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Ausgabe:

1979

Spalte:

619-621

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Waack, Otto

Titel/Untertitel:

Verantwortung und Hoffnung 1979

Rezensent:

Althausen, Johannes

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619

Theologische Literaturzeitung 104. Jahrgang 1979 Nr. 8

(»20

Okumenik: Allgemeines

Waack, Otto: Verantwortung und Hoffnung. Jawaharlal Nehrus
säkularer Humanismus und der christliche Glaube. Ein Problem
korrelativer Relevanz. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus
Gerd Mohn [1976]. 328 S. 8° = Missionswissenschaftliche
Forschungen, hrsg. von der Deutschen Gesellschaft für
Missionswissenschaft, 11. Kart. DM 58,-.

In dieser sauber erarbeiteten Habilitationsschrift der Theologischen
Fakultät Hamburg von 1973 spielt sich ein Dialog
zwischen einem christlichen Theologen und dem Manne ab,
der Indiens politische und damit auch geistige Welt seit 1947
und davor maßgeblich beeinflußt hat, Jawaharlal Nehru. Was
so ein Buch-Dialog leisten kann, wird dem Leser geboten. Es
bringt eine ausführliche Darstellung des Gesprächspartners.
Die reichlich zitierten Quellen vermitteln einen lebendigen
Eindruck von Nehru, sind aber auch so weit interpretiert,
dafj man dem streng systematischen Gedankengang des Autors
gut folgen kann. Es ist gelungen, die Fülle des Stoffs durchsichtig
zu machen, ohne dem Menschen, den man verstehen
möchte, Gewalt anzutun. In einer methodischen Zwischenüberlegung
(251-258) werden dann die Vorbereitungen für die
auswertenden Kapitel getroffen. Kapitel 7-10 stellen Fragen
und versuchen zu hören, was der Dialogpartner dem christlichen
Theologen zu sagen hat.

Für den darstellenden Teil wählt Vf. die historisch-problem-
orientierte Methode. Sie ist dem Gegenstand durchaus angemessen
. Das ergibt sich daraus, daß es für den politischen Weg
Nehrus und damit auch für die Entwicklung seiner Ideenwelt
ein alles beherrschendes zentrales Thema gab: Die freie Zukunft
Indiens. Entscheidende Grundideen bilden sich lange vor
der Erreichung dieses Zieles heraus. Sind es zuerst die allgemeinen
Fragestellungen, so schreitet der Prozeß immer mehr
zum Besonderen voran.

Das Denken Jawaharlal Nehrus und sein Handeln „gründeten
sich auf eine Lebensphilosophie, die eine enge Verbindung
zu den geistigen, religiösen, kulturellen, sozialen und politischen
Aspekten des Lebens hatte. Es war eine Philosophie der
Verantwortung und Hoffnung, die sich auf einen säkularen
Humanismus gründete." (15) In dem Bemühen, die Geschichtsschau
Nehrus zu erfassen, in die sein Buch mit dem bezeichnenden
Titel "Glimpses of World History" (1934) weitgehend
einführt, entstehen die ersten Fragen (Kap. 1 und 2). Als
progressive Kräfte werden Liberalismus, Demokratie, Sozialismus
, Wissenschaft und Technik sowie Internationalismus
abgehandelt. Hemmende Kräfte sind Religion und Religionen,
sowie der Kommunalismus (eine Bewegung, ein Denken, das
„politische Ansprüche und Ziele einer Gruppe vom Standpunkt
der Religion aus begründet" S. 80). Auch „Kräfte der halben
Lösungen" sind zu beachten: Religiöse, soziale und kulturelle
Reformen sowie politische Reformen. Nehru orientiert sich bei
der Beurteilung dieser Kräfte in erster Linie an den praktischen
Erfordernissen der indischen Menschen, aber auch an ihren
kulturellen Voraussetzungen und nicht zuletzt an den politischen
Gegebenheiten und Möglichkeiten seiner Welt. An den
dem indischen Wesen eingewurzelten Liberalismus wird die
Frage gerichtet, ob er den Individualismus nicht übertreibt.
„Im Sozialismus sieht Nehru den einzigen Weg, auf dem die
drückende Last der wirtschaftlichen Not den großen Massen
abgenommen werden kann." (47) Und wenn er auch die Bedeutung
des Klassenkampfes unterbewertet, so hat er doch
eine realistische Geschichtsschau gehabt, die ihn zu einer fortschrittlichen
Politik auf dem Wege zu einer nichtkapitalistischen
Gesellschaftsordnung gebracht hat. Seine Haltung den
Religionen gegenüber ist von säkularem Pragmatismus geprägt
. Darin steckt viel Kritik, aber auch die Bereitschaft, sie
weiterhin als menschliche Realität anzuerkennen. Nehru ist
ein Mann gewesen, der wußte, wieviel er nicht weiß. Deshalb
blieb er „im Gespräch mit den Religionen und enthält sich
eines Urteils über die Wahrheitsfrage und letztgültige Realitäten
." (70)

In Kapitel 3 und 4 kommt vor allem der Nehru der Jahre
zwischen 1934 und 1947 zu Worte. Beim allmählichen Hineinwachsen
in die zentrale politische Verantwortung ergeben sich
Herausforderungen und ungelöste Probleme, angesichts derer
Zielvorstellungen und Wünsche formuliert werden sowie Prinzipien
des Handelns herausgearbeitet werden müssen. Nehrus
Aussagen befassen sich hier vor allem mit der Notwendigkeit,
zusammen zu leben und zusammen zu arbeiten. Sic kreisen
immer wieder um die Frage von Krieg und Frieden, befassen
sich ausführlich mit der Suche nach den richtigen und angemessenen
Strukturen und Institutionen für die Gesellschaft und
untersuchen die Entwicklungsunterschiede (Lag) zwischen den
Völkern. Besonders hervorzuheben sind seine Gedanken zur
Gewinnung des Friedens. „Zu kaum einem anderen Thema hat
sich Nehru so oft geäußert wie zu dem von Krieg und Frieden
." (125) Die wichtigste Aufgabe sieht er in der Bekämpfung
der Grundursachen des Krieges: Imperialismus, Rassendiskriminierung
, „Not und Elend vieler Menschen ... in Asien und
Afrika" und „als die letzte und eigentliche Ursache der Konflikte
der Welt mit allen ihren verschiedenen Auswirkungen .. ■
der circulus vitiosus von Angst und Haß" (134). Nur ein „grundlegender
Wandel im Geist des Menschen" kann „die Voraussetzung
für die Lösung der Probleme des Krieges und der Gewalt
" (135) sein. Dazu aufzurufen wird Nehru nicht müde. Auch
bei der Überwindung der Entwicklungsunterschiede gehe es
vor allem um die Gewinnung einer „neuen Denkungsart". Als
Humanist stellt der indische Denker aber nicht nur den menschlichen
Geist immer wieder in den Mittelpunkt seiner Ausführungen
. Freiheit zu betrachten und zu gewinnen, ist ihm vor
allem zentrales Anliegen. Sie ist freilich „niemals etwas Erreichtes
oder Vollendetes. Sie bleibt immer neu zu erfüllende
und zu verwirklichende Forderung. Sie bleibt geschichtliche
Aufgabe." (167)

Einen Höhepunkt erreicht die Darstellung der Gedankenwelt
Nehrus in dem Kapitel 5, das Wesen und Bedeutung der Satyä-
graha-Bewegung darstellt - und damit ein wenig von dem
methodischen Weg des Vf. abgeht. Satyägraha wurde von
Gandhi angeregt. Er sagt: „Wahrheit, satya, schließt Liebe ein,
und Festigkeit, ägraha, vermittelt die Idee der Kraft und ist
darum gleichbedeutend mit dieser. So begann ich die indische
Bewegung satyägraha zu nennen, d. h. die Macht, die aus der
Wahrheit geboren ist." (169) Nehru ist menschlich und politisch,
ideengeschichtlich und philosophisch eng mit Gandhi verbunden
und doch eigenständig. Ist jener vor allem ein religiöser
Denker und Praktiker, so sind Nehrus Gedanken in der Regel
konsequent säkular gefaßt. Hinsichtlich der Frage nach der
Gewaltlosigkeit und der Satyägraha-Bewegung weist auch Nehru
auf die buddhistischen Wurzeln der Ethik seines Volkes
zurück. Die Frage nach der Wahrheit müsse aber gerade vor
diesem Hintergrund offen bleiben und mit ihr auch die Frage
nach der Herrschaft des Guten oder des Bösen. In diesem Sinne
und eben deshalb hält Nehru „die friedlichen Methoden zur
Lösung von Problemen und Konflikten" - so auch Satyägraha
- für wirksam.

Was in den Jahren vor der Unabhängigkeit Indiens herausgebildet
wurde, hatte sich danach zu bewähren. In einem
sechsten Kapitel behandelt Vf. „die Leitbilder - Strukturen und
Institutionen einer dynamischen verantwortlichen Gesellschaft".
Unter den Teilüberschriften „der säkulare Staat", „der ungeteilte
Friede" und "Socialist Pattern of Society" werden aktuelle
politische Entscheidungen des politischen Führers Nehru
untersucht, etwa Fragen der Religionsfreiheit, der Planwirtschaft
und andere, auch sein konsequentes Eintreten für Abrüstung
. In ihnen wird offenbar, wie der indische Premier seinen
säkularen Humanismus zu verwirklichen suchte.

Der Dialog, in den der Vf. in den Kapiteln 7-10 eintritt,
orientiert sich an der Tatsache, daß der christliche Glaube und
Nehrus säkularer Humanismus in korrelativer Relevanz aufeinander
bezogen werden können und müssen. Nach einer
ersten sehr übersichtlichen Aufstellung der Korrelationen und
gegenseitigen Herausforderungen (255-258) werden die „Begegnung
mit der Wahrheit", das Ideologieproblem - „eine verantwortliche
Hoffnung", das Thema „Geschichte und Verantwortung
" und der „Glaube an den Menschen und Hoffnung
auf eine neue Menschheit" in korrelativer Relevanz der beiden