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Ausgabe:

1979

Spalte:

124-129

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Emmelius, Johann-Christoph

Titel/Untertitel:

Tendenzkritik und Formengeschichte 1979

Rezensent:

Merk, Otto

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zeigt, daß er hegcliscb gemeint ist — was ja nicht selbstverständlich
ist.

Das Buch ist klar aufgebaut. Eine allgemeine Einleitung geht
von Piatons Dialog Parmenides (er wird „großartig" genannt)
aus und skizziert die Geschichte der Metaphysik bis zu Proklos.
Eine besondere Einleitung befaßt sich mit dem Buch über die
göttlichen Namen. Von Ivänka, K. Kremer, R. Roquez, 0. Semmelroth
und J. Vanneste, die in neuerer Zeit über das Denken
des Areopagiten geschrieben haben, werden diskutiert: ihr VorVerständnis
brachte sie nicht auf eine Problematik, wie sie vorliegendes
Buch behandelt, ein „Hintergrund einer dogmatisch
gekappten Ontologie des hohen Mittelalters" spielt dabei eine
Rolle (456).

Einem (im Hcgelschen Sinne) dialektischen Buch entspricht
eine Gliederung in drei Kapitel, die 21 Paragraphen verteilen
sich fast gleichmäßig auf die Kapitel. Kap. I: Das Verweilen
der THEARCH1A in sich selbst. Kap. II: Der Hervorgang der
THEAUCHIA-HYPOSTATIS in die Seienden. Kap. III: Die Rückkehr
der Seienden zur THEARCHIA. Im proklischen, areopagiti-
schen Neuplalonismus wurzelt Hegels Dialektik sicher. Vf. beschreibt
die THEARCHIA, die Unsagbare, den Über-Golt, die Wesenheitslose
; das II. Kap. redet vom Sein an ihm selbst, vom Leben,
von der Weisheit an ihr selbst, von Engeln, Dämonen, Menschen
, vernunftlosen Lebewesen. Das III. Kap. stellt das monarchische
Prinzip heraus, redet vom Eros als thearchischem
Sub8istenz-Existenz-Modus, von der Rückkehr der Engel und
Seelen und vom göttlichen Frieden. Der Gedankengang des
Areopagiten wird referiert, manchmal wünschte man sich mehr
Text unmittelbar zur Hand, doch der Anhang bietet Stellenangaben
. Zu jedem Abschnitt wird dann der Kommentar des
Aquinntcn geboten, und hier bekommt der Leser bald vorgeführt
, was Vf. eingangs als scheinbare Wiederholung charakterisiert
. In jedem Paragraphen zeigt Vf. von neuem, daß die dionysische
und die aquinatische Konzeption miteinander unvereinbar
seien. Dionysius galt indes als Autorität, also mußte er
kommentiert werden. Was nun dem Kommentator Thomas
nachgewiesen wird, wirft ein denkbar fatales Licht auf Thomas.
Es geht bei Thomas eigentlich, so lesen wir, nach einem Programm
, wie es Goethe beschreibt: im Auslegen seid frisch und
munter, legt ihr's nicht aus, so legt was unter. Thomas
„schwächt ab" (171), er interpretiert, „um seine Absicht zu erreichen
" (178), er geht „taklisch klug" vor (160,180), „projektiert
klug" (164), er läßt mit „Virtuosität seine Interpretations-
kunst spielen, um sein Ziel zu erreichen" (181), „eine Inlerpre-
lalions-Geschicklichkeit von geradezu außerordentlicher Virtuosität
" (359), Thomas war zu klug, als daß man ihm vorwerfen
könnte, er habe die Seins-Lehre des Ps.-Areopagiten aus Naivität
verdeutet (201), „um den Eindruck zu erwecken, er befände
sich hier voll in Übereinstimmung mit Dionysius, wechselt er
äußerst geschickt bei der Textinterprelation die Bezugs-Verhältnisse
. Wo es ihm gerade günstig erscheint, spricht er von der
Liebe Gottes, um aber sofort dann auf die Liebe im allgemeinen
zwischen Schöpfer und Geschöpf überzugehen, sobald sich dadurch
eine Textstelle besser seinem Denken akkomodieren läßt"
(3l9f), er verdreht, nützt sehr geschickt seine Chancen, verzichtet
, „offensichtlich sehr überlegt, vollständig auf den Text
der Ubersetzung" (,299). Einmal wird Thomas behutsam gedeutet
, es scheine, daß er sich nicht geirrt habe (387). Dieser so
charakterisierten Art des Aquinaten, zu „kommentieren", kommt
die Übersetzung des Joh. Sarracenus zu Hilfe (z. B. 24,98,
124, 298, 304, 344, 435).

Der neu platonischen Konzeption, die Gott und Welt dialektisch
miteinander verflochten sieht, steht die aquinatische Deutung
des Seins mit Hilfe der causa-effectus-Lehre, mit Hilfe des
Schemas von Natur - Übernatur gegenüber. Diese wird problemlos
mit der biblischen Verkündigung und dem Dogma identifiziert
, jene konnte aufgrund der legendären Autorität des Dionysius
(Paulusschiiler und Märtyrer) nicht übergangen oder ausgeschieden
werden, so mußte eine Scheininterpretation den
Schein der Kontinuität wahren. Die Schule von Chartres wird
ausdrücklich erwähnt als Ort, wo Dionysisches als christlich
vertreten worden ist. Thomas wolle die Weltüberlegenheit Gottes
retten und dessen Personalität wahren.

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Vf. weiß, daß dem dionysischen Denken das filioque fremd ist.
Thomas habe ihn in Schutz genommen mit der Bemerkung, das
filioque leugne Dionysius natürlich nicht. Seltsam die Bemerkung
des Vf. (180): „sicherlich leugnet Dionysius das filioque
nicht, aber das nur deswegen nicht, weil ihm offensichtlich diese
ganze Problematik nicht bekannt ist, was auf den Mangel eines
genuin trinitarischen Person-Verständnisses zurückgeführt werden
muß" — und mit der Dogmengeschichte nicht zusammenhängen
soll? Die Rolle des Bildes, die Bedeutung des Lichtes
wird erörtert; die THEARCHIA erscheint als Schoß, also als
weibliche Gottheit, was in frühe Rcligionsgeschichte weist, während
die Rede vom absoluten Wissen wieder auf Hegel hindeutet
. Der dionysische Gott sei eigentlich nur im Hymnus zu
verehren — da wird vom Vf. eine Linie zu Rilke gezogen.

Die Differenz des Dionysischen und des Aristotelischen ist schon
oft gesehen worden. Die scharfe Interpretation stellt den Unterschied
überdeutlich heraus. Biblische Exegelen mögen Vf. zustimmen
, wenn er die Vergeblichkeit des Areopagiten beschreibt,
sich bibelnah darzustellen — seiner causa-effectus-Lehre werden
sie auch nicht folgen. Die Frage nach dem eigentlich Christlichen
stellt Vf. zu Recht, aber daß Dionysius und seine Theo-
sopliie einer auch christlich vertretbaren geistigen Erfahrung
entspricht, reflektiert er nicht. Es kann ja nicht von ungefähr
sein, daß „Gnosis" im weiten Sinn des Wortes Gefahr und Gefährte
des kirchlichen Christentums war und ist. Vf.s Grundfrage
entspricht der Iljins nach der Chrisllichkeit Hegels. Wichtig,
aber zu wenig reflektiert, sind Bemerkungen des Vf. über die
Relevanz der Sprache, z. B. bei der Ubersetzung von logos durch
ratio. Das Gewicht einer Übersetzung überhaupt, aber gewiß
auch die Bedingungen der Möglichkeil von Interpretation überhaupt
, von Exegese bringt dieses Buch neu zu Bewußtsein.
Warum hinderte die Vorgänger des Vf. deren „Vor-Verständnis",
die „Kommentierung" durch Thomas auch so zu sehen? Bisher
waren nur die Bibelkommenlare des Thomas der Kritik, unhistorisch
zu sein, verfallen. Scheute man den großen Lehrer,
wie dieser den angeblichen Paulusschüler? Fragen der Ökumene
zwischen Ost- und Weslkirche, Probleme der Suffizienz des Person
-Begriffs: ungewollt rührt das Buch viele aktuelle systematische
Problemstellungen an, obwohl es eine Spezialuntersuchung
der Mediävistik zu sein scheint.

Hoslock Pr.ler Heid rieh

Emmelius, Johann-Christoph: Tcndeuzkrilik und Formcnge-
üchichle. Der Beitrag Franz Overbecks zur Auslegung der
Apostelgeschichte im 19. Jahrhundert. Göttingen: Vandcn-
hoeck & Ruprecht [1975]. 321 S. gr. 8° = Forschungen zur
Kirchen- und Dogmengeschichte, 27. Kart. DM 48,—.
Die in den letzten Jahren sich häufenden Untersuchungen
über Franz Overbeck (1837—1905)1 haben für dessen neutesta-
mentliclie Veröffentlichungen vertiefte Einsichten und wichtige
Ergebnisse gebracht.

Auch in der hier anzuzeigenden Bochumer Dissertation (Erst-
gutachler M. Tetz, Zwcitgutachter E. Gräßer) konnte ihr Vf. auf
grundlegende Beiträge und Zusammenfassungen zu Overbecks
(= im folgenden Ovb) neutestamentlichen und patristischen
Untersuchungen aufbauen, besonders aber auf den vorzüglich
aufbereiteten Overbeck-Nachlaß zurückgreifen2.

Nachdem Ph. Vielhauer in seiner Probevorlesung: „Franz
Overbeck und die neutestamenlliche Wissenschaft"3 die Bedeutung
Ovb's für die Disziplin Neues Testament pointiert umrissen
und damit die Rückbesinnung auf den 'Basler' nach dem
2. Wellkrieg eingeleitet halle. W. <*■. Kümmel probleingesrhieht-
lich mit wichtigen Textauszügen Ovb's die Forschung weiter-
fühicnden Gesichtspunkte herausgestellt4, A. J. Mattill in seiner
Dissertation: „Luke as a Hislorian in Criticism since 1840"'
zentrale Gesichtspunkte in der Auslegung der Apostelgeschichte
durch Ovb aufgedeckt und M. Telz sich speziell der Herausarbeitung
der „Forintngeschichte" in Ovb's Werk zugewandt
halte6, scheint auf den ersten Blick das Thema des Vf. weithin

Theologische Literaturzeitung 104. Jahrgang 1979 Nr. 2