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Ausgabe:

1979

Spalte:

66-69

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Sasse, Hermann

Titel/Untertitel:

In statu Confessionis; II Gesammelte Aufsätze und Kleine Schriften 1979

Rezensent:

Peters, Albrecht

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BS

Theologische Literaturzeitung 104. Jahrgang 1979 Nr. 1

66

Diese Arbeit hat eine ganze Anzahl von Vorzügen. Die
Beschäftigung mit der Scholastik hat den Vf. für eine differenzierende
Darstellung geschult, die in der kurzen Zusammenfassung
einer Rezension nicht sichtbar werden kann
und viele Probleme berührt. Es werden dadurch Urteile
über Scholastiker und Luther zurechtgerückt. Wie der Vf.
zeigen kann, hat Ockham nicht einfach gelehrt, daß es immer
gut sei, dem Gewissen, auch dem irrenden, zu folgen,
sondern nur dann, wenn es ohne eigenes Verschulden irrt
(90). Es ist nicht selten möglich, Urteile Luthers über scholastische
Lehren als unzutreffend zu verstehen. Es können
dann Aussagen von Scholastikern Luther entgegengehalten
werden, die ihm zu widersprechen scheinen. Ein solcher Fall
liegt bei den Thesen 35 und 36 der „Disputatio contra scho-
lasticam theologiam" vor. Luther wendet sich gegen die
Behauptung aller Scholastiker, daß eine unüberwindbare
Unkenntnis alles entschuldige. Luther bezieht diese Unkenntnis
auf Gott, den Menschen und die guten Werke.
Kenntnisse darüber zählen die Scholastiker zu den von der
synteresis oder der ratio recta wahrgenommenen Prinzipien.
Die unüberwindliche Unkenntnis des Gewissens beziehen
sie hingegen nur auf einzelne Taten. Luther ist das nicht
unbekannt, vielmehr wendet er sich gerade gegen diese
Grundlage, daß diese Prinzipien erkennbar seien und daß —
wie Aristoteles lehrt — Unkenntnis entschuldigt. Luther betont
damit, daß der Mensch ohne Glaube unfähig ist, ein
Urteil zu fällen, wer er vor Gott ist (243 f.). Dieses Bemühen
des Vf., bei antischolastischen Aussagen Luthers davon auszugehen
, daß Luther die angegriffene Lehrmeinung wirklich
kennt und von seiner neuen Sicht aus sinnvoll kritisiert,
verdient verstärkt aufgenommen zu werden.

Wohltuend ist auch, wie der Vf. sowohl das Gemeinsame
als auch das Trennende der beiden spätscholastischen Schulen
beschreibt, so daß er schließlich zeigen kann, wie Luthers
Gewissensvorstellung mit der gesamten scholastischen Anschauung
bricht, indem er ihre aristotelische Grundlage in
der Gewissenslehre aufgibt. Der Vf. hütet sich vor Vereinfachungen
, indem er auch Aussagen aufnimmt, die zwar mit
vorkommen, aber eine untergeordnete Rolle spielen, so bei
Thomas von Aquin, daß das Gewissen sowohl vor als auch
nach der Tat urteilt. Er hält aber zugleich fest, daß bei ihm
das Interesse auf dem vorausgehenden Urteil liegt. Eine
solche Betrachtungsweise ermöglicht, Gewissensvorstellungen
nach dem Wert zu unterscheiden, den die einzelnen
Aussagen innerhalb der gesamten Lehre erhalten; denn
etwas Neues drückt sich nicht nur darin aus, daß es noch
nie vorgekommen ist, sondern viel häufiger darin, daß es
einen neuen Stellenwert erhält.

Der Vf. stellt die richtige Behauptung auf, daß Luther aus
der spätmittelalterlichen Theologie hervorgegangen ist und
mit ihr dann gebrochen hat (15). Wie schwer es ist, diese Erkenntnis
unter geistesgeschichtlichem Gesichtspunkt konkret
aufzuzeigen, wird überaus deutlich. Steven E. Ozment
hat gefolgert, Luthers synteresis-Vorstellung sei — soweit
sie auf die Verbindung mit dem Willen zielt — von mystischen
Vorstellungen mit geprägt. Demgegenüber behauptet
der Vf., Luther habe Ockham tiefer als Biel erfaßt und weiterentwickelt
. Außerdem stellt er die These auf, für Luthers
doppelte synteresis gäbe es in der Scholastik kein Gegenstück
(165.160). Reicht das Dargebotene zu solchen Urteilen
aus?

Der Vf. stellt keinen Vertreter der Via antiqua aus dem
15. Jh. vor, verfolgt nicht den Einfluß des Heinrich von
Gent — der sowohl die synteresis als auch die conscientia der
voluntas zuteilte — und geht nicht ausführlich genug auf die
von Luther zur Kenntnis genommene Mystik ein. Auch sollte
nicht mehr übersehen werden, daß im ausgehenden Mittelalter
die Renaissance als neue geistige Kraft in Erscheinung
tritt. Luther hat bereits in seiner ersten Psalmenvorlesung
unter Berufung auf die hebräische Sprache, deren Kenntnis
er den Humanisten verdankte, behauptet, daß die Heilige
Schrift auf die gesamte Person ziele, wo die Scholastiker
unter Berufung auf Aristoteles nur an einzelne Seelenvermögen
denken. Muß diese Einsicht für Luthers Hinwendung
zur Person als Einheit nicht von Bedeutung sein? Aber auch
dann, wenn — soweit es dem einzelnen Wissenschaftler
möglich ist — alle erreichbaren Quellen ausgeschöpft würden
, was wissen wir von der Auslegung der uns erhaltenen
Werke? Kann nicht schon ein Kommentator Biels in seiner
Vorlesung einen doppelten synteresis-Begriff vorgetragen
haben? Und was heißt das, daß ein solcher doppelter Begriff
nicht aus einer Synthese mehrerer scholastischer Ansichten,
sondern aus dem konsequenten Weiterdenken eines bestimmten
Anstoßes entstanden ist? Kann das Denken überhaupt
in dieser Weise getrennt werden? Es erscheint hilfreicher
, an die Stelle solcher scholastischer Denkaktvorstellungen
mehr Luthers Gesamtschau der Person zu stellen,
also auch in der Lutherforschung den Weg from action to
person zu gehen.

Ohne Zweifel ist eine geistesgeschichtliche Untersuchung
von großem Wert, wenn sie den Kontext erhellt, in dem
Luther denkt, wenn für uns sichtbar wird, was Luther assoziiert
, ohne es ausdrücklich zu benennen. Jedoch ein Streit
darüber, auf welchem Denkweg einzelne Vorstellungen entstanden
sind, wenn Luther selbst keine Aussagen darüber
macht und die unterschiedlichen Lösungen keinen unterschiedlichen
Lehrinhalt aufweisen, erscheint wenig fruchtbar
. Mehr Beachtung verdienen dagegen die Herausforderungen
seiner Umwelt, seine geschichtliche Erfahrung und
damit die Motivation seiner Antworten. Der Vf. weist von
seiner Einsicht in die Entwicklung des Gewissensbegriffes
seit dem Hochmittelalter Darstellungen von Karl Holl, Günter
Jakob (in der Bibliographie als Jacob Günter), Yrjö
Alanen, Emanuel Hirsch, Bernhard Lohse, Steven E. Ozment
u. a. zurück, besonders existentielle Interpretationen, die
Luthers eigene Gewissenserfahrung für die Entstehung seiner
Anschauungen betonen. Der Vf. hat in der Tat wichtige
Korrekturen anbringen können, aber zugleich Luthers geschichtliche
Erfahrungen zu wenig mit aufgenommen, um
die gesamte Komplexität von Luthers Entwicklung in bezug
auf die Vorstellung über das Gewissen zu erfassen.

Leipzig Helmar Junghans

Bantle, Franz Xaver: Evangelienkritik und Glaube eines
führenden Wessenbergianers — Pfarrer Joseph Sprißler
und das „Leben Jesu" des Dav. Fr. Strauß (MThZ 28, 1977
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Bernard, Charles-Andre: Les formes de la Theologie chez

Denys l'Areopagite (Gr. 59, 1978 S. 39-69).
Biffi, Inos: Figure medioevali della teologia: la teologia come

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Cur deus homo (FrS 36, 1976 S. 177-191).
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(RHPhR 58, 1978 S. 27-36).
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Russo, Frangois: Theologie naturelle et secularisation de la

science au XVIII^me si£cle (RechSR 66, 1978 S. 27-62).

Systematische Theologie: Allgemeines

[Sasse, Hermann:] In Statu Confessionis, II. Gesammelte
Aufsätze und Kleine Schriften, hrsg. von F. W. Hopf. Berlin
und Schleswig-Holstein: Verlag Die Spur [1976]. 394 S.,
1 Porträt 8°. DM 70,-.

Wie der 1966 erschienene erste Band der Schriften des
lutherischen Konfessionstheologen Hermann Sasse (vom