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Ausgabe:

1979

Spalte:

643-645

Kategorie:

Religionswissenschaft

Titel/Untertitel:

Die Diskussion um das "Heilige" 1979

Rezensent:

Peters, Albrecht

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643

Theologische Literaturzeitung 104. Jahrgang 1979 Nr. 9

644

Friso Melzer in ThLZ 76, 1951 Sp. 678 f. einen knappen Bericht
gegeben und die Bitte ausgesprochen, man möge die
.sprachgeschichtlichen Erläuterungen noch erweitern. Konnte
diesem Wunsche nicht entsprochen werden, so haben sich
die Hrsg. doch bemüht, nunmehr auch die einschlägigen
deutschen Fachausdrücke aufzunehmen. Dadurch ist der
Umfang im ganzen ein wenig (um ca. 15 Seiten gegenüber
der 1. Aufl.) angewachsen. Mehr als 6000 Begriffe (Vorwort)
werden äußerst knapp und meist treffend erläutert. Man
kann sich das Buch gut in der Hand von Praktikern und
Studenten vorstellen, zumal wo es um Informationen über
Spezialausdrücke aus einer fremden Konfession oder einem
weniger vertrauten Spezialgebiet geht. Für den Bereich der
DDR hat eine Arbeitsgruppe unter Rudolf Mau das Ganze
noch einmal durchgesehen und ergänzt.

Im allgemeinen entsprechen die Erläuterungen dem
neuesten Stand unserer Erkenntnis. Doch wünschte man
sich bisweilen noch eine weitere kritische Durchsicht, so
etwa zum Stichwort „Sekte" auf S. 155, wo die Notiz „von
der ->- Volkskirche abgetrennte Gruppe" m. E. einer Korrektur
bedürftig ist, da das Gegenüber zur Sekte nicht in
jedem Fall die „Volkskirche" sein muß. Aufgefallen ist mir
weiter, daß zwar die üblichen Ausdrücke für solche Methoden
aufgeführt worden sind, die sich inzwischen allgemeiner
durchgesetzt haben. Dafür aber fehlen die heute
noch umstrittenen Fachausdrücke wie „Linguistik" und
das daran anschließende Sprachfeld (etwa „Lexem", „dia-
chron" — dagegen findet man auf S. 164 „Synchronie
[-ismus]"!). Das ist schade, zumal der Student gerade mit
den jüngsten Forschungszweigen am stärksten konfrontiert
zu werden pflegt und der Praktiker gewisse Einführungen
in das sprachliche Dickicht neuerer Kreationen
suchen wird. Hier ließe sich gewiß die Leistungsfähigkeit
des Buches ohne größere Zugaben noch erhöhen.

Borsdorf b. Leipzig Gottfried Schille

Religionswissenschaft

Colpe, Carsten [Hrsg.]: Die Diskussion um das „Heilige".

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1977.
XXV, 500 S. 8° = Wege der Forschung, CCCV.

Diese auch für den Nichtfachmann instruktive Zusammenstellung
möchte die Religionswissenschaft der siebziger
Jahre aus ihrer kaum noch durchschaubaren, verwirrten
Situation zu einer selbstkritischen Besinnung auf dieses ihr
zentrales Thema zurückrufen und dadurch zugleich neue
Wege in die Zukunft erschließen. Um die eklektisch angewandten
, selten präzise durchreflektierten Methoden zu
überprüfen, die sich ständig vervielfältigenden Definitionen
zu konzentrieren, die Stellung der Religion als unklares
Überschußphänomen im Funktionsgeflecht soziologisch
analysierter Sozialisation abzubauen, bot sich dieser
Rückgriff auf die klassische Umschreibung an: „Religion
ist Begegnung mit dem Heiligen" (so etwa bei F. Max Müller
, N. Söderblom, G. van der Leeuw, K. Goldammer,
Fr. Heiler); er möchte dem Auseinanderfallen der Wissenschaft
in einen „modernen und einen restaurativen Zweig"
vorbeugen. Der moderne Zweig sollte durch diese Sammlung
mit den Studien erneut konfrontiert werden, welche
zu ihrer Zeit das Heilige am solidesten transzendentalphilosophisch
, philologisch und phänomenologisch zu explizieren
suchten. Beim „potentiell restaurativen Zweig" möchte
dieser Wiederabdruck ein erneutes Gerinnen zur Formel
verhindern und eine vertiefende Entfaltung inaugurieren
(nach S. XI). Hierbei konnten leider die geistvollen Einsichten
wie umfassenden Forschungen von Mircea Eliade
nicht einbezogen werden; zu ihnen wird verwiesen auf das
kleine Bändchen: „Das Heilige und das Profane" (rde 31,
Hamburg 1957); auch die kritische Auseinandersetzung mit

Eliade durch Mary Douglas sowie die hermeneutischen Besinnungen
von Paul Ricceur blieben ausgeschlossen. Der
Hrsg. begründet diese Entscheidung, nennt die wichtigsten
Thesen jener drei Autoren wie deren einschlägige Werke
(XVIII—XXV). Leider mußte man auch auf eine Bibliographie
verzichten, sie hätte den Rahmen gesprengt; lediglich
ein Namensregister ist beigefügt (493—500) sowie weiterführende
Literatur im Vorwort erwähnt.

Nach dem stark rubrizierenden Artikel zum deutschen
Sprachgebrauch von Moritz Heyne aus dem Grimmschen
Wörterbuch (3—26) wird Wilhelm Windelbands neukantianischer
Ansatz vorgeführt (29—56): Religion als transzendentaler
Ausdruck der Antinomie im menschlichen Bewußtsein
, des unausweichlichen Leidens am abgründigen
Widerstreit zwischen sittlicher Norm und naturgesetzlicher
Notwendigkeit; das Heilige als „Normalbewußtsein des
Wahren, Guten und Schönen, erlebt als transzendente Wirklichkeit
" (35). Wilhelm Wundt sucht in seiner Völkerpsychologie
Entwicklungsgesetze für Sprache, Mythos und
Ethos aufzustellen; hierbei erscheinen ihm die Tabugebote
(57—75) als Zwang von Sitte und Herkommen, der aus der
Dämonenfurcht heraus zu einer freien Humanität sich hindurchringen
will. Ihm ist das Tabu „der älteste ungeschriebene
, aber durch Furcht und Schrecken seine Herrschaft
behauptende Gesetzeskodex der Menschheit" (65). Nathan
Söderblom knüpft in seinem materialreichen Artikel „Ho-
liness" in der Encyclopaedia of Religion and Ethics (1913)
(76—116) an den Schleiermacher der Reden über die Religion
an und setzt ein mit der klassisch gewordenen These:
„Heiligkeit ist das bestimmende Wort in der Religion; es
ist sogar noch wesentlicher als der Begriff Gott. Die wahre
Religion kann ohne bestimmte Auffassung von der Gottheit
bestehen, aber es gibt keine echte Religion ohne Unterscheidung
zwischen ,heilig' und ,profan'" (76).

Unter der Überschrift „Philologische Präzisierungen und
Verifikationen" erschließen sechs weitere Beiträge ein reiches
griechisches, hebräisches, arabisches, iranisches wie
indisches Material mit durchweg philologischen Methoden.
Diese instruktive Auswahl ist einerseits kultur- wie religionsgeschichtlich
möglichst heterogen, andererseits aber
dem Bildungsstand der potentiellen Leser noch nahe, wenn
sich einem Laien auch eine verwirrende Fülle erschließt.
Weithin gemeinsam scheint diesen unterschiedlichen
Sprachwelten wie Wortfeldern noch zu sein, daß auch bei
einer betonten Zuordnung des Heiligen zu einer personalen
Gottheit dessen ambivalente Dynamik wie unterschwellige
magische Kraft erhalten bleibt, Emile Benveniste (223—254)
möchte jene Ambivalenz sowohl im Iranischen als auch im
Lateinischen und Griechischen auch sprachlich auf je zwei
Wortfelder verteilt sehen; das eine umkreise stärker ein
„von göttlicher Kraft Erfülltes", das andere blicke stärker
auf ein uns Menschen zu berühren Untersagtes.

Ein weiteres Kapitel ist dem Streit um Rudolf Ottos
„Theorie des Heiligen" vorbehalten. Es wird eingeleitet
durch Ottos eigene Auseinandersetzung (257—301) mit
Wundts Versuch, die religiöse Vorstellungswelt in eine aufsteigende
Stufenleiter vom Animismus bis zur philosophischen
Seinsmetaphysik einzuordnen. Otto legt den Finger
darauf, daß selbst Wundt ohne Anklänge an Schleiermachers
Sicht nicht durchkommt (289), und insistiert seinerseits
auf dem „Sensus numinis" als dem anthropologischen
Wurzelboden jeglicher Religion. Jene sei „von
Anbeginn Erlebnis des Mysteriösen und Zug und Trieb
zum Mysterium ..., ein Erleben, das aus den Tiefen des
Gefühlslebens selber, auf Reize und Anlässe von außen
hin, als das .Gefühl des Ganz andern'" durchbreche (296). —
In der Antikritik von Joseph Geyser wird unter den Reizworten
„Intellekt oder Gemüt?" (302-336) jegliche religiöse
Evidenz auf eine rein subjektive wie gefühlsmäßige
Intuition eingeengt, dagegen von ihm selber auf eine exakt
wissenschaftlich erhobene und stringent logisch verifizierte
Erkenntnis insistiert. Noch schroffer urteilt Friedrich Karl
Feigel (380—405): Otto praktiziere beharrlich ein keines-