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Ausgabe:

1979

Spalte:

748-751

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Jacke, Jochen

Titel/Untertitel:

Kirche zwischen Monarchie und Republik 1979

Rezensent:

Meier, Kurt

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Theologische Literaturzeitung 104. Jahrgang 1979 Nr. 10

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Reinheit Gestalt nicht nur fürTdie Gemeinde, sondern für die
Struktur des sozialen Lebens annehmen soll." (180) Die Bruderschaft
wird (in Abwehr eines elitären Mißverständnisses) nicht als
..eine ,elitäre Korporation' ", sondern als „eine Vorhut derjenigen,
die ein Beispiel der Brüderlichkeit geben wollen, das für Kirche
und Welt neue Normen zwischenmenschlichen und sozialen Verhaltens
enthält", verstanden. (S. 180 f)

Es ist für die lutherische Theologie und Kirche beachtenswert,
daß Andreae als Lutheraner (in der Verfremdung der ,Utopie') die
Strukturen eines obrigkeitshörigen (und auch in Lehrkämpfen den
Wechselfällen absolutistischen politischen Kalküls ausgesetzten)
Kirchentums überwinden und ein neues demokratisches .Modell'
der Gesollschaft vorstellen konnte. Calvinistische Züge sind allerdings
in diesem .Modell' unverkennbar. - In Andreaes Vertrauen
auf die Verbesserungsfähigkeit des Menschen kommt ein (auf hu-
manistisch-orasmianisehen, arndschen und pansophischen Motiven
begründeter) ethischer Voluntarismus zum Tragen, der das pädagogische
Pathos der Aufklärung antizipiert; die Schrift gehört
daher auch zu den Modellprogrammen einer Bildungsreform (läßt
sich aber nicht darauf begrenzen). - Die durchweg stark ausgeprägte
Rationalisierung des Lebens in ..Christianopolis" ist dabei
nicht nur von dem literarischen Genus der Schrift her bedingt,
sondern Ausdruck einer neuen geistigen Haltung; Tendenzen zum
.Umschlag', zu einer Vorselbständigung der ratio, wenn auch entgegen
der eigentlichen Absicht Andreaes. sind nicht zu übersehen.

Die Übersetzung aus dem Lateinischen stammt von Ingeburg
Pape, am deutschen Text hat der Lektor des Verlags, Haus
Giesecke, mitgearbeitet. (Wenn ..ludere" im Widmungssehreiben
an den Leser - „Amicis meis scripsi, cum quibis ludere licet "- mit
„Scherz treiben" übersetzt wird, könnte der exemplarische Model 1-
Charakter des,,Spiels" (ludicrum), auf den auch das Schlußkapitel
der Schrift aufmerksam macht, verlorengehen. Im Kap. 71 De hi-
storia könnte die freie Übertragung von „monstra hominum" zu
Mißverständnissen Anlaß geben. In Kap.77 lautet der Text:
. . . haec illa sanetorum Christi insania, ut non in crueifixum
tantum credant, sed crueifigi ipsi velint . . .)

Obwohl die vorliegende Ausgabe nicht wissenschaftlichen Zwek-
ken dienen soll, wäre ein Literaturverzeichnis dem Leser für die
Weiterarbeit dienlich und bei einer möglichen Neuauflage nachzutragen
; damit würde das Anliegen von Hrsg. und Verlag unterstrichen
, den Leser (im Sinne einer produktiven Erbe-Rezeption)
zur kritischen Auseinandersetzung mit den (bedanken dieser Schrift
hinzufühien.

Jena Eberhard H. Pältz

1 Vgl. die IM. bei F.W. Bautz, Biogr.-Bibliogr. Kirchenlexikon Bd. I, 197S,
Sp. 166f; außerdem: H. Leube, Staatagesinnung und Staatsgestaltung im dt.
Protestantismus (Das Erbe M. Luthers und die gegenwärtige theol. Forschung,
hrsg. v. R.Jelke, Leipzig 1928, 135-163, S.139ff); auch: M. Schwonke, Vom
Staatsroman zur Science Fiction, Stuttgart 1957; weiteres bei M, Brecht, J.V.
Andreae. Weg und Programm eines Reformers zwischen Reformation und Moderne
(Theologen und Theologie an der Universität Tübingen. Beiträge zur Geschichte
der Evangelisch-Theologischen Fakultät, hrsg. v. M. Brecht, Tübingen
1977, S. 270-343).

* Vgl. H. Leube, Die Reformideen in der dt. luth. Kirche z. Zeit der Orthodoxie
, Leipzig 1924; A. Schleift", Selbstkritik der luth. Kirche Im 17. Jh. (Diss.
theol. Jena) Bln. 1937.

' Zum Problem vgl. W. Zeller, Theologie und Frömmigkeit, Ges. Aufsätze, hg.
v. B. Jaspert, Marburg 1971, 39ff, bes. 48ff, 87ff.

* Zur Problemlage vgl. den Forschungsbericht von M. Brecht, Der Pietismus
als Epoche der Neuzeit (VF 21, 1976, 46-81) und dessen Bemerkungen in der
genannten Untersuchung über Andreae: „Die Pietismusforschuug wird sich
nochmals der Anfänge des Pietismus im frühen 17. Jh. versichern müssen; dann
kommt man vielleicht auch los von der falschen Alternative, den Pietismus entweder
aus der Orthodoxie oder dem Spiritualismus zu erklären und wird der
selbständigen Reform ansichtig, die zwischen Orthodoxie und Spiritualismus
steht." (M. Brecht, Andreae, a. a. O. S. 343) - Dabei wäre zugleich zu beachten,
daß die Gedankenwelt Andreaes wie Boehmes im Pietismus - etwa hinsichtlich
der Konzeption der Erneuerung der Gesellschaft oder der Integration von Glauben
und Denken - nur partiell rezipiert worden ist. Auch haben beide - wie die
Wirkungsgeschichte erkennen läßt - die Naturforschung gefördert. An der Wirkungsgeschichte
von Andreaes Gedankenwelt wird deutlich, daß diese „Reform"
umfassender war als der spätere Pietismus: Aufklärung und Pietismus sind bei
Andreae noch gewissermaßen ungeschieden.

* S. oben Anm. 1.

* Vgl. die Besprechungen von M. Greschat (ThLZ 100,1975 Sp. 214f), der auf
die Bedeutung der Embleniatik bei Andreae hinweist, und M. Honecker (ZSRG.
K. 90, 1973, S. 500ff); s. auch W. Zeller, ThLZ 101,1976 Sp. 286.

7 Einleitung zur o. g. Ausgabe S. 11 f.

8 Vgl. auch die Darstellung J.Arnds und J.V.Andreaes im Lexikon deutschsprachiger
Schriftsteller Bd. I Leipzig 1972; zu verweisen wäre jetzt auch auf
R.Ahrbeck, Morus-Campanella-Bacon, Leipzig - Jena - Berlin 1977.

Jacke, Jochen: Kirche zwischen Monarchie und Republik. Der

preußische Protestantismus nach dem Zusammenbruch von
1918. Hamburg: Christians [197(5]. 495 S. 8° = Hamburger
Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, 12. Lw. DM 48,-.

Unter Betonung der als Manko empfundenen historiographi-
schen Situation auf dem Gebiet der kirchlichen Zeitgeschichte, die
vorrangig und intensiv vorerst die Zeit des „Dritten Reiches" bearbeitet
hat, unternimmt es der Vf., die Frühphase der Weimarer
Republik - stark institutionsgeschichtlich akzentuiert - zum kir-
chengeschichtliehen Forschungsgegenstand zu erheben. Ea geht
ihm dabei gezielt um den territorialen Teilbereich des alt preußischen
Kirchentums, dessen Führungsgremien und strukturelle Reorganisationsbemühungen
- mit gelegentlich komparativem Seitenblick
auch auf andere Landeskirchen - vornehmlich von November
1918 bis zum Abschluß der verfassungsgebenden altpreußischen
Kirchenvorsammlung 1922 vorgestellt »erden. Ein einführendes
erstes Kapitel ist dem „protestantischen Staatskirchcn-
tum vor 1918" gewidmet, bei dem dem Vf. das kirchliche Sozialengagement
weniger1 durch das Fehlen angemessener sozialkritischer
Konzept ionen als vielmehr durch polit isch-soziale Abhängigkeiten
von der staatlich gesellschaftlichen Ordnung des Kaiserreichs
behindert erscheint, die die evangelische Kirche zu sozialer
Passivität wie leeren Deklamationen verurteilt habe (30). Die Aktivitäten
der inst itutionsgeschichtlieh von der Evangelischen Kirche
zu unterscheidenden Inneren Mission weiden demgemäß nicht berücksichtigt
; ihre Einbeziehung in das ,,Standardrepertoire vieler
kirchlicher Apologeten" nach 1918. um damit kirchliche Privilegien
rechtlicher und finanzieller Art zu rechtfertigen, sei „sachlich irreführend
", da die Innere Mission „keine Einrichtung der amtlichen
kirchlichen Organe, sondern der freien evangelischen Verbände"
war (319). Worden im Ersten Teil („Der Kampf um die Trennung
von Staat und Kirche") in präziser und anschaulicher verlaufsanalytischer
Weise die „Kirchliche Selbstbehauptung in der Revolution
von 1918" (Kap. 2), der Protestismus im Wahlkampf 1919
(Kap. 3) sowie die „Regelung der Kirchenfrage in der Weimarer
Verfassung" (Kap. 4) untersucht, so beschäftigt sich der Zweite
Teil mit der „Neuordnung der evangelischen Kirchenverfassung in
Preußen". Die diesem Teil zugeordneten Kapitel 5 bis 7 schildern
den „Streit um die Demokratisierung der Landeskirche", bei dem
es zur Einsetzung der drei in evangelicis beauftragten preußischen
Minister kommt, sowie die kirchlichen Auseinandersetzungen und
politischen Verwicklungen bis hin zur verfassunggebenden Kirchenversammlung
1921/22. Ein problemgeschichtlich orientierter
systematischer Dritter Teil („Kirchliches Selbstverständnis im
republikanischen Staat". Kap. 8) zeigt Fragestellungen auf. die
die „Grundlagen und Tendenzen protestantischer Kirchenpolitik"
zu verdeutlichen suchen. Hier werden Probleme ventiliert, die
schon in den voraufgehenden Darstellungsteilen als lnterpreta-
mente eine wichtige Rollo spielen und als heuristische Leitlinien
das historiographische Material akzentuieren, wobei das interessen-
politische Kalkül bei den kirchenregimentlichen Machinationen
immer wieder schwerpunkthaft herausgearbeitet wird. Dabei stehen
die juristische Absicherung der Landeskirche, die ihr als Körperschaft
des öffentlichen Rechts mancherlei wichtige Privilegien
gewährleistet, wie auch die wichtigen ökonomischen Probleme
(Aufrochterhaltung des kirchlichen Behördenapparats bis hin zur
Pfarrerversorgung) immer wieder im Mittelpunkt kirchenpoliti-
schen Agierens und Taktierens.

Während sich - wie Vf. betont - die bisherigen Untersuchungen
zur Ideologie des Weimarer Protestantismus vornehmlich mit dem
„Phänomen der politisch-nationalen Weltanschauung" beschäftigten
, bemüht sich die vorliegende Untersuchung um eine „kritische
Analyse des institutionellen Selbstverständnisses der Kirche sowie
ihrer gesellschaftspolitischen und volkspädagogischen Ansprüche"
(442, Anm. 1). Vf. meint, die bisherige ideologiokritische Beschäftigung
mit dem Weimarer Protestantismus, die die politisch-ideologische
Voi-stellungswelt der hauptsächlichsten Gruppierungen
(übrigens auch Einzelexponenten oder auch Außenseiter) in den
Mittelpunkt rückte, habe das „augenfällige Phänomen der konservativen
, nationalistischen und antidemokratischen Tendenzen im
zeitgenössischen Erscheinungsbild der evangelischen Kirche . . .
zumeist in einen Interpretationsrahmen gestellt, dem bestimmte