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Ausgabe:

1979

Spalte:

751-752

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Herkenrath, Silvia

Titel/Untertitel:

Politik und Gottesreich 1979

Rezensent:

Nowak, Kurt

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Seite 1

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751

Theologische Literaturzeitung 104. Jahrgang 1979 Nr. 10

752

Organisation - auch unter volkskirchlichem Vorzeichen - ZU
dienen hatte.

Korrigendum: Pastor Walter Michaelis (nicht Wilhelm): 99,
259, 289.

Leipzig Kurt Meier

Herkenrath, Silvia: Politik und Gottesrcicli. Kommentare zur Weltpol
itik der Jahre 1918-1945 von Leonhard Ragaz. Zürich: Theologischer
Verlag [1977]. VIII, 283 8. 8°. Kart, sfr. 27,-.

tiegenstand der vorliegenden Studie sind die politischen Kommentare
und Lageberichte von Ragaz in den „Neuen Wegen".
Ragaz pflegte sich zweimal in der Woche im Lesesaal der schweizerischen
Museumsgesellschaft dem Studium der Tagespresse hinzugeben
und auf der Grundlage dieser Informationen das Weltgeschehen
ans seiner religiös-sozialen und heilsprovidentiollen Perspektive
zu beleuchten.

Die Vfn. ist an Ragaz nicht als politischem Kommentator
schlechthin interessiert, sondern geht der Frage nach, wie sich die
theologischen Axiome bei Ragaz (christologisch begründeter Reichgottesglaube
, Dialektik von absoluter und relativer Hoffnung, prophetisches
Politikverstiindnis - vgl. Kap. 1, S. 1-33) in der konkreten
Auseinandersetzung mit der politischen Weltlage 1918-1945
niederschlugen. Das Politik Verständnis von Ragaz war gegen die
Politik der „Welt" als sich selbst genügender Ablauf von Macht-
ond Interessenkämpfen gerichtet und auf das übernatürliche geistige
Reich der Ordnung«- und Liebesmaeht Gottes hezogen. Bei
der Fülle der Ragaz'schen Kommentaro war die Vfn. genötigt, sich
auf zentrale Themen zu beschränken: Versailler Vertrag, europäische
Nachkriegsordnung, italienischer und deutscher Faschismus,
Spanienkrieg. zweiter Weltkrieg (Kap. 11). Ein gesondertes Kapitel
(Kap. Iii) bleibt dem Völkerbund vorbehaltender in Ragaz'
universalistischer Vision einer theokratisch bestimmten Völkergemeinschaft
eine entscheidende Rolle spielte.

Zweifellos hat der theologische Raster, den Ragaz an die Weltpolitik
anlegte, sein konkret-politisches Urteil nachhaltig geprägt.
Nach dem Ende dos ersten Weltkrieges ist Ragaz Von der Hoffnung
auf eine ..neue Welt" erfüllt. Seine politische Publizistik versucht
sich übei1 die Nationalismen der Sieger und Besiegton zu erheben.
Sei steht harte Kritik an Deutschland als Hauptschuldigem am
Krieg neben scharfen Urteilen über Frankreich. Große Erwartungen
setzte Ragaz in Wilson. Die publizistische Behandlung der
Nachkriegsfragen zeigt die ,,antinomische" Struktur im Denken
von Ragaz, der Bich als prophetischer Mahner zu Gerechtigkeit,
Frieden und (lewalt losigkeit verstand. Das schloß Fehlurteile nicht
aus. Der Rapalloverfing ist für Ragaz ein ideologischer Verbund
von „reaktionärem Alldeutscntum'' und ..weltrevolutionärem
Kommunismus" (07). während Locarno von ihm als Sieg des
Rechtsprinzips über das Gewaltprinzip bewertet wird.

Die Eigenarten der Ragaz'schen Analysen erklären sich aus seinem
theokratischen. genossenschaftlich-demokratischen Gemein-
schaftsbild und seinem pazifistischen Grundanliegen. Die Vfn.
macht allerdings deutlich, daß Ragaz kein ..doktrinärer" Pazifist
gewesen ist. Die Haltung der Kirchen zum Münchner Abkommen,
eine „der allerschändlichsten Taten dor Gewalt und des Verrats an
allem göttlichen und menschlichen Recht, «eiche die Geschichte
kennt" (145), war für Ragaz Anlaß zu fragen, ob ein „Friede um
jeden Preis" erstrebenswert sei (140). Klarsieht bewies Ragaz auch
in der Bewertung der faschistischen Bewegungen in Italien und
Deutschland. Es gelang ihm, wichtige Züge im Ideologiekonglo-
morat und im politischen Programm von italienischem Faschismus
und Nationalsozialismus kritisch aufzuweisen und anzuprangern.
Irritationsmomente sind dadurch gegeben, daß Ragaz zwischen
Faschismus und „Bolschewismus" mancherlei Verbindungslinien
sieht, wie die Kommentare überhaupt einen antibolschewistischen
Grundzug erkennen lassen.

Die unideologisch-theologisch gemeinte Perspektive, die als heils-
geschichtlich und religiös-moralisch charakterisiert werden kann,
tritt am deutlichsten in den Kommentaren zum zweiten Weltkrieg
hervor. Hei Ausbrucli des Krieges sieht Ragaz ein Zeichen des göttlichen
Eingreifens in Hitlers „Verblendung". Die Balkansiego Hitlers
weiden als Gericht über die „innere Korruption" und „Treulosigkeit
" der kleinen Entente gewertet. Positiv steht Ragaz zum
vaterländischen Krieg der Überfallenen Sowjetunion und prophezeit
als Perspektive dieses Befreiungskampfes oine Hinwendung
„Rußlands" zur „Demokratie": die „russische Seele" befreie sich
vom Bann des „falschen Gottesreiches" (172ff). Der Sieg von
Stalingrad löst bei Ragaz die bange Frage nach einem eventuellen
..russischen Vorstoß" nach Westen aus (170). Die Niederlage Hitlerdeutschlands
ist Walten der Nemesis (183).

Die gesonderte Behandlung des Völkerbundes ist gerechtfertigt
durch das Gewicht, welches die Völkcrbundidec bei Ragaz hat.
Hier kann die Vfn. besonders deutlich die Dialektik von absoluter
und relativer Hoffnung zeigen. Der Völkerbund als Organisation
und Institution ist die relative Abspiegelung der absoluten Horl-
nung nach einer wahren sozialistischen und weltdemokratischen
Völkergemeinschaft, die gleichzeitig zu Christus zurückgefunden
hat.

Die Vfn. hat darauf verzichtet, die Kommentaro von Ragaz in
das zeitgenössische Meinungsbild der schweizerischen Publizistik
einzuordnen. Es wird nicht recht deutlich, wo die subjektiv als
„prophetisch" begriffene Position ganz schlicht der Urteilssicht
engagierter schweizerischer Linksdemokraten und Sozialisten verpflichtet
war. Nicht zu verkennen ist, daß die eigen« iiiige theologische
Optik wie auch eine teilweise stark emotionale Betrachtungsweise
die gebotene politische Rationalität und Nüchternheit
öfters aus dem Felde schlugen. Relevant bleiben nach wie vor das
Eintreten von Ragaz für eine sozialistische Ordnung sowie seine
antiimperialistische Haltung. 1921 sprach er sich gegen eine Abtretung
Oberschlesiens aus (05 f), 1923 gegen die französische Ruhrbesetzung
und kritisierte die unheilvolle Rolle der deutschen Industrie
im Rheinland (74). 1930 Verurteilte er den Abessinienfeld-
zug des faschistischen Italien als „Verbrechen im Kolossalstil "
(121) und fällte ein vernichtendes Urteil über dio Haltung Englands
, Frankreichs und der Schweiz (125). Im spanischen Bürgerkrieg
drückte Ragaz seine Sympathien für die Volksfront aus und
schrieb, „das Kämpfen mit Waffen jener Volksfrontleute (ist) TOT
Gott immer noch mehr wort . . ., als dieser wohlfeile Zuschauer-
pazifismus . . ." (130).

Die Vfn. bekennt sich zu dem von Ragaz repräsentierten prophetischen
Grundgestus in aller Politik. In der Tat ist es wohl auch dio
am Reichgottesgedanken festgemachte Sozial- und Gerechtig-
keitsprophetio von Ragaz gewesen, die weit über die Grenzen
seines kloinen Landes hinaus in die europäische Kirchen- und
Theologiegesehichte hineingewirkt hat. Eine differenzierte Untersuchung
der Wirkungsgeschichte Ragaz' in Deutschland wäre ein
Forschungsdesiderat. In welcher Weise man die Argumentations-
und Denkmodelle von Ragaz noch heute aufnehmen und im Kontext
gegen«-artiger politischer Theologie weiterentwickeln kann,
müßte noch genauer geklärt werden. Die vorwiegend deskriptive
Arbeitsweise der Vfn. gibt dafür nur sporadisch Anregung.

Mit der Auswahl der Sekundärliteratur, die der Vfn. zur (mitunter
allzu gerafften) Skizziorung der politischen Ereignisse dienten
, sind gelegentlich erhebliche Vorentscheidungen für die Bewertung
dor Ragaz'schen Publizistik aus heutiger Sicht getroffen
worden (z. B. wird unter den Faschismustheoretikorn E. Nolto unkritisch
favorisiert, wohl deshalb, woil sich die Position von Ragaz
partiell mit Äußerungen von Nolte deckt). Mitunter sind die historischen
Sachverhalte nicht ganz exakt geschildert.

Leipzig Kurt Nowak

Kirchen- und Konfessionskunde

Keller, Holst [Hrsg.J: Handbuch Religiöse Gemeinschaften. Freikirchen
, Sondergemeinschaften, Sekten, Weltanschauungs-
gemeinschaften, Neureligionen, hrsg. für den VELKD-Arbeitskreis
Religiöse Gemeinschaften im Auftrage des Lutherischen
Kirchenamtes. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn
[19781. 764 S. gr. 8". Lw. DM 64,-.

Auf dor Grundlage des 1900 als „amtliche Drucksache" der
VELKD erschienenen „Handbuch zu Freikirchen und Sekten''