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Ausgabe:

1979

Spalte:

896-897

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Boecker, Hans Jochen

Titel/Untertitel:

Recht und Gesetz im Alten Testament und im Alten Orient 1979

Rezensent:

Herrmann, Siegfried

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Theologische Literaturzeitung 104. Jahrgang 1979 Nr. 12

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Altes Testament

Gross, W.: Verbform | Funktion, wayyiqtol für die Gegenwart?
Ein Beitrag zur Syntax poetischer althebräischer Texte. St.
Ottilien: EOS Verlag 1976. VI 11. 189 S. 8° = Münchener Universitätsschriften
, Fachbereich Kath. Theologie. Arbeiten zu
Text und Sprache im Alten Testament, 1. Kart. DM 28,-.

Als erster' Band einer neuen, von W. Richter herausgegebenen
literaturwissenschaftlichen Schriftenreihe zum Alten Testament
erscheint die Münchener Habilitationsschrift seines Schülers
W. Gross, die gleich eine interessante Fortführung der vor allem
von Richter geförderten Beobachtungen über die genaue Funktion
des hebräischen Verbalsystems im Rahmen der syntaktischen
Strukturen im Verhältnis zu Aussagegehalt und Zeitstufen bietet
(und diese teilweise korrigiert, vgl. 28ff). Wichtig ist diese Fortführung
vor allem, weil sie erstmals in breiterem Umfang poetische
Texte im Alten Testament in den Blick nimmt, für welche die
Geltung der im Bereich von Prosaerzählungen gewonnenen Röss-
ler-Richterschen Inversionsgesetze1 für die consecutio temporum
im Verbalsatz bisher noch nicht nachgeprüft war.

Aus der Fülle des noch Unerforschten greift Gross die Belege
heraus, in denen nach bisheriger grammatischer Erkenntnis die
Präfixkonjugation mit waw consecutivum (wayyiqtol) mit Gegenwartsbedeutung
vorkommt. Möglichen Einwänden, dieses Vorgehen
sei bedenklich, da den jeweiligen Kontexten bei der großen
Zahl der Belege nicht genügend Aufmerksamkeit zu schenken sei,
beugt der Vf. gleich mit der ausdrücklichen Bemerkung vor, er
könne durch die notwendige Beschränkung des Themas nur eine
für Korrekturen offene Teiltheorie vorlegen, die dafür aber an den
einschlägigen Belegen überprüft sei (18). Tatsächlich wird man die
Arbeit nur dann mit Gewinn lesen, wenn man den masoretischen
Text bei allen behandelten Stellen danebenlegt; nimmt man diese
Mühe auf sich, ergeben sich eine Fülle überraschender neuer Einsichten
. Bei der künftigen Kommentierung alttestamentlicher
Schriften sollte man die Arbeit mit Hilfe des Stellenregisters
(178-185) zu Kate ziehen. Nicht zu leugnen ist allerdings, daß
manches von den Ergebnissen auch stark hypothetisch bleibt. Das
gilt besonders für den Fall: wayyiqtol für Gegenwart nach Präfixkonjugation
(Kap. VI; 143-158), wo noch dazu eine größere Zahl
textlich unsicherer Belege auftaucht. Es verwundert nicht, daß
hieran besonders das Hiobbuch reich ist (vgl. auch die Bemerkung
165). Behandelt werden im einzelnen: wayyiqtol für Gegenwart
nach nominalem Fragesatz (Kap. IT; 55-70); Verbale Fortführung
von Partizipialsätzen, wobei der Partizipialsatz einen individuellen
oder generellen vergangenen, einen individuellen zukünftigen,
einen individuellen oder generellen gegenwärtigen Zusammenhang
bezeichnen kann (Kap. III; 71-88); wayyiqtol für Gegenwart nach
Partizip, wobei das Partizip individuelle vergangene, generelle
oder individuelle Sachverhalte der Gegenwart bezeichnen kann
(Kap. IV; 89-124); wayyiqtol für Gegenwart nach Suffixkonjugation
(Kap. V; 125-141); Kap. VI s. o.

Das Ergebnis bestätigt zunächst im Grunde Bekanntes: „wayyiqtol
ist der Suffixkonjugation, nicht der Präfixkonjugation Langform
zuzuordnen" (163). Es wird vornehmlich, erzählend oder
konstatierend, für individuelle vergangene Sachverhalte gebraucht
und bezeichnet an erster Stelle im syndetischen Satz stehend perfekt
ischen Sachverhalt. Für generellen Sachverhalt der Gegenwart
- hierauf legt Vf. großes Gewicht-kann wayyiqtol nur in stilistischer
Verwendung als Erfahrungssatz (,,x hat noch immer")
gebraucht werden; insbesondere wird es dann verwandt, wenn
innerhalb solcher Erlährungssätze Progress bezeichnet werden soll.
Bei den vielen Beispielen, die Vf. hierzu behandelt, wird man sich
allerdings fragen, ob die den Aspekt überscharf herausarbeitende
Formulierung „hat schon immer" noch guter deutscher Stil ist;
an diese Stelle tritt im Deutschen doch vielfach bloßes Präsens
(„Bei Nacht sind alle Katzen grau"). Es ist aber sehr wichtig, daß
Vf. die rein gefühlsmäßige Uberzeugung der Tempora bei der
Wiedergabe hebräischer Poesie in der Kommentarliteratur rügt.
Eine genaue Beobachtung der Aspekte gewinnt dem Sinn in vielen
Fällen tatsächlich schärfere Nuancen ab. Individuelle Gegenwart
vermag wayyiqtol nur „bei solchen Verben, die semantische wie
syntaktische Subsysteme bilden" zu bezeichnen; vor allem bei

Verben für geistige und seelische Zustände. Auch hierin entsprich!
wayyiqtol der Suffixkonjugation. Entscheidend ist die Erkenntnis,
daß wayyiqtol kein wirkliches Vergangenheitstempus ist. ..Alle
Verwendungsweisen erklären sich bei der Annahme, wayyiqfol
bezeichne perfektiven Aspekt" (l(iti).

Im ganzen wird man die Untersuchung als sehr hilfreich empfinden
, den Nuancen des hebräischen Ausdruckes noch genauer
auf die Spur zu kommen. Im gewissen Sinne steht die uralte
Wissenschaft der hebräischen Grammatik tatsächlich noch immer
an ihrem Anfang! Viele, aber meist leicht aufschlüsselbare Tippfehler
. S. 62, A. 27 fehlt.

Bochum Henning Craf Kcvcntluw

1 O. ltössler, Die Prftfixkonjugutiun (Jal der Verba lau NUN im Althebrä-
Iflchen und das Problem der sogenannten Tempora, in: 'AAW 74, 19(32, 125-141;
W.llichter, Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zum ltichterbuch, 1!BB IS,
Bonn 21966; ders., Exegese als Literaturwissenschaft, (iöttingcu 1971.

Boecker, Hans Jochen: Recht und Gesetz im Alten Testament um!
im Alten Orient. Neukirchen: Ncukirchener Verlag des Erzie-
hungsvereins[1976].206 S.8° = Neukirchen^r Studienbücher, 10.

Für die Reihe der Ncukirchener Studienbücher schrieb Hans
Jochen Boecker, Professor an der Kirchlichen Hochschule in
Wuppertal, diese Einführung in „Recht und Gesetz im Alten
Testament und im Alten Orient". Dem Stil der Reihe entspreche!).!
ist es ein sehr lesbares Buch ohne Anmerkungen. Literaturangaben
sind den Kapiteln vorangestellt und in einem selbständigen Verzeichnis
noch einmal zusammengefaßt. Im Vorwort heißt es: „Die
Lektüre des vorliegenden Buches setzt keine juristischen oder
theologischen Vorkenntnisse voraus. Wie es dem Konzept der
Reihe entspricht, sind auch besondere Sprachkenntnisse nicht
erforderlich. Der Leser soll nicht nur mit fertigen Ergebnissen und
Meinungen konfrontiert werden, sondern es wird in diesem .Studienbuch
' versucht, ihn zumindest andeutungsweise mit den Argumenten
bekannt zu machen die zu dieser oder jener Entscheidung
führen, besonders dort, wo die Forschung im Fluß ist."

Das Buch ist eine begrüßenswerte Zusammenfassung der mit
dem Recht und dem Gesetz im Alten Testament zusammenhängenden
Probleme, wie sie sich im Laufe der letzten Jahrzehnte vornehmlich
der protestantischen alttestamentlichen Forschung gestellt
haben, u. zw. unter Berücksichtigung altorientaliseher
Rechtstexte, soweit sie einen spürbaren Einfluß auf das kana-
anäische und israelitische Recht genommen haben. Der verzweigten
und teilweise schwierigen Materie nähert sich der Student in
der Regel nur zögernd. Boeckers Buch macht ihm durch seinen
systematisch klaren Aufbau und durch überlegte Formulierungen
den Einstieg leicht. Der Vf. hat sich durch mehrere Arbeiten als
Kenner der Materie ausgewiesen, besonders durch sein schon 1904
erschienenes Buch „Redeformen des Rechtslebens im Alten
Testament", WMANT 14. Dieser früheren Untersuchung entspricht
im wesentlichen auch der Umkreis der Fragestellungen, die
jedoch jetzt auf eine breitere Basis gestellt sind. Einige Rechts-
korpora des Alten Testaments weiden in eigenen Abschnitten ausführlicher
besprochen.

Die sieben Kapitel des Buches behandeln nacheinander: 1. das
altorientalische Gerichtsverfahren; 2. das alttestamentliche Gerichtsverfahren
; 3. das altorientalisohe Recht vor Hammurabi;
4. den Godex Hammurabi; 5. das Bundesbuch; 0. das Deuterono-
mium und das Heiligkcitsgesetz; 7. das apodikt ische Recht. Über
das Buch verteilt sind sechs Exkurse, die sich mit besonderen
Themen des alttestamentlichen Rechts ausführlicher befassen, mit
dem Zetergeschrei, mit dem Bodenrecht, dem Eherecht, mit Erbrecht
und Adopt ion, mit Stil und Charakter kasuistisch formulierten
Rechts und mit der Talionsformel.

Diese Inhaltsübersicht zeigt, daß in die klassischen Bereiche
alttestamentlicher rechtsgeschichtlicher Forschung eingeführt wird,
wie sie auf dem Hintergrund vorwiegend mesopotamischen Vergleichsmaterials
mit steigendem Interesse seit der Zeit des Ersten
Weltkrieges betrieben worden ist und namentlich durch Albrecht
Alts bahnbrechende Studie über „Die Ursprünge des israelitischen
Rechts" vom Jahre 1934 in eine bestimmte Richtung gelenkt