, sondern die Erinnerung an die große und grundlegende
Dialektik von radikalem Zweifel und Neugewinnen von
Vertrauen im Glauben an Güte und Wohlwollen des Schöpfergoties
, dann könnte man dieses Buch als cartesianisch im
besten Sinne charakterisieren.

Herlin Hans-Georg Fritzsihe

Fritzsche, Helmut: Historische und aktuelle Aspekte zum Verhältnis
des Christentums zur Naturwissenschaft (ZdZ 1977
S. 401-416).

Lohr, Charles H.: Aristotelica Britannica (ThPh 53, 1978
S. 79-101).

Lötz, Johannes B.: Die ontologischc Differenz in Kant, Hegel,
Heidegger und Thomas von Aquin (ThPh 53, 1978 S. 1—26).

Malantschuk, Gregor: Die Begriffe Immanenz und Transzendenz
bei Sören Kierkegaard (NZSTh 19, 1977 S. 225-246).

Theologische litcraturzeitung 104. Jahrgang 1979 Nr. 2