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Ausgabe:

1979

Spalte:

604-606

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Brunner, Peter

Titel/Untertitel:

Bemühungen um die einigende Wahrheit 1979

Rezensent:

Peters, Albrecht

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Theologische Lileraturzeitung 104. Jahrgang 1979 Nr. 8

der konservativen Synthese von Macht im politischen und
Vollmacht im religiösen Sinne geht (65).

Im vierten Kapitel wird Kierkegaards Verhältnis zu Freud
und Marx beleuchtet. Die Ergebnisse aus dem großen Werk
über Kierkegaards Psychologie (s. o.) hier noch einmal zusammenfassend
und klärend, geht Nordentoft auf die Beziehung
von Kierkegaards Begriff „Verzweiflung" und Freuds Wertung
der „Neurose" ein: Wenn bei Freud die Neurose nach innen
wie nach außen als ein „Von-Sich-Eingenommen-Sein" (dän.
„selvoptagethed") zu charakterisieren ist, so heißt dieser Zustand
bei Kierkegaard „Verzweiflung" (139)5. Kierkegaards
Kenntnisse über die „Verzweiflung" und die „Verschlossenheit"
(vgl. „Der Begriff Angst" - 1844, SV IV, 431ff) liegen in der
Selbsterfahrung und Selbstbeobachtung: „Ständig bewußter
verhält sich Kierkegaard zu seinem Problem wie der Arzt zum
Patienten" (143). Gerade in dieser Methode liegt aber auch
die Schwierigkeit. Nordentoft geht so weit, daß er die Ursache
für die Verwendung von Pseudonymen in der Selbstspaltung
Kierkegaards sieht (144). So weit braucht man aber nicht zu
gehen, da bekannt ist, daß die Verwendung von Pseudonymen
nach Kierkegaards Bekenntnis zur Methode des „Polizeispions"
im Dienste des Christlich-Religiösen gehört. Im 3. Abschnitt des
vierten Kapitels „Freud und Kierkegaard" wird das Problem
der Verzweiflung noch einmal ausführlich behandelt (160 bis
168). Im 4. Abschnitt „Vernunft und Liebe" wird - die Beschreibung
des Verhältnisses von Freud zu Kierkegaard zusammenfassend
- betont, daß Kierkegaard und Freud sich
einig darin sind, daß das „Von-Sich-Eingenommensein"5 aufgelöst
werden muß durch einen diesbezüglichen „Meta"-Pro-
zeß (dän.: „Meta-selv-optagethed", also ein „Meta-Von-Sich-
Eingenommen-Sein" - in wörtlicher Übersetzung!). Dieser
Meta-Prozefj bedeutet: „. . . bewußte, methodische, analytische
Selbstbeschäftigung". Und weiter heißt es: „Deren Ziel ist die
Bewußtmachung, die den Menschen befreien soll von den
dunklen Kräften, die ihn binden . . ." (168). Es soll also das
gesunde Selbstbewußtsein geweckt werden, das im Gegensatz
steht zum ambivalenten Um-Sich-Selbst-Kreisen im Zustand
der Verschlossenheit. In dieser Auffassung sind sich Kierkegaard
und Freud einig. In der Ausformung der psychologischen
Theorie allerdings sind sie es nicht. Freud legt das entscheidende
Gewicht auf den „Naturaspekt", d. h. auf die „Triebpsychologie
" als einer Art „Schicksal" und auf den „genetischen
Aspekt"; Kierkegaard dagegen „auf den Menschen als historisches
Individuum, stehend in der Zeit, und damit auf die
Freiheit als Möglichkeit" (169). Diese Konfrontation Kierkegaard
- Freud, wie die anschließend beschriebene von Kierkegaard
- Marx, erfaßt deutlich die wichtige geistesgeschichtliche
Stellung und Funktion Kierkegaards mit seinen indivi-
dual- wie sozialpsychologischen Einsichten, die in die existenzdialektische
Konzeption eingebunden sind. Diese stützt sich
auf die Kategorie des „Einzelnen" und ist dem Hegelschcn
Denksystem abhold. Während Marx sich „mit der Dialektik
(den inneren Widersprüchen) in dem ,Äußeren', in der kapitalistischen
Gesellschaft" beschäftigt, tut es Kierkegaard mit
der Dialektik „zwischen dem .Inneren' und dem .Äußeren'
(Neid - Nivellierung etc.)" (6. Abschnitt des vierten Kapitels
S. 200; vorbereitet durch den 5. Abschnitt: „Dialektik"). Die
Methode aber der Dialektik ist es, die überhaupt einen Vergleich
der beiden Denker ermöglicht (S. 200).

Im fünften Kapitel „Epilog" wird darauf hingewiesen, daß
Kierkegaards Denkanstöße zwar keine soziale Revolution,
auch nicht die Lösung der verschiedenen sozialen Probleme
beinhalten, daß er aber im Kirchenkampf 1855 über die Kritik
an der Staatskirche hinaus sozialkritischc Einsichten erreichte,
die in dem „Einzelnen" eben auch den sozial Geächteten sehen
. Das ist ein Auftrag, sich erneut mit dem Problem „Kierkegaard
" zu beschäftigen. In der Ermunterung zu diesem
Auftrag auf der Basis sorgfältiger Analysen liegt der Reiz dieses
Buches.

Krefeld Wolfdietrich von Kloeden

1 Dieses Werk .Kierkegaards Psychologie" ist vom Rez. in der ThLZ 98, 1973
Sp. 853-859 besprochen worden.

2 deutsch: „Was sagt der Feuerwehrhauptmann? - Kierkegaards Auseinandersetzung
mit seiner Zeit". - Alle Ubersetzungen aus dem Dänischen stammen
vom Rez.

:l „Myndighcd" (.Vollmacht") wird von Kierkegaard hauptsächlich in der Verbindung
.guddommelige Myndighcd" (.göttliche Vollmacht", gebraucht. In
diesem Sinne hat der Apostel .Vollmacht", und so fordert das Evangelium auf
mit .Vollmacht" (vgl. SV XI, 113f und SV IX, 24). Zum Zitieren aus Kierkegaards
Gesamtwerk ist zu bemerken, daf3 die 2. Ausgabe der Samlcdc Vaerker
(.SV"), hrsg. von Drachmann, Heiberg und Lange, Kopenhagen 1920-1936, mit
nachgestellter Band- und Seitenangabe benutzt wird.

4 Dän.: „Om Forskjcllen mellem et Geni og en Apostel".

5 Die Übersetzung von .selvoptagethed" mit .Von-Sich-Eingenommen-sein*
ist wörtlich. Gemeint ist, dafj man nur um sich selbst kreist 1 Bei Freud wäre
dies das Symptom einer Neurose, die .den Konflikt meidet und . . . die Flucht
in die Krankheit nimmt" (Freud, Ges. Werke XI. S. 397).

Systematische Theologie: Allgemeines

Brunner, Peter: Bemühungen um die einigende Wahrheit. Aufsätze
. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht [1977]. 292 S.
8°. Kart. DM 24,-.

Diese Sammlung von Vorträgen und Aufsätzen des emeritierten
Heidelberger Systematikers aus dem letzten Jahrzehnt
tritt zu den beiden Bänden hinzu, die 1962 und 1966 im Lutherischen
Verlagshaus unter dem Titel: Pro Ecclesia erschienen
sind. Auch in diesem dritten Band sind durchgehend Referate
zusammengestellt, die in einer dialogischen Situation
vor katholischen und evangelischen Zuhörern über ein nicht
selber ausgewähltes Thema gehalten wurden. Der Titel „um
die einigende Wahrheit" knüpft an die Vorrede zur Confessio
Augustana an, er akzentuiert die ökumenische Verantwortung
reformatorischer Theologie und sieht in der Reformation einen
uns heute geltenden Ruf zur Buße wie zur intensiven Neubesinnung
auf das Christuszentrum des apostolischen Evangeliums.
„Das Verblassen einer dem apostolischen Evangelium entsprechenden
Eschatologie in Lehre und Verkündigung und unser
hilfloses Versagen gegenüber einem vorgeschichtlichen proto-
logischen Geschehen sind eine nicht geringe Gefahr für die
Glaubenserkenntnis der innergeschichtlichen Heilstaten des
dreieinigen Gottes . . . Die einigende Heilswahrheit zur Sprache
zu bringen und in der Macht ihrer Verkündigung lebendigen
Glauben zu wecken, ist die Aufgabe, vor der wir heute
mit besonderer Dringlichkeit stehen, ein Ruf, der gewiß für
alle christlichen Kirchen mitsamt ihren Theologen gilt" (6).

Zwei Aufsätze (9-33. 34-57), im Kontext des 450. Gedächt-
nisjahrcs der Ablaßthesen verfaßt, kreisen um die Gegenwartsund
Zukunftsbedeutung der Reformation. Rechte reformatio
ecclesiac gründet in einer revelatio evangelii; Brunncr umschreibt
sie als „ein Geschehen in der Kirche, durch welches
das unveränderliche Wesen der Kirche in einer bestimmten
kirchcngeschichtlichen und weltgeschichtlichen Lage derart in
diese Lage hinein gestaltet werden soll, daß dadurch sowohl
ein Höchstmaß von Entsprechung zwischen Wesen und Gestalt
und zugleich ein Höchstmaß von heilshaften und heilsamen
Wirkungen in der Menschheit erreicht wird" (15). Schon damals
regte er eine dogmatische Prüfung der Confessio Augustana
durch römisch-katholische Theologen an, die auf eine
ckklesiale Anerkennung hindrängen sollte (29f). Eine mögliche
Verständigung über die Rechtfertigung sowie über das
Verhältnis zwischen dem Glauben und den Werken sah er jedoch
gefährdet durch die Mittlerstellung der Kirche, die in
der Lehre des Vatikanums I von der potestas magisterii des
Papstamtes gipfelte (31 ff). Die Reformation ist ihm zugleich
ein Anruf an die evangelische Christenheit, sich neu unter den
endzeitlichen Horizont des biblischen Rechtfcrtigungszeugnis-
ses stellen zu lassen und die neuprotestantischen Abbiendungen
zu überwinden. „Protestantismus ohne Reformation als
Zukunft der Christenheit . . . kann auf die Dauer nur Auflösung
des Christlichen in die moderne Gesellschaft hinein bedeuten
" (56).

Das ausschließlich vor katholischen Zuhörern gehaltene Referat
zu „Schrift und Tradition nach evangelischer Lehre" (58
bis 73) skizziert das spannungsreichc Zueinander des wesenhaft
schriftlichen Alten Testamentes zum wesenhaft mündlichen
Neuen Testament und rückt den Namen Jesus Christus