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Ausgabe:

1979

Spalte:

525-527

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Kraus, Georg

Titel/Untertitel:

Vorherbestimmung 1979

Rezensent:

Hübner, Jürgen

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Legitimität" (204) der Orthodoxie kann nicht damit beantwortet
weiden, daß eine „Dialektik" zwischen „christologischer Richer-
heil'" und „metaphysischer Ambivalenz", Gesetz und Evangelium
(155, 213, 195) behauptet wird: „die Analogie des Seins zwischen
dem schlechthin Unbedürftigen und dem radikal Abhängigen
bringt diesem die ,Garantie' nur der puren Faktizität,
liefert es also der Bedrohung aus, in jedem Augenblick nicht
mehr zu sein, ohne daß Gott dann das Geringste fehlte — eine
Bedrohung, die nur im Zusammenhang mit der christlichen
Glaubensgewißheit überhaupt erträglich ist" (157). Dieser Satz
unterlegt den Texten ein sachlich richtiges, aber historisch falsches
Daseinsgefühl. Die am Rande des Buches erscheinende
Feststellung, daß „die Schulphilosophie im selben Maße ein
Faktor der sozialen Integration ist, in dem die neue Philosophie
randstündig auftritt" (206), könnte, würde sie entfaltet,
dafür den Beweis liefern.

Marburg Theodor Mahlmao n

Systematische Theologie: Dogmatilc

Kraus, Georg: Vorherbcslhnmung. Traditionelle Prädestinationslehre
im Licht gegenwärtiger Theologie. Freiburg—Basel-
Wien: Herder [1977]. 397 S. gr. 8° = ökumenische Forschungen
, II. Soleriologischc Abt., V. Geb. DM 74,—.
Kraus legt mit seiner Dissertation, 1975/76 von der katholisch
-theologischen Fakultät in Tübingen angenommen, eine
unifassende, gründliche Monographie zur Prädestinationslehre
vor. Nach einer problemorienticrten und methodologischen Einleitung
werden die großen Repräsentanten prädestinatianischen
Denkens, Augustin, Thomas von Aquin, Luther und Calvin
nach den Quellen referiert und unter ausführlicher Berücksichtigung
der katholischen und evangelischen Sekundärliteratur seit
1936 kritisch beurteilt. Der Neuansatz der I-ehre bei Barth wird
schließlich durch die systematische Bestimmung biblischer Prä-
deslinationsanschauung korrigiert und überboten und das Ergebnis
auf seine dogmatischen Konsequenzen hin bedacht. Das
Ziel ist ein ökumenisches „Sichfinden über der biblisch geklärten
Sache" (21).

Die Methode ist objektivistisch. Die jeweilige Prädestina lions-
anschauung wird „möglichst objektiv' unmittelbar aus den Quellen
„erhoben" (21), als System dargestellt und schließlich an der
flus den biblischen Aussagen abgeleiteten Lehre gemessen, indem
ihre positiven und ihre negativen, bibelfrcmden Aspekte
zusammengestellt werden. Kritisiert wird zusammenfassend, daß
>n der alten Tradition durchweg „Erwähluug und Verwerfung
unter dem Oberbegriff der Vorhcrbestinimung als logisch-sche-
matische Parallelen" behandelt werden (286) und im übrigen
e'n unbiblischcr „Individualismus und Heilsegoismus" (358)
statthat. Die grundlegende Leistung Barths sei es, daß er zwar
den calvinistischen Begriff der doppelten Prädestination übernimmt
, ihn aber mit völlig neuem Inhalt füllt, indem „Jesus
Christus als der Erwühlte und Verworfene in einem" erscheint
(286). Doch das Schema entfalte auch hier noch seine bedenkliche
Wirksamkeit und lasse Christus zum abstrakten, deduktiven
Prinzip werden (291). Das führe die universalistische Gefahr
der Apokataslasis herauf (348).

Demgegenüber versucht Kraus, induktiv (294) eine „systematische
Zusammenfassung genuin biblischer Prädestinationsichre
" (284) zu entwickeln. Danach legt Gott „nicht von Ewigkeit
her das Heil des einzelnen absolut fest, sondern Gott bietet von
Ewigkeit her jedem einzelnen das Heil absolut an und gewährt
ebenso absolut jedem einzelnen die Freiheit, im Glauben das
Heilsangebot anzunehmen und zu verwirklichen. Die Prädestination
ist absolut im Angebot, aber relativ im geschichtlichen
Vollzug" (343). Der Glaube wirkt sich seinerseits wescnsnolwen-
dig als Liebe aus, und so muß der einzelne „zum Heilsgewinn
diese Kräfte in eigener Verantwortung realisieren". In diesem
Siune verlange Gott zur Vergabe des definitiven Heils die Mit-

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Wirkung des Menschen (345). Vermittlerin des Heils ist die
Kirche: „Nach der Vorherbestimmung Gottes ist die Realisierung
des individuellen Heils eingebettet in die Glaubensgemeinschaft".
„Individuum und Gemeinschaft haben dieselbe letzte Sinner-
füllung; der Lebenssinn des einzelnen ist identisch mit dem
Sinnziel aller Menschen" (360). So kann nach Gottes Heilsplan
das ewige Heil des einzelnen in echter Geschichte heranreifen
(345). Die Erwähluug zum Heil erfolgt vorzeitlich von Ewigkeit
her, die Verdammung zum Unheil jedoch endzeitlich beim
Letzten Gericht (294).

Die Arbeit beBticlit durch den Kenntnisreichtum und die
systematische Kraft des Vf. Die Frage ist, ob der objektivistische
Denkansatz den analysierten Quellen wirklich gerecht werden
kann. Dies gilt gerade für die biblische Uberlieferung. Läßt sich
aus ihr wirklich ein objektiv festgelegter Heilsplan mit einer
allgemeinen Heilsordnung herausdestillieren? Läßt die „geschichtlich
-personale" Erzähl- und Argumentationsweise der
Schrift, die der Vf. zur Geltung bringen will (z. B. 330, 338),
eine „systematische Zusammenschau" zu? Wenn dem so wäre,
ist nicht einzusehen, wie es zu solchen „Verirrung(en)" (96 zu
Thomas; 191 zu Calvin) kommen konnte, wie sie der Vf. an der
Tradition kritisiert.

Wenn beispielsweise „nach der Bibel eine unreßektierte faktische
Einheit zwischen Gnade Gottes und Freiheit des Menschen
" besteht (336), ist zu fragen, ob daraus eine abstrakte
Wahlfreiheit des Menschen in Heilsdingen voraus- und mit
Gottes Freiheit in Beziehung gesetzt werden kann (333).
Menschliehe Freiheit und ihre Inhalte müssen dann unterschieden
(334f) und das Heil als zu entscheidender Glaubensgegen-
sland als eine Reihe von „Dingen" (330) dargestellt werden.
Das Kerygma muß dann zur Aufforderung (334), zum Gesetz
werden, diesen Dingen talsächlich gerecht zu werden. Glaube
wird wie Liebe zur „menschlichc(n) Heilsbedingung" (340), die
es zu „verwirklichen" gilt (345). Der Christ muß „sich" retten
(360), wenn auch unter der Vorgabe der Gnade; da dies ihm
allein aber nicht gelingen kann, bedarf er der Kirche. Hier gibt
es Verheißung von „Sinn". Doch das Letzte bleibt Geheimnis.
Als „Mysterium der Freiheil und Liebe" und als „Geheimnis
der Eschatolngie" (366) darf es nicht zum bloßen Jenseits des
Donksystems werden, wie es Kraus der Tradition vorwirft.

Die systematischen Abbiendungen des Vf. lassen sich auch
bei der Beurteilung der Typen prädestinatianischen Denkens
aus der Tradition, die er zuvor jeweils ausführlich und objektiv
darstellt, beobachten. Die Objektivität, seine Stärke, verdrängt
gerade die jeweilige geschichtliche Situation. Dadurch werden
die historischen Denkansätze aber zumindest teilweise unverständlich
. Am deutlichsten wird das bei Luther. Methodisch
konsequent findet Kraus hier eine Lehre von der doppelten
Prädestination (111) und sieht darin eine Gefährdung des durch
Freiheit konstituierten Menschseins auf dem Hintergrund eines
dunklen, gespaltenen Gottesbildes. Er nimmt dabei nicht wahr,
wie sehr Luthers einschlägige Aussagen in ihrem keineswegs
abstrakt-harmonisierenden, sondern polemisch-konkretisierenden
Charakter ihre eigene Denkstruktur von innen her aufsprengen.
Luthers Denken führt die systematisierende Vernunft durch ihre
eigene Konsequenz im Blick auf das Heil geradezu ad absurdum
. Gottes Handeln läßt nicht zu, es zu analysieren; der
Glaube ist das Geschenk, dieser Analyse enthoben und zur
Liebe befreit zu sein. Die Vernunft scheitert zugunsten des
Glaubens, sie wird relativ zugunsten der Liebe.

Auch die Prädestinationslehre Calvins wäre weniger nach
ihrem objektiven Gehalt als von ihrem Kontext her funktional
zu interpretieren. Es wäre beispielsweise zu bedenken, warum
sie in seinen exegetischen und homiletischen Schriften kaum
eine Rolle spielt (158 Anm. 6, 164 Anm. 147). Die Kritik trifft
ehei ihre objektivierende Ausprägung bei Beza als Calvin selbst
Nur wenn man von dem prädestinatianischen Denken eine
„theoretische Erklärung. . . der Beziehung zwischen Gott und
Mensch" (17) crwurlct, kann man sagen, daß Calvin sich unter
den anderen Theologen hier „am stärksten und schrecklichsten
verirrt" habe (207). Dann muß man freilich in der Tat
die Konsequenzen ziehen, die Kraus vorführt, und man muß
schließlich zu einer systematischen Zusammenschau fortschrei-

Theologische Literaturzeitung 104. Jahrgang 1979 Nr. 7