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Ausgabe:

1979

Spalte:

599-601

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Titel/Untertitel:

Umgang mit Raum 1979

Rezensent:

Mai, Hartmut

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599

Theologische Literaturzeitung 104. Jahrgang 1979 Nr. 8

(500

Christliche Kunst und Literatur

Bürgel, Rainer, u. Ulrich Conrads [Hrsg.]: Umgang mit Raum,
Dokumentation über den 16. Evangelischen Kirchenbautag
Kassel 1976. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn
[1977]. 142 S. m. 50 Abb. 8°. Kart. DM 16,80.

Der 16. Evangelische Kirchenbautag fand vom 11. bis 13.
Juni 1976 in der evangelischen Brüderkirche in Kassel statt.
Diese Kirche war durch die Anlage neuer Verkehrswege in
eine Insellage geraten und daher seit längerem außer Gebrauch
. Diese Situation nutzten die Veranstalter zu einer Verständigung
über das Raumproblem in der evangelischen Kirche
.

Was mit dem Kirchenraum während der Tagung geschah,
belegen zahlreiche Abbildungen. Im Vorwort (7) werden diese
provisorischen Maßnahmen zusammengefaßt: „Nach akustischen
Untersuchungen wurde der Vorschlag entwickelt, zelt-
förmige Baldachine quer zum Raum zwischen den Fensterpfeilern
aufzuhängen. Stellwandelemente bildeten das Instrumentarium
für die nötigen Raumveränderungen während der
Tagung." So gelang es, in der ehemaligen Karmeliterkirche,
einer im wesentlichen dem 14. Jh. entstammenden zweischiffi-
gen Halle mit Chor abwechselnd ein Auditorium, einen Abendmahlssaal
und Einzelräume für Arbeitsgruppen einzurichten,
ohne dem Bau Gewalt anzutun. Ausgehend von der mittelalterlichen
Mehrzwecknutzung einer Kirche wurde diese Möglichkeit
für heutige kirchliche Verhältnisse durchdacht und erprobt
. So konnte denn auch als eines der wichtigsten Ergebnisse
auf S. 132 zusammengefaßt werden: „Der Kasseler Kirchbautag
hat am Beispiel der Brüderkirche bewiesen, daß mit
architektonisch-provisorischen Eingriffen, die ihren instrumentalen
Charakter nicht verleugnen, gute und preisgünstige Bedingungen
in alten Räumen für neue und veränderbare gemeindliche
Situationen geschaffen werden können." Zweifellos
ist hiermit auch ein Modus gefunden, der die gelegentlichen
Spannungen zwischen kirchlicher Praxis und Denkmalpflege
lösen kann. Allerdings ist zu bedauern, daß diese Tagung
nicht auch zu einem Gespräch mit der Denkmalpflege benutzt
wurde und somit die kunsthistorische Dimension des Raumproblems
nicht genügend zur Geltung kam. Erst aus dem De-
hio (Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler: Hessen, 1966
S. 451f) erfährt man, daß bei der Zerstörung der Brüder-
kirche im Jahre 1943 die Gewölbe des Hauptschiffes eingestürzt
waren und beim Wiederaufbau 1952/55 wiederhergestellt
wurden, eine der vielen denkmalpflegerischen Taten nach dem
zweiten Weltkrieg.

Dem Tagungsverlauf entsprechend, faßt die Dokumentation
die Vorträge in fünf Gruppen zusammen.

Das „Thema der Tagung" (I. S. 13-34) wird in der „Eröffnung
" durch Rainer Volp, der „Begrüßung" durch Erich Vell-
mer, in „Überlegungen" von Ulrich Conrads und in dem Beitrag
von Hans Thimme „Umgang mit Raum" angegangen. Volp
sieht im Raum „Zeichen unendlich vieler Situationen, Texte,
die wir lesen, und Texte, an denen wir lernen können". Ulrich
Conrads hält vor allem den Kreis als räumliches Symbol christlicher
Gemeinschaft heute für sinnvoll. Hans Thimme entwirft
und dokumentiert 12 Thesen. Sie gehen von den theologischen
und anthropologischen Voraussetzungen zum Thema „Raum"
bzw. „Sakralraum" aus. Sie umreißen die Spannung zwischen
Notwendigkeit und Relativität. Sie erfassen als Kriterien, die
sich aus der Christusoffenbarung ergeben, die „doppelte Kommunikation
" zwischen den Menschen untereinander und mit
Gott, die Entstehung „vielfältiger und ganzheitlicher Leib-
hattigkeit", das Leben einer „befreiten und befreienden Gemeinschaft
", die „Geborgenheit und Freigabe" der familia dei.
Unter den Folgerungen sei hier besonders These 8 (S. 31) hervorgehoben
: „Funktionsgerechtigkeit und Identißkationsfähig-
keit sind angemessene Kriterien für kirchliches Bauen. Sie
ergeben sich aus theologischer Besinnung, künstlerischer Intuition
und praktischer Nützlichkeitserwägung unter Berücksichtigung
der jeweils gegebenen Verhältnisse."

In der Gruppe II mit dem Thema „Raumqualitäten und -tech-
niken" (35-52) stellt zunächst Bernhard Schneider („Der Architekturraum
") die Frage von Kirchenbau und Gemeinderäumen
in den übergreifenden Zusammenhang von Funktion
und Aussage der Architektur in der heutigen Situation technischer
Zivilisation. Mit Jürgen Meyer („Der akustische
Raum"), Peter Lehrecke („Technische Möglichkeiten der Raumveränderungen
") und Ralf Kührer („Die Technik der akustischen
Raumveränderung") begründen die Ausgestaltcr des Tagungsortes
ihre Maßnahmen.

Die III. Gruppe bringt unter dem Thema „Ortsbestimmung"
(71-84) zunächst „Bilder von Kirchräumen des 16. bis 18. Jahrhunderts
", die Hans Blankenstein n vorführt. Er will damit den
ursprünglichen Agora-Charakter alter Kirchen und das Ineinander
von liturgischer und nichtliturgischer Nutzung aufzeigen
. Diese Eigenschaften verloren sich erst mit der Ausbreitung
festen Gestühls und der Forderung humanistischer Kreise
nach einem feierlicheren Umgang mit den Kirchen im Laufe
des 17. Jh. Anschließend stellt Julius Posener grundsätzliche
Überlegungen zum „Raum" und seiner vielfältigen Verwirklichung
unter historischen und sozialen Gesichtspunkten an
mit dem Ergebnis, daß die Gemeinde in ihren Wandlungen
auch immer wieder neuer Räume bedarf bzw. sich mit den alten
auseinandersetzen muß.

In der IV. Gruppe „Die Gemeinde und ihr Raum" (89-116)
handelt Walter Hollenweger über „Schöpferische Liturgie".
Ihm geht es dabei darum, daß die überlieferten mythischen
Formen im Blick auf den heutigen Menschen so umgestaltet
werden, daß dieser darin vorkommt. So kann z. B. aus dem
„eucharistischen Mythos" der „wahre Mythos" einer „unerwarteten
Ganzheit" werden. Die Liturgie „ist schöpferisch, weil
etwas geschaffen wird, was vorher nicht da war, Freundschaft
" (95). Rainer Volp orientiert sein Referat „Raum der
Gemeinde" an den beiden Fragen „Wie gelangen wir zu einer
neuen räumlichen Intelligenz?" und „Wie können wir unsere
Planung verbessern, damit das Gesagte auch in die kirchlichen
EntScheidungsprozesse hineingerät?". Hier gilt es, auf
die vielfältigen Formen und Bedürfnisse gemeindlichen Lebens
in der heutigen Situation bei der Raumplanung und -gestal-
tung einzugehen. „Raumfolgen sind wörtliche Texte, Antworten
auf Fragen eines ganz bestimmten Ortes, in ganz bestimmten
Situationen. Deshalb brauchen wir qualifizierte Übergangslösungen
, experimentelle Stadien, die nicht gleich alles zerstören
, es aber ermöglichen, so wie in diesem Raum Situationen
einzuspielen, Situationen des Gottesdienstes, aber auch
Situationen des Wohnens, damit sich Bedeutungen herausbilden
" (106). Hermann Reiß sieht aus seinen Erfahrungen mit
der „Gemeinde im Neubaugebiet" das „Ende des Kirchenbaus"
durchaus nicht gekommen. Vielmehr bleibt ihm seine spezifische
Bedeutung als transzendentales Symbol und als Fest-
und Meditationsraum der Gemeinde, dem gegenüber die Anlage
der Gemeinderäume auf die Vielfalt der Gruppierungen
und die Kommunikationsförderung gerichtet sein muß.

Gruppe V „Kongruenz und Erfahrungen" (117-131) faßt Traugott
Stählins „Gedanken zu 2. Samuel 22" zum Thema Raum
und Gotteserfahrung und die „Berichte aus den Arbeitsgruppen
" zu den Komplexen „Umgang mit alten Räumen", „Umgang
mit neuen Räumen", „Kirche und Stadtraum" zusammen.

In den „Ergebnissen und Perspektiven des Kongresses .Umgang
mit Raum'" (132f) wird den Bauverantwortlichen eine
wichtige Orientierungshilfe mit auf den Weg gegeben.

In „Stimmen von Teilnehmern" (134f) kommt das von Zustimmung
bis zur Kritik reichende breite Echo auf die Tagung
zum Ausdruck.

Wie auch immer man zu einzelnen Aussagen stehen mag,
allein die Tatsache der Kontinuität solcher Tagungen und ihrer
Dokumentation seit Kriegsende, die Bereitschaft auf die wechselnden
Problemstellungen so zu reagieren, daß durch Theorie
und Modell entscheidend zur Klärung beigetragen wird, ist
das unbestreitbare Verdienst des Arbeitsausschusses des Evangelischen
Kirchenbautages.