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Ausgabe:

1979

Spalte:

522-525

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Sparn, Walter

Titel/Untertitel:

Wiederkehr der Metaphysik 1979

Rezensent:

Mahlmann, Theodor

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den fall aber nicht mehr zum Guten frei ist, obschon er natürlich
den Menschen bestimmt, und Entscheidungsfreiheit (keuze-
Vnjheid = Kür, Wahlfrciheil). die „kontradiktorisch" nur vorhandene
Möglichkeilen wählt. Menschlicher Wille ist nur noch
..graduell" gut bzw. qualitativ mit Gottes Willen verglichen
nicht gut. Begründet ist die qualitative Verfehlung von Freiheit
zum Guten, d. h. sich selbst für das Tun des Guten bestimmen
zu können, mit dem Sündcnfall und Verlust der Got-
tesebenbildlichkcit: „The free will is bound in sin, God*s holy
image has lost the face of its likeness" (193). Dies wirkt sich
auf die Entscheidungsfreiheit, nicht aber auf den Willen aus.
Der Schlüssclsatz Auguslins lautet: „Der Wille ist immer in uns
frei, aber er ist nicht immer gut." Hier führt Luthers bekanntes
Argument weiter: Wenn der Wille infolge unserer Neigung zum
Bösen Gottes Schöpfung zuwiderhandelt und in die Sünde gebunden
ist, bleibt seine Freiheit ein bloßer Titel; er ist versklavt
an die Sünde und bleibt ohne den Herrschaflswechsel
über ihn, den Gott in Christus hcraufführt, unfrei.

Bemerkenswert an der Studie, die Geurs auch am Detail der
Gnadendefinitionen durchführt, ist die Beziehung, die er beim
Gegenüber von Luther und Erasmus klärt. Erasmus verteidigt
eine partielle Wahlfreiheit, wie sie Bernhard von Clairvaux in
Fortsetzung Auguslins vertrat. Allerdings war bei Bernhard nicht
nur die Freiheit der Wahl anders bewertet worden. Sie besteht
nach ihm aus zwei Teilen: Verständnis und Zustimmung, und
letztere ist nicht unter der Sünde. Vielmehr bleibe es „voll möglieh
, daß dieser Rest von Wahlfrciheit allmählich (gradually) die
ganze Willensfreiheit einbringt" (IM). Diese „gedeeltclijk con-
sensibele keuzevrijheid", die eben dem einen Teil nach zum
Tun des Guten einwilligen kunn, ist auf halben Weg doch zu
Pclagius zurückgekehrt, den Erasmus nach Geurs ganz ging.
Bernhard hat aus einem asketischen Idealismus heraus einen
Weg zum perfektiblen Leben des Mönchs beschritten, aber Erasmus
„macht dessen asketischen Idealismus gültig für die ganze
christliche Gemeinde. Was Privileg weniger war, wird jetzt die
Bilicht vieler" (ebd.). Luther dagegen habe dann die Hauptlinie
der augustinischen Tradition radikaler als früher wieder aufgenommen
. Er gründete die Verkündigung auf „einen streng
ehristomonistischen Standpunkt, das ist auf das Bekenntnis von
Gottes Allmacht in Christus. Die wichtigste Folge dieser Begrün-
dungsweise ist, daß er keinen Raum für das Bekenntnis einer
Willensfreiheit übrig hat. Das Bekenntnis zur Allmacht Christi
hängt zusammen mit dem Bekenntnis der Ohnmacht des Willens
" (175).

Uber diesen Standpunkt, der jedoch nicht ganz richtig dargelegt
wird, möchte Geurs verständlicherweise „heute" hinausgehen
(177—192: „De weg der vrijheid heden"). Dabei folgt er
m. E. den theologischen Vorstellungen, die etwa bei H. Goll-
wilzer, N. Klaes und D. Solle entwickelt wurden. Sein Beitrag
orientiert sich sowohl an der augustinischen Tradition als auch
"n Luthers radikaler Auffassung von Gottes Allmacht in Christus
, die das escliatologisch verklammerte „Noch nicht" mit dem
»Erst dann" in Gottes Reich beisammenhält. Aber er geht „einen
höchst bedeutenden Schrill" weiter, der den Gegensatz von
Kutitia passiva und iustilia acliva überwinden will: „Alle Macht
•st Christus überkommen, aber es ist eine Vollmacht in Schwachheit
, eine ohnmächtige Macht als all sein Allmächtigsein (a
suffering power, an impotent power for all its omnipotence)"
(195). Ein wirklich freier Wille sei ein gebundener Wille (a
tied will). — Diese Einsicht hat freilich Luther selbst, wie R.
Hermann bereits 1931 ausführte (vgl. jetzt in Bd. II der Gesammelten
und nachgelassenen Werke, III. Zu Luthers Lehre
vom unfreien Willen).

Mag Geurs Luthers antithetische Unterscheidung zwischen
Passivität und Aktivität synthetisch zu überwinden trachten und
neue Formulierungen vorschlagen: ein wirklich neues Moment
hringt er nicht.

„Synthetischer Christoinonismus" anstelle von „antithetischem
Christomonismus"! Luther soll mit letzterem gekennzeichnet
sein und Geurs will die Theologie dem ersleren verpflichten.
Eine viel zu abstrakte und dazu noch sehr unangemessene
und mehrdeutige Begrifflichkeit im Summary kommt in Gefahr
, den leider verbreiteten Jargon in der heutigen Theologcn-

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spräche zu vermehren. So wichtig sein Anliegen und so hilfreich
die sprachliche Bemühung um die Klärung der Sachproblematik
in den niederländischen Partien ist, so schädlich ist ihm diese
Zielvorstellung: „Synthetic christomonism — that is: a christo-
monism that unifies the aclive and the passive elements of the
will and of its justificalion in the suffering omnipotence of
Christ" (196). Synthetischer Christomonismus ist nämlich deshalb
schon unklar, weil Geurs offensichtlich noch nicht eindeutig
sagen will, was er mit „Stellvertretung", die für ihn steht, alles
meint. („Representation, that is what synthelic christomonism
Stands for".) Er wählt das bekannte Gleichnis vom barmherzigen
Samariter, um die Stellvertretung als das Grundgesetz in der
Civitas Dei („City of God next to the City of the devil"!) aufzuweisen
. Nur: Auffällig ist einmal die Deutung, Christus sei der
verwundete, unter die Räuber gefallene Mensch (187), und
zum andern die Meinung, daß der hilflose Mensch (= Christus!)
die Barmherzigkeit seines feindlichen Bruders weckt, „a merey
of activily by which bis brother was justified from the slavery
of Iiis enmity' (196).

Natürlich ist diese Platzvertauschung besonders auch als Mittel
der Predigt über diese Perikope nicht ohne tiefen Sinn. Der
leidende Mitmensch weckt Gefühl und Aktivität zur Hilfe. Oft
aber auch nicht. Jedenfalls ist die klassische Christologie hier
so weit „synthetisiert" bzw. modern verkünstelt, daß man sich
fragt, ob bei dieser Sicht des aktiven freien Willens, eines Willens
, „der vertritt und vertreten wird" (197), nicht doch Christus
wieder überflüssig wird, weil er nur noch Symbolfigur für jeden
leidenden Menschen ist, der eine ganz natürliche Zuwendung
zum Hilfsbedürftigen weckt. Das wechselseitige Leiden
und Helfen hat als Stellvertretung dann doch wieder „Natur
und Gnade" fast wie im Mittelaller in „Barmherzigkeit" gekoppelt
. Luthers Radikalität ist klarer.

Jona Horst Beintker

Sparn, Walter: Wiederkehr der Metaphysik. Die ontologische
Frage in der lutherischen Theologie des frühen 17. Jahrhunderts
. Stuttgart: Calwer [1976]. VII, 280 S. 8° = Calwer
Theologische Monographien, Reihe B: Systematische Theologie
u. Kirchengeschichte, 4. DM 38,—.

Dies Buch stellt sich die Aufgabe, den „erstaunlichen Tatbestand
einer zweiten Rezeption der Metaphysik in die christliche
Theologie", der „um 1600 an den Universitäten aller protestantischen
Territorien" (Klappentext) feststellbar ist, nach den ihm
„eigentümlichen theologischen Motiven" „zu erklären" (5,203).
Walter Sparn stellt sich damit in die anspruchsvolle Tradition
der Forschung, die vor allem durch Ernsl Troeltsch (1891), Hans-
E'nil Weber (1907/8), Peter Petersen (1921), Ernst Lewalter
(1935) und Max Wundt (1939) repräsentiert wird. Seitdem hat
sich der Eindruck festgesetzt, die „Wiederkehr der Metaphysik"
sei, als Spezifikation der „Regulierung des Verhältnisses zwischen
der Theologie und der Philosophie überhaupt", „hinreichend
geklärt" (K. Scholder, Ursprünge und Probleme der Bibelkritik
im 17. Jahrhundert, 1966, S. 126; vgl. Sparn, S. 13).
Sparn setzt dem entgegen, daß — selbst nach Wundt — „die
Frage danach noch nicht als beantwortet gelten kann" (9). Da
ich auch selbst kritisch geltend gemacht habe, die orthodoxe
„Nachgeschichte" der reformatorischen Verhältnisbestimmung
von Theologie und Philosophie bedürfe „ausführlicher Untersuchung
" (ThLZ 94, 1969 Sp. 196), wächst die Erwartung, ob
Sparns Erklärungsversuch der Metaphysikrezeption von gleichem
Rang ist wie seine großen Vorgänger. Dies ist, um es vorweg
zu sagen, der Fall.

Das Besondere am Vorgehen Sparns ist, daß er — anstelle der
„ziemlich allgemein gehallenefn) Auskünfte" der bisherigen Forschung
aufgrund der gleichartigen „programmatischen Äußerungen
" der Ouellcn selbst zur „Quaestio generalis: An et quis sit
Philosophiae in Theologia usus?" (13) — konsequent fragt: „Wo
liegt die theologische Nötigung, über die. .. Behandlung bestimmter
Begriffe und Aussagen als logische Probleme hinauszugehen
und sie in der Metaphysik vorzunehmen?" (18). Die

Theologische Literaturzeitung 104. Jahrgang 1979 Nr. 7