Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1979

Spalte:

851-853

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Gestrich, Christof

Titel/Untertitel:

Neuzeitliches Denken und die Spaltung der dialektischen Theologie 1979

Rezensent:

Fischer, Hermann

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

851

Theologische Literaturzeitung 104. Jahrgang 1979 Nr. 11

praktischer Absicht" (271-296), wird vom Vf. noch einmal herausgearbeitet
: Auf die Grundfrage der Geschichtsphilosophie
sei im Sinne Tillichs eine vorläufige Antwort möglich: »Der
absolute Charakter eines Kairos wird mit der Relativität des
Geschichtsprozesses verbunden durch den Mut zur Gegenwärtigkeit
", wenn auch in den jeweiligen Grenzen einer bestimmten
Situation (279). Hier allerdings werde eine Schwäche in
Tillichs Geschichtstheologie sichtbar: Der geforderte Mut zum
Sein werde sogleich wieder in Frage gestellt, „wenn der Mensch
. . . seine Räumlichkeit und Zeitlichkeit in der Angst vor Kontingenz
und Identitätsverlust" erfahre (ebd.). Eine weitere
Schwäche sieht der Vf. darin, daß durch eine zu starke Konzentration
auf die Gegenwart (den „Kairos") der notwendige
Bezug auf die Vergangenheit verkürzt werde. Denn dadurch
werde „das Problem der Tradition und ihrer Kontinuität"
ebenso an den Rand gedrängt „wie das Problem der Zukunft
in der christlichen Eschatologie" (292).

Der Vf. fordert, über Tillich hinausgehend, „eine christliche
Theorie des Entfremdung überwindenden geschichtlichen Handelns
" (295). An diesem Punkt wären gegen die sonst sehr profunde
und klarsichtige Darstellung Bedenken anzumclden.Denn,
wenn „Entfremdung" als Symbol für „Erbsünde" verstanden
werden soll (wie es bei Tillich intendiert ist), so dürfte geschichtliches
menschliches Handeln immer nur als ein relatives
Gegengewicht gegen ihre symptomatischen Auswirkungen
wirksam werden, nicht aber den durch den Begriff umschriebenen
Tatbestand des Abfalls von Gott beseitigen können.

Potsdam-Babelsberg Ilse Bertinetti

Gestrich, Christof: Neuzeitliches Denken und die Spaltung der
dialektischen Theologie. Zur Frage der natürlichen Theologie
. Tübingen: Mohr 1977. XII, 409 S. gr. 8° = Beiträge
zur historischen Theologie, 52. Lw. DM 98.-.

In den letzten Jahren hat die Theologie Karl Barths ein
spürbar neues Interesse gefunden, es wird bereits von einer
Barth-Renaissance gesprochen, auch in der vorliegenden Monographie
(VII, 11), der Tübinger Habilitationsschrift des Vf.
für das Fachgebiet der Systematischen Theologie. Neu ist dieses
Interesse darin, dafj das Verhältnis der Theologie Barths
zur Neuzeit mit einem besonderen Schwerpunkt versehen und
unter anderen als den bisher vorherrschenden Kontrast-Gesichtspunkten
erörtert wird. Erinnert sei hier nur an die
Studien von T. Rendtorff, K. G. Steck, D. Schellong, F. Wagner,
W. Spam, F. W. Graf und W. Groll. Mit diesen Autoren ist
auch Gestrich der Meinung, „daß Barth als /Theologe der Neuzeit
' entdeckt werden muß" (6). Allerdings beschränkt G. diese
Perspektive nicht auf die Theologie Barths, sondern versucht
sie für eine Interpretation der sog. dialektischen Theologie
insgesamt fruchtbar zu machen. „Es erscheint heute dringlich,
den .erratischen Block' der dialektischen Theologie - diesen
vermeintlichen Fremdling aus fernen Offenbarungswelten -
in seiner spezifischen Funktion innerhalb der Zusammenhänge
und Widersprüche des neuzeitlichen Denkens zu begreifen"
(6f). Damit ist das Programm dieser groß angelegten Arbeit
umrissen, das auf 400 Seiten eine minutiöse, aspektreiche und
höchst interessante Ausarbeitung erfährt, die im Ergebnis den
Charakter einer Gesamtdarstellung der dialektischen Theologie
annimmt. Der Untertitel bezeichnet dabei das Problem, dessen
kontroverse Diskussion unter den einst verbundenen Mitstreitern
die Spaltung ausgelöst und in der Auflösung der gemeinsamen
Zeitschrift „Zwischen den Zeiten" manifest gemacht
hat. Freilich darf der Begriff der natürlichen Theologie dabei
nicht zu eng gefaßt werden, er umgreift Probleme der Anthropologie
ebenso wie solche der Hermeneutik, der Geschichte
und der Ontologie.

Nach einer Einleitung (1-14), die Programm und Zielrichtung
der Arbeit erläuternd skizziert, werden in einem 1. Teil
die „Voraussetzungen der Spaltung" (15-165) dargestellt. Obwohl
in der Kritik des 18. und 19. Jh. und in dem Willen zu
einer neuen Theologie des Wortes Gottes miteinander verbunden
, lassen sich doch schon in der Anfangszeit bei K. Barth,

E. Brunner, F. Gogarten und R. Bultmann unterschiedliche
theologische Interessen und Intentionen wahrnehmen (15-109).
Mit Recht wird die besondere Stellung E. Brunners in diesem
Kreise hervorgehoben, der anders als die übrigen nicht nachhaltig
durch die sog. liberale Theologie geprägt worden ist;
für den geistigen Ursprung der dialektischen Theologie ist
sein Beitrag nicht sehr hoch zu veranschlagen, seine Schriften
haben eher den Charakter einer „Begleiterscheinung" (28). Die
Verschiedenartigkeit der theologischen Entwürfe tritt alsbald,
u. a. in der Beurteilung des Neuprotestantismus, deutlicher
zutage. Die Konstruktion des reinen Negativ-Bildes bewährt
sich nicht, und in den wechselseitigen Korrekturen der dialektischen
Theologen an ihrem Verständnis des Neuprotestantismus
sieht der Vf. den Ansatz zu einer produktiven Auseinandersetzung
mit den unerledigten Anliegen dieser kritisch
distanzierten Theologie (18). Eine eingehende Analyse erfahren
die historischen und systematischen Urteile Barths zur
Neuzeit-Thematik (110-143). G. ist der Überzeugung, daß
Barths Theologie - wenn auch nicht ausdrücklich, so doch der
Sache nach - viel stärker als bisher angenommen auf die
Probleme der Neuzeit bezogen ist, wie sie vor allem Hegel auf
den Begriff gebracht hat (zum Verhältnis Barth - Hegel vgl.
u. a. 170, 235-249, 261). In diesem Zusammenhang formuliert
er seine Kohärenzthese, den „wichtigsten Interpretationsgesichtspunkt
dieser Monographie": „Gerade deshalb stehen
Theologie und Philosophie in der Neuzeit... in einem kohärenten
geistigen Zusammenhang, weil es ständig ... zu merkwürdigen
Verschiebungen zwischen den hier und dort vorhandenen
Erkenntnissen gekommen ist. Und es ist eine historische
Tatsache, daß jeder dieser beiden Wissenschaften dann
auch in ungesuchter Zwangsläufigkeit die Aufgabe zugefallen
ist, gewisse, in der Partnerdisziplin verdrängte Probleme und
Einsichten festzuhalten und sie so bis zu einem späteren Zeitpunkt
aufzubewahren, zu dem sie dann von der anderen
Wissenschaft wieder .eingeholt' werden konnten" (128; vgl.
auch V). Berücksichtigt man diesen - oft verdeckt - wirksamen
Anteil philosophischer Problemstellungen an der theo
logischen Diskussion, dann lassen sich die im Lager der dialektischen
Theologie aufgebrochenen Gegensätze in größere Zusammenhänge
einordnen und sinnvoll aufeinander beziehen.
Der Darstellung der Kontroversen in diesem Sinne ist der
2. Teil der Arbeit („Der Streit um Natur und Gnade", 166
380) gewidmet. G. gliedert nach thematischen Schwerpunkten:
Anthropologie/Ontologie/Hermeneutik (166-295), Offenbarung
(295-327), Ordnungen (328-342), Anknüpfung (342-380), und er
spitzt diese Themen auf die Frage nach der natürlichen Theologie
zu, weil er meint, ihr komme im Unterschied zu den
anderen Problemen der dialektischen Theologie in der gegenwärtigen
Situation eine besondere Bedeutung zu. Freilich wird
dabei der alte Problembestand umformuliert. Zur Diskussion
steht nicht mehr das Verhältnis von allgemeiner und spezieller
Offenbarung oder die Funktion des allgemeinen Wahrheitsbewußtseins
bzw. des natürlichen Selbstverständnisses des
Menschen für die Theologie, sondern umgekehrt die Frage,
„ob Gott in unserer Wirklichkeit überhaupt einen Ort" habe,
ob die Theologie selbst für die allgemeinen gesellschaftlichen
und anthropologischen Problemstellungen noch von Belang sei
(167). Die Auseinandersetzung der dialektischen Theologie mit
der natürlichen Theologie kann nach Ansicht des Autors deshalb
kein letztes Wort zur Sache sein, weil sie gerade diesen
„geschichtlichen Gestaltwandel nur unzulänglich erfaßt hat"
(384). Wohl hat Barths Verwerfung der natürlichen Theologie
einen eminent neuzeitlichen Sinn, denn sie erschließt sich nur
auf dem geschichtlichen Hintergrund der Nihilismuserfahrung
und der neuzeitlichen Krise der theistischen Metaphysik (204),
aber diese geschichtlichen Zusammenhänge werden eben nicht
eigens theologisch durchgeklärt (384ff). Aus diesem Grunde
bleibt auch Brunners Reaktivierung einer natürlichen Theologie
in sich widersprüchlich; sie will unter Berufung auf
reformatorische Positionen neuzeitliche Problemstellungen
bewältigen, ohne sich dieser Diskrepanz bewußt zu sein
(196ff, 302ff). Und ebenso wird schließlich der Gegensatz
zwischen Barth und Gogarten aus der fehlenden Einsicht in