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Ausgabe:

1979

Spalte:

512-514

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Theißen, Gerd

Titel/Untertitel:

Soziologie der Jesusbewegung 1979

Rezensent:

Baumbach, Günther

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Theologische Literaturzeitung 104. Jahrgang 1979 Nr. 7

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der paradoxen Haltung, daß einerseits die reformatorische Position
des „Sola Scriptum" mit äußerster Schärfe verurteilt wird
— 0. Ku3s wagt z. B. zu formulieren: „Zusammen mit der modernen
historisch-kritischen Auslegung der Bibel und der resoluten
. . . Beduktion des Wuuderhaften auf den Bang von etwas
Ehrwürdig-Wunderlichem und also bei der Eruierung exakter
Besultate Umzuinterpretierendem oder Zu-ßeseitigendem führt
das Prinzip ,sola scriptum' im Lauf der Entwicklung ganz
folgerichtig zur Auflösung der Botschaft des Neuen Testamentes
als einer spezifischen, erkennbaren und unverwechselbaren
Nachricht und zur Schrumpfung des brauchbaren und — bisher
wenigstens — als unaufgebbar angesehenen Gehaltes auf sowieso
bekannte weltanschauliche' Gemeinplätze" (389) — andererseits
aber die Ergebnisse und Thesen der protestantischen Bibelexegese
nur zu bereitwillig aufgegriffen und historisch akzeptiert
werden — der historische Beitrag von Sand über die
verschiedenartige urchristliche Hermeneutik ist dafür (nicht zu
seinem Vorteil) ein beredtes Zeugnis —, sieht er sich bei allem
Willen zur Selbstkritik doch zu der Gegenfrage provoziert, weshalb
man die Position der Protestanten bis in die letzte Konsequenz
hinein kritisch durchleuchtet, im Blick auf die eigene,
katholische Situation aber nur verhaltene und aufbauende Kritik
übt? Es müßte O. Kuss doch aufgefallen sein, daß er, der
seine Kirche vor das Ärgernis der ursprünglichen Botschaft des
Neuen Testamentes stellen will, der den katholischen Exegeten
zu eben dieser Konfrontation als seiner eigentlichen' Aufgabe
aufruft und selbst so etwas wie einen „Kernglauben" (374) im
Neuen Testament zu formulieren sucht, nämlich die „göttliche
Offenbarungsmitteilung": „Durch Jesus Christus hat Gott allen
Menschen ohne Ausnahme grundsätzlich das Heil gewirkt, und
zwar allein durch Jesus Christus, erst durch Jesus Christus und
endgültig durch Jesus Christus" (374), nicht einfach im gleichen
Atemzug behaupten kann, Luther habe 1525 nur ungestüm den
Glauben an seine eigene prophetische Sendung verlangt (100.
121. 143f), und die abwägende, vor einer definitiven exegetischen
Glaubensenlscheidung zurückzuckende Haltung des Erasmus
sei dem rigorosen Standpunkt des Beformators vom unfreien
Willen vorzuziehen! Das geht schon deshalb schlecht,
weil Kuss selbst Luthers Grundintention auf S. 105 mit genau
denselben Sätzen paraphrasiert, die er selbst auf S. 374 zu seiner
Skizzierung des neulestamenllichcn Kcrnglaubens verwendet
. _ Wie können Kuss und Ernst in antiprotestantischer
Frontstellung die These vertreten, der biblische Kanon sei „ausschließlich
eine Schöpfung ,der Kirche'" (373, vgl. 53), gleich-
zeilig aber zu bedenken geben, die regula fidei stehe eben nicht
am Anfang aller kirchlichen Entwicklung, sondern die Schrift
als „Gottes Beden und des Menschen Hören im Vollzug" (85)
stelle den Mutterboden dar, auf dem die Glaubensregel erst habe
wachsen können? Wenn man beide Autoren nicht einfach der
groben Anschauung zeihen will, die Kirche stütze sich eben auf
ihr eigenes Werk ab, muß man sie bitten, ihre polemisch-unscharfe
Feststellung dahingehend zu präzisieren, daß sich ,die
Kirche' im 2./3. Jh. den biblischen Kanon deshalb gegeben hat,
weil sie dadurch das sie selbst begründende Offenbarungswort der
(auch von katholischer Seite so genannten) Hauptschriften des
Neuen Testaments am besten zu bewahren hoffte. Der Kanon
ist also nur in dem Sinn ein Werk der Kirche als diese Kirche
bei der Kanonabgrenzung bereits unter dem Anspruch und im
Gehorsam gegenüber dem biblischen Kerygma stand! Und um
das leidige Thema der Kontroverstheologie abzuschließen: Ist
denn die gegenwärtige protestantische Exegese, die seit A. Schlatter
und K. Barth um die Wiedergewinnung ihres dogmatischen
Fundus ringt und ihre kirchliche Bindung weithin offen vertritt
, henneneutisch so viel ärmlicher dran als Kuss, der seine
eigenen Kollegen und seine Kirche zur Bewahrung des Keryg-
mas in seiner Ganzheit und der dogmatischen Tradition aufruft
in der offenkundigen Sorge, man sei im Begriff, einen anderen
Weg zu gehen? Und wo hegt das Minus der protestantischen
hermeneu tischen Position gegenüber dem recht vagen Postulat
von Sand, angesichts der nicht einfach reprislinierbaren urchrist-
liclien Hermeneutik und des unbestreitbaren Autoritätsverlustes
des kirchlichen Lehramtes müsse man sich mit folgendem begnügen
: Einerseits der Orientierung an dem urchristlichen Bemühen
, die Existenz der Gemeinde in der Welt „von Jesus von
Nazareth her... zu deuten und zu verstehen", und andererseits
der Hoffnung, „daß in allen strittigen Fragen durch das Zusammenwirken
aller Verantwortlichen und durch das sorgfältige
Befragen der Lehrtradition früherer Zeiten ein sensus communis
gesucht und vielleicht (!) auch gefunden werden kann" (357)?
So könnte auch ein protestantischer Autor formulieren. Warum
also die kontroverstheologische Polemik? Etwa nur als Warnung,
um die eigene Schar vor einem drohenden Irrweg zu bewahren
? Wäre es so — und der Bez. hat Kuss und Ernst so verstanden
—, dann darf man ihre kritischen Analysen annehmen
und mitdurchdenken, um auch als Protestant nicht den kirchlichen
Boden unter den Füßen zu verlieren.

Worin liegt dann das Lehrreiche des Bandes? M. E. nicht so
sehr im historisch-cx.egetischen Bereich. Hier erscheinen mir die
Thesen z. B. von Bichter, in Joh 6,31b und 6,45 lägen keine
Schriftzitate, sondern Beferate jüdischer Haggadah vor, und für
Johannes sei „der Umgang mit der Schrift kein ,Dienst am
Wort', sondern ein In-den-Diensl-nehmen des Wortes, ein Verfügen
über das Wort" (275) trotz ihrer imponierend gelehrten
Begründung als reichlich überspitzt uud fragwürdig; ferner begreife
ich nicht, wie Sand — im Widerspruch übrigens auch zu den
Ausführungen von Ernst über Lk 24,46 im vorliegenden Band!
— behaupten kann, bei Lukas diene „der Hinweis und der Gebrauch
der jüdischen Schriften . . . lediglich dem Zweck, zu zeigen
, daß die ganze Weltgeschichte, einschließlich der jüdischen,
auf die ,Mitte der Zeit' hingeordnet war" (340/347), geschweige
denn, daß ich seine Ansicht akzeptieren könnte, Paulus kenne
„einen ,Schriftbeweis' im eigentlichen Sinne .. . nicht" (347), habe
die typologische Auslcgungsmethode „vom Hellenismus übernommen
" (349) und zitiere das Alte Testament weder aus Ehrfurcht
, noch aus Liebe zur Theologie oder zur Überlieferung,
sondern nur wegen des Christuszeugnisses (350 mit E. Ellis).
Es ist hier leider nicht der Baum für eine ausführliche exegetische
Gegenargumcntalion. Immerhin sei gegenüber Bichter
aul Joh 5, 39.45f und gegenüber Sand auf Emsts interessanten
Aufsatz und auf Böm 9,6; 11,2511 verwiesen. Ihre provozierende
und auch für den Protestanten hilfreiche, eigenständige Kraft
entfaltet die Arbeit der katholischen Kollegen vor allem dort,
wo sie systematisch unmißverständlich deutlich machen, daß
eine Exegese, die sich von allen dogmalischen und kirchlichen
Bindungen emanzipiert, im Nichts endet (vgl. vor allem Kuss
392—398), daß historisch-kritische Maßstäbe allein nicht ausreichen
, um die urchristliche Hermeneutik zu begreifen (vgl.
Ernst 186.19H; Schröger 326.329), daß theologische Exegese des
Alten und Neuen Testaments erst dort erwächst, wo der Exeget
seine eigene Glaubensposition mit in die Waagschale wirft und
daß dementsprechend die großen hermeneulischen Grundfragen
keine Formalprobleme, sondern Lebensfragen sind, die in Vergangenheit
und Gegenwart ganze Generationen beschäftigen und
nicht zur Buhe kommen werden, solange es uns aufgegeben ist,
im Glauben in der Welt zu existieren (vgl. Ernst 17.50f; Kuss
89. 105. 147ff. 363ff. 400ff).

Insgesamt also liest sich der Snmmelband mit Gewinn und
bereichert das Gespräch über die hermeneu tische Situation aller
neutestamentlichen Exegese von heute.

Tübingen Peter Stuhlmacher

Theissen, Gerd: Soziologie der Jesusbcwcgung. Ein Beitrag zur
Entstehungsgeschichte des Urchristentums. München: Kaiser
[1977]. III S. 8° = Theologische Existenz heute, 194.
DM 11,50.

In dieser Studie bringt T. in komprimierter Form das Ergebnis
seiner soziologischen Arbeilen zum Urchristentum. Die
Aufgaben einer Soziologie der Jesusbewegung sieht er in
der Beschreibung typischen zwischenmenschlichen Verhaltens in
dieser Bewegung und in der Analyse seiner Wechselwirkung
mit der jüdisch-palästinischen Gesamtgesellschaft, wobei er „Bollen
-, Faktoren- und Funktionsanalysc" unterscheidet (10). Als
Methoden zur Erschließung soziologischer Daten verwendet
er das konstruktive, das analytische und das vergleichende Bück-