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Ausgabe:

1979

Spalte:

873-882

Autor/Hrsg.:

Heidrich, Peter

Titel/Untertitel:

Theologia experimentalis 1979

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873

Theologische Literaturzeitung 104. Jahrgang 1979 Nr. 12

874

Theologia experimentalis

Literatur zur Meditation

Von Peter Heidrich, Rostock

Muß, wer Wege zur Gesundheit zeigt, selbst gesund sein? Muß,
wer Musik und Musiker wissenschaftlich behandelt, selbst musikalisch
sein? Oder ist eben das für Wissenschaft bezeichnend, daß sie
sich geschieden weiß von dem trefflich so genannten Gegenstand
ihres Forschens? Diese Fragen finden unterschiedliche Antworten.
Auch für die Wissenschaft von der Religion gilt: der von einem
Gott Ergriffene ist dem einen der einzig legitime Interpret, dem
anderen erscheint er als voreingenommen, da sein Umgang mit
Gott ihn hindern werde, zu erkennen, was „hinter" Gott und
Glaube sich eigentlich verberge. Selbst die Unterscheidung von
Theologie und Religionswissenschaft reicht nicht hin, um die
gegensätzlichen Antworten zu verteilen. Es gibt ergriffene Religionswissenschaftler
und unberührt bleibende Theologen. Was
sich als zwiespältig im Wissenschaftsbegriff kundtut, ist Erbe
unserer Kultur; es wirkt sich im Bildungsweg eines Geistlichen
aus. Yolkskirchliehes Leben mag im 19. Jh. genügend Geborgenheit
gegeben haben, so daß geistige Distanz zu den tragenden
Grundlagen möglich, ja, zeitweilig nötig erschien. Heute bedeutet
es meistens ein Dilemma, dem in bloße Ausbildung auszuweichen
Bioher der bequemere Weg ist. Daß es aber gerade unsere Erleichterungen
sind, die wir zu bezahlen haben, wußte schon ein Außenseiter
des vorigen Jahrhunderts.

Meditation als Vollzug, als Übung und meditative Literatur als
Reflexion dieses Vollzugs suchen die Mitte zwischen Extremen,
deren Isoliertheit sich als unfruchtbar erwiesen habe. Wer im
Feuer von Charismen steht, lebt von einem himmlischen Geschenk
, sieht aber oft im Weltwissen (auch im theologischen) nur
Torheit. Er folgt einem fragwürdigen Geschichtsbild, das die
Rationalität verneint, statt ihren Sinn und damit ihre Grenze zu
zeigen. Der Gang der Bewußtseinsgeschichte wird nicht integriert,
ausgeschlossene Wirklichkeit rächt sich. Demgegenüber entwirft
ßine alles objektivierende und hinterfragende Ausbildung ein Geschichtsbild
, das die Kräfte des Bewußtseins von ihrem Ursprung
schon isoliert sehen möchte. Damit verschließt sie sich nicht müdem
Unverfügbaren, sondern veisagt sich auch dem leiblich-seeli-
schen Grund des Bewußtseins. Leibliche Übung und Achtsamkeit
aui' vorbewußtes Seelisches bekommen höchstens in schmerzfrei
gedacht er (lesundheit ihren Zweck, eine etwaige Rolle im Krkennt-
nisprozeß wird ihnen nicht zugetraut. Eine völlige Distanzierung
von dem. was uns „an-geht", ist indes lebend nicht vollziehbar, es
bilden sich Kümmerformen heraus, in denen man sich auf das uns
Tragende und auf den uns Tragenden einläßt. Das große Angebot
meditativer Literatur verschiedenster Herkunft, begleitet von
einer offensichtlich nicht ausreichenden Einübung, erinnert un-
überhörbar daran, daß das Wissenschaft treibende Subjekt selbst
hineingezogen ist und umschlossen von dem, das es sich zu seinem
Gegenüber macht: der Arzt vom sterbliehen Leben, der Musikwissenschaftler
vom Schwingen der Musik, der Priester vom mit
ihm umgehenden Gott. .luvenals Wort spricht wohl nicht nur zur
Ökologie, sondern auch zur Theologie: summum crede nefas,
animam praeferre pudori et propter Vitam vivendi perdere eausas.
Was mag ..pudor" für uns Theologen sein?

Uns liegt eine Auswahl meditativer Literatur vor. Daß sie nur
aus dem christlichen Lebensbereieh stammt, ist nicht ganz ohne
Willkür. Die Kirche muß im Abendland ihren Anspruch, Mensehen
zu bilden und tief zu prägen, heute mit anderen Religionen
und daraus abgeleiteten Strömungen, aber auch mit einer von ihr
getrennten Psychagogik teilen. Das damit gegebene Problem wird
in christlicher Meditationsliteratur, soweit sie nicht schlechthin
erbaulich bleibt, vielfältig erörtert: die Positionen reichen von
Verdammung außerchristlicher Übungen als teuflischer Versuchung
bis zur vollen Integration als einer Von der Vorsehung gewollten
Vorschule des Evangeliums - es wiederholen sich die Probleme
des Frühchristentums, die damals griechischen Formen
galten.

Unsere Auswahl entbehrt auch nicht einer gewissen Willkür, was
das Anliegen der einzelnen Bücher betrifft. Da sind Sammlungen
von Predigten und Gebeten, die als Verkündigung aufgenommen,
die betend nachvollzogen werden wollen. Aber da sind auch Bücher
, die im Meditieren unterweisen, doch diese Unterweisung
auch reflektieren. Nach Vermögen der Autoren und der gemeinten
Leser sind die Bücher unterschiedlich.

Zu besinnlichem Schauen wollen Bildbände1 anleiten. Rez. findet
schöne und weniger gelungene Photographien. Vielleicht ist an
Konfirmanden gedacht, die mit diesen Bildern und den ihnen beigegebenen
Gedanken umgehen sollen. Vielleicht braucht für solche
Jugend nicht (nur) das Beste gut genug zu sein. Ein älterer Mensch
mag Bilder etwa vom guten oder mißglückten Miteinander von
Menschen dürftig finden, gewollt, vielleicht gestellt, ein junger
Mensch mag da anders sehen. Jesuanische Kritik mit Bildern gutgekleideter
Bürger oder biederer Menschen zu vergegenwärtigen,
kann sehr vordergründig wirken, freilich gehört zu einem Buch
auch der gesellschaftliche Kontext, in dem es erscheint.

Alles ist Gleichnis.3 Moderne Kunst, Gegenstände. Baumringe -
alles erweist sich als doppelbödig, v. Balthasar formuliert« ein
Grundwort meditativer Begegnung: Man kann alle Dinge doppelt
sehen, als Faktum und als Geheimnis. Die Gedanken zu den Bildern
klingen in einem weiter, verändern sich, wirken Neues. Dazu
anzuregen, ist ein Verfasser ja bereit, wenn er meditativ schreibt.
Denn das ist der Unterschied meditativen und reflektierten Stils:
diesem geht es um Präzision, jener lebt von Prägnanz. „Abschlagen
" und Abschneiden schafft Genauigkeit, doch neues Leben
drängt aus dem. was „trächtig" ist.

.. Erfahrungen, für den Alltag notiert"3 - dieser Untertitel drückt
aus, an was für Leser gedacht ist. Als ABC des Glaubens waren
diese Beiträge in einer Zeitschrift Veröffentlicht worden. Uber das
ABC kann man. wird man hinauswachsen. Doch bei allen später
formulierten Krkenntnissen wird das ABC gebraucht. Potentiell
ist alles im ABC enthalten. Es wird keine neuartige theologische
Theorie gesucht und vorgestellt, hier will Literatur im Alltag verwendet
werden. Das gilt auch von den Andachten und den meditativen
Texten und Gebeten. Hier zielt nichts auf Auseinandersetzung
, sondern alles auf - wenn das Wort erlaubt ist - lnein-
andersetzung. Gibt es eigentlich andere als „meditative" Gebete?
Es liegen Modelle vor, wie vor Jahren bei Quoist. Die Verfasser*
gehen von den Lebensituationen aus. Wollten wir philosophisch
bestimmen, was hier gemeint ist, dann sagten wir, daß im Endlichen
Unendliches aufleuchtet. Bibel wird angeeignet, und der
betende Leser muß dafür sein eigenes Maß finden. Hennings Hausandachtsbuch
ist kein Stundengebet, sondern ein ..Wochengebet
", für jede Woche eine Andacht, ein Gebet. Doch das Buch
klagt nicht, das sei zu wenig. Es bringt schon in der 1. Woche den
Leser auf den Weg, doch fromm zu sein wie Noah.

In Gottesdienstgebeten5 betet eine Gemeinde, auch wenn nur
einer sie spricht. Es fällt auf, wie Gebete in der I. Person Singular
und Plural wechseln, anscheinend ohne Plan. Römische Kunstprosa
schuf einmal Gebete, die Jahrhunderte hindurch die Messe
prägten - letztlich sind solche Gemeindegebete wohl eine Frage
an die Dichter, die stiften, was bleibt. Die Verfasser wissen, sie
legen „Versuche zur Anregung" vor. „die eigene Sprache zu finden,
die zum Schweigen sammelt". Darum ist ihnen zu danken. Manches
Gebet (S. 51 z. B.) wird sich gut erschließen, wenn eine Passionsandacht
dahin geführt hat. Bei Eingangsgebeten kommt Rez. die
Frage, wieweit sie die gerade versammelte Gemeinde zu sehr im
einzelnen festlegen auf positive wie. besonders, negative Erfahrungen
. S. 93 etwa: „in dieser Woche ging alles so rasch Vorüber,
mußten wir an der Oberfläche bleiben . . . glaubten wir, alle tieferen
Gedanken zurückdrängen zu müssen . . ." Vielleicht ist das zu
sehr die Situation eines Anfangenden. Daß es immer noch weiter
in die Tiefe geht, weiß der im Glauben Gewachsene auch, er sagt es