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Ausgabe:

1979

Spalte:

529-531

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Stoeckle, Bernhard

Titel/Untertitel:

Handeln aus dem Glauben 1979

Rezensent:

Wiebering, Joachim

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Theologische Literaturzeitung 104. Jahrgang 1979 Nr. 7

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anites angelehnt. Die protestantische Ethik dagegen hat die
Sünde überbewertet, Natur und Vernunft — wenigstens theoretisch
— geleugnet und eine einseitige Liebesethik entfaltet.

Hieraus zieht Vf. die Folgerung, daß in einer fortwährenden
Revision der christlichen Ethik biblische, theologische, philosophische
und empirische Erkenntnisse in eine positive Synthese
zusammengebracht werden müssen.

Wie Vf. die notwendig gewordene Revision versteht, mag an
zwei Beispielen kurz aufgezeigt werden: Im dritten Beitrag
„Divorce in the light of a revised Moral Theology" will Vf.
seine bereits in einem früheren Aufsatz aufgestellte These vertiefen
, daß die römisch-katholische Kirche ihre Lehre über die
L'iiaufloslichkeit der Ehe ändern sollte. Aus einem Uberblick
über die umfangreiche Literatur zur Ehefrage glaubt Vf. einen
breiten Konsens darüber feststellen zu können, daß die Kirche
zumindest ihre Praxis über die Zulassung Geschiedener und
Wiedervcrhciratetor zu den Sakramenten der Buße und Eucharistie
ändern sollte. Ob die Kirche diese Praxis sanktioniert
oder nicht, sie wird iu Zukunft die reguläre Praxis sein. Für
Vf. reicht eine Änderung der Praxis allein aber noch nicht aus.
Die Praxis selbst führt auch zu einem Wandel in der Lehre von
der Unauflöslichkeit der Ehe, ohne daß das Prinzip der Unauflöslichkeit
als Ideal und Ziel jeder Ehe aufgegeben wird. Nach
seiner Ansicht können die für die Zulassung zu den Sakramenten
verwendeten Argumente auch für die Erlaubtheit einer
Zweitehe herangezogen werden, denn einmal ist die Sünde gegen
die Unauflöslichkeit vergebbar, und zum anderen kann die
Kirche Erbarmen und Verzeihung zeigen, wenn sie die Zweitehe
zuläßt. Die Kirche hat die I*hre Jesu über das Scheidungsverbot
ohnehin so interpretiert, daß allein noch die sakramentale
und als solche vollzogene Ehe absolut unauflöslich ist. Das
bedeutet, daß heule weniger als zwanzig Prozent der Ehen in
der Welt absolut unauflöslich sind. Die historische Entwicklung
der päpstlichen Vollmacht zur Auflösung von Ehen, die Wende
von der institutionalistischen zur personalen Sicht der Ehe und
die eschatologische Perspektive christlichen Lebens rufen heute
nach einem Wandel in der Lehre von der Unauflöslichkeit.

Im siebten Beitrag „Cooperation in a pluralistic soeiety" untersucht
Vf. die Frage der Erlaubtheit einer Mitwirkung zu
sittlich schlechten Handlungen in einer pluralistischen Gesellschaft
im Lichte der Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils
über die Religionsfreiheil und kommt zu dem Ergebnis,
daß für katholische Ärzte und Krankenhäuser die Durchführung
der Sterilisierung zum Zwecke der Empfängnisverhütung erlaubt
sei, weil hier das Recht des anderen, nach seinem Gewissen
zu handeln, zu respektieren sei. Interruptiones dürfen dagegen
von katholischen Ärzten und Krankenhäusern nicht vorgenommen
werden, weil hier das Recht eines Dritten — des
ungeborenen Menschen auf Leben — nicht angetastet werden
dürfe.

Da die Argumenlalionsweise in den anderen Beiträgen ähn-
l'ch verläuft, mag auf den ersten Blick der Eindruck entstehen,
als ob die fortschreitende Revision der Moraltheologie lediglich
in einem Abbau und in einer Erleichterung der geltenden Normen
bestehe. Doch das ist von Vf. in keiner Weise intendiert.
Fraglich bleibt allerdings zumindest, ob die vorgetragenen Lösungen
, die noch eines weiteren Bedenkens und einer tieferen
Abklärung, wenn nicht gar einer Revision bedürfen, nicht auch
geeignet sein können, eine nicht beabsichtigte Verwirrung zu
stiften. Für die Fachdiskussion bieten die Beiträge manche
werlvolle Anregung. In diesem Sinne ist Vf. für die Darlegung
seiner Überlegungen zu danken.

Erfurt Wilhelm lirnst

Stoeckle, Bernhard: Handeln aus dem Glauben. Moraltheologie
konkret. Frciburg-Basel-Wien: Herder [1977]. 176 S. 8° —
theologisches seminar. Kart. DM 19,80.

Der Freiburger Moraltheologe, der sich durch sein Buch
..Grenzen der autonomen Moral" (1974) und durch die Herausgabe
des „Wörterbuch christlicher Ethik" in der Herderbücherei
(1975) einen Namen gemacht hat, legt in dem vorliegenden

Band eine Einführung in die spezielle Moraltheologie vor. In
zwei Teilen behandelt er „Die Verantwortung des Christen gegenüber
seinem Mitmenschen" (33—97) und „Die Verantwortung
des Christen gegenüber seinein eigenen Personsein"
(98—172). Vorausgeschickt sind kurze Abschnitte über das
Thema, über die Frage der sittlichen Normierung und die Bedeutung
der christlichen Transzendeuz für die Verwirklichung
der Liebe. Als zentrale Aussage der Moraltheologie wird dabei
die Liebe als Verantwortung für den Nächsten hervorgehoben
und durch die Beachtung der Selbstliebe zugleich vom Altruismus
unterschieden. Verpflichtung zur Nächstenliebe bezieht sich
in erster Linie auf den konkreten Mitmenschen und nicht auf
fernab liegende Ziele gesellschaftlicher Natur im Sinne einer
„Verantwortung aller für alles" (29).

Damit deutet sich bereits der Akzent an, der bei der Lektüre
des Buches besonders auffällt: es geht dem Vf. um die Belange
des Individuums, die nicht zugunsten der Belange der Gesellschaft
zurückgestellt werden dürften. Nachdrücklich wird das
„Phänomen der Abdrängung individualer Lebensprobleme durch
das Ausweichen auf das gesellschaftlich-politische Parkett" (101)
beklagt, demgegenüber „das starke Bedürfnis zum Privaten, die
neue Verherrlichung der Intimität, der Trend zur meditativen
Einkehr, die mitunter narzißtisch geprägte Beachtung der eigenen
, subjektiven Empfindungsweit" gerühmt werden, die sich
im zeitgenössischen Ethos bemerken lassen. Diese Akzentsetzung
wirkt sich auf das Buch so aus, daß durchweg nur von der sittlichen
Persönlichkeit des einzelnen Menschen ausgegangen wird
(auch im ersten Teil über die Verantwortung gegenüber dem
Mitmenschen) und alle Bezüge auf soziale Gruppen oder gesellschaftliche
Vorgänge ausgespart bleiben. Im Vorwort wird nur
erwähnt, daß alle Aussagen über die Sexualität fehlen, aber
das betrifft ebenso Ehe und Familie, die Fragen um Beruf
und Freizeitgestaltung sowie die Verantwortung für das staatliche
Leben oder die Weltprobleme. Angesichts derartiger Ausfälle
muß man doch fragen, ob dieses Buch noch als Einführung
in die spezielle Moraltheologie brauchbar ist. Wenn das Pendel
der ethischen Interessen von einem Extrem in das andere ausschlägt
, in diesem Falle also die Verdrängung der individualen
Probleme mit der Verdrängung aller sozialen Probleme beantwortet
wird, wird die spezielle Moraltheologie zu einer Mode-
sache, die jeweils nur einen Aspekt der Wirklichkeit aufgreift
und die anderen vernachlässigt.

Vielleicht hängt dieser Mangel des Buches auch mit einer
anderen Beobachtung zusammen, die bei seiner Lektüre zu
machen ist: der Vf. ist von einer tiefen Skepsis gegenüber
allem erfüllt, was „man" heute denkt und tut. So werden die
einleitenden Abschnitte zu den verschiedenen Kapiteln zu ganz
und gar negativen Zeitanalysen: die Praxis mitmenschlichen
Verhaltens (33—41), der Notstand individualen Selbstseins
(98—107) oder das gegenwärtige „Unverhältnis" zum Tode
(133—136) werden scharf kritisiert. Leider fehlen Passagen, die
auf hoffnungsvolle Entwicklungen in der Gesellschaft aufmerksam
machen und die ein Gegengewicht zu den weithin zutreffenden
Aussagen des Vf. bilden könnten. Dabei erliegt der Vf.
wiederholt den von ihm sonst mit Recht kritisierten Vorurteilen
: das gilt etwa für die Rede von der „Tatsache, daß sich in
vielen Köpfen vor allem der jüngeren Generation die menschliche
Welt immer mehr auf ein primitives Freund-Feind-Verhältnis
reduziert" (66). Das scheint mir schlichtweg falsch zu
sein, denn gerade unter jungen Menschen kann der vorurteilsfreie
Beobachter heute Ansätze zum Abbau des Freund-Feind-
Schemas entdecken.

Schließlich fällt an den Darlegungen Stoeckles auf, daß weit
mehr von Einstellungen und Haltungen als von Entscheidungen
und Konflikten die Rede ist. Die auch quantitativ gewichtigsten
Abschnitte befassen sich mit „Grundhaltungen" gegenüber
dem Mitmenschen und gegenüber der eigenen Person:
Vorurteilslosigkeit und Toleranz, Selbsterkenntnis und Annahme
der eigenen Grenzen, Temperantia und Akedeia werden
im Sinne einer Tugendlehre breit entfaltet. So wertvoll die Bemerkungen
zu diesen Haltungen im einzelnen auch sind, ihnen
fehlt vielfach der konkrete „Sitz im Leben"; man vermißt die
Erläuterung an eiuer speziellen Situation, und wenn sie zur