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Ausgabe:

1979

Spalte:

500-502

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Rudolph, Kurt

Titel/Untertitel:

Die Gnosis 1979

Rezensent:

Tröger, Karl-Wolfgang

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ner viel isländische Prosa (Geschichtsschreibung und „schöne
Literatur"), lateinschreibende kirchliche Schriftsteller des Kontinents
und des Nordens, Volksbräuche aus dem Mittelalter und
der Neuzeit u. a. Nach diesen Quellen sind germanische (und
speziell nordgermanische) Religion und Mythologie wiederholt,
z. T. ausführlich und bisweilen recht unterschiedlich dargestellt
worden — etwa von Jacob Grimm, Eugen Mogk, Karl Helm,
Jan de Vries, R. L. M. Derolez und G. Turville-Petre.

Äke V. Ström, Professor für Religionsgeschichte in Lund
(Schweden) und Verfasser der liier anzuzeigenden Darstellung
der „Germanischen Religion", erweist sich als exzellenter Kenner
der Quellen; außerdem ist er philologisch gebildet und hat
einen guten Überblick sowohl über die Literatur zur vergleichenden
Religionswissenschaft und zur Religionsgeschichte als
auch speziell über die Forschung zur germanischen Religion.
Diese Forschung hat einen heute kaum noch überschaubaren
Umfang angenommen, so daß ma"n dem Vf. für seine ausführlichen
Quellen- und Literaturverzeichnisse dankbar sein muß.

Trotz dieser anscheinend recht guten Voraussetzungen für eine
erneute Behandlung des Stoffes — hier in der von Ch. M.
Schröder herausgegebenen Reihe „Die Religionen der Menschheil
" — bleibt sie ein schwieriges Unterfangen; sie wird mit
dem Fortschreiten der Forschung sogar offenbar immer schwieriger
.

Daß die germanische Religion durchaus kein einheitliches
Ganzes ist, sowenig wie die uns bekannten germanischen
Stämme einen einheitlichen Verband bildeten, ist bekannt, und
der Vf. sucht dem — nach dem Vorgang anderer — dadurch
Rechnung zu tragen, daß er in der Einleitung (I., 15—50) darauf
aufmerksam macht und nach dem Kap. „Urgermanische
Religion" (IL, 51—77) die „Südgermanische Religion der Eisenzeit
" (III., 78—112) von der „Nordgermanischen Religion der
Eisenzeit" (IV., 113—241) absetzt; mit den „Gemeinsamen Vorstellungen
" (V., 242-275) und dem „Ausklang" (VI., 276-281)
resümiert und führt er weiter. Doch ist damit das Problem
durchaus nicht gelöst. Wer germanische Religion beschreiben
will, steht — ob er es eingesteht oder nicht — unter dem
Zwang, einzelne Zeugnisse unterschiedlicher Orts- und Situations-
hezogenheit und sehr ungleichen Alters miteinander zu kombinieren
, gleichzusetzen und zu verallgemeinern. Bis zu einem
gewissen Grad ist das sicher zulässig. Aber wo ist da die
Grenze? Rez. ist der Meinung, daß Vf. sie nicht selten überschritten
hat, zumal wenn er nur allzu bereit ist, unsichere
Zeugnisse aus dem Germanischen mit Zeugnissen aus dem Indischen
und Iranischen zu supplieren.

Neuere Forschung hat gezeigt, daß manches, was man früher
unbedenklich als echte Quelle betrachtet hat, der Interpretatio
romana, der Interpretatio christiana oder der Interpretatio poeti-
ca verdächtig ist. Das ist für alle — und damit auch für den
Vf. — eine unbequeme Erkenntnis, weil damit wichtige Stücke
als verläßliche Zeugnisse ausfallen und die Aufgabe der Darstellung
wegen der so entstehenden Lücken schwerer wird. Vf.
sucht sich aus dem Dilemma dadurch zu retten, daß er diese
qucllenkritische Forschungsrichtung als Hyperkritik abtut1.
Das kann zu gefährlichen Fehlschlüssen führen, so etwa, wenn
er — mit den Worten Karl Haucks (über meinen Beitrag in der
Baetke-Festschrift) — generalisierend meint, die „Leipziger
Schule" sei darum bemüht, „bei religionsgeschichtlichen Studien
die Religion wegzuinterpretieren" (33, Anm. 35; 228, Anm. 105).

Daß der Kult Zentrum der Religion sei, betont Vf. mit Recht.
Auch ist es richtig, daß die Grenze zwischen Religion und Mythologie
, zwischen Kultmythen und poetischen Mythen nicht
immer scharf zu ziehen ist. Aber wir wissen leider wenig über
den Kult in der germanischen Religion, und die Fabulierkunst
von Dichtern, die 200 Jahre nach Annahme des Christentums
lebten, und mittelalterlicher Aberglaube können recht trügerisch
sein.

Es gäbe auch zu Einzelheiten manches Kritische zu sagen.
Doch sei hier ausdrücklich hervorgehoben, daß es dem Vf. gelungen
ist, auf sehr beschränktem Raum ein staunenswertes Maß
von Quellen, wissenschaftlicher Literatur, eigenen und fremden
theoretischen Überlegungen vorzulegen und zu behandeln.

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Auch die baltische Religion hat es mit dem Quellenproblem
und dem Verhältnis zwischen Kult und Mythologie zu tun; nur
liegen die Dinge hier ganz anders. Haralds Biezais, Professor
für Religionsgeschichte in Äbo/Turku (Finnland) und Verfasser
des Teils „Baltische Beligion" hat mit seinen Arbeiten die Erforschung
der Religion der alten Letten, Litauer und Pruzzen
zu einem ganz wesentlichen Teil bestimmt. Mit großer Sachkenntnis
und kritischer Distanz diskutiert er die bisherige Forschung
und die Tragfähigkeit der Quellen. Wenn man bedenkt,
daß es aus vorchristlicher Zeit gar keine Zeugnisse zur baltischen
Religion gibt und die Berichte christlicher Verfasser seit der
Zwangschristianisierung der Pruzzen, d. h. seit dem Ende des
12. Jh. nicht gerade von Vorurteilslosigkeit geprägt sind, kann
man ermessen, wie schwierig die Quellenlage ist. Diese Berichte
sowie die verhältnismäßig reichhaltige Folklore müssen sorgfältig
analysiert und auf ihre Aussagefähigkeit hin abgewogen
werden. Vf. hat den Mut, es deutlich zu sagen, wenn die Quel-
lcnlage keine sicheren Schlußfolgerungen und manchmal kaum
Vermutungen erlaubt (z. B. 326f, 329, 331, 339, 345, 350 u. ö.).
Daß unter diesen Umständen oft mehr über die Mythologie als
den Kult ermittelt werden kann, ist verständlich. So überschreibt
Vf. seine Kapitel, die auf die Einleitung (I., 315—321)
folgen: Die Astralgötter (IL, 322—355), Die Schicksalsgötter
(III., 356-367), Die Förderer des Lebens (IV., 368-374). Eindrücklich
belegt er immer wieder, wie man bei der Suche nach
den Ursachen für die Entstehung dieser Götlerwelt neben den
Naturphänomenen „in erster Linie an die kulturelle und soziale
Umwelt zu denken" hat (351).

Rez. möchte am Schluß dankbar bekennen, daß er von beiden
Verfassern viel gelernt hat, auch wo er bisweilen anderer Auffassung
ist.

Greifswald Ernst Walter

1 Daß in seinem Buch keine Erörterung der vielen Argumente dor
Quellenkritik möglich ist, ist zuzugehen. Besonders unzufrieden ist Vf. mit
den Ansichten Eugen Mogks und Walter Baetkes. Wenn er Bactke all
einen Schüler und Nachfolger Mogks bezeichnet (32), so ist das vollkommen
falsch; „Die Religionsgeschichte an der Leipziger Universität und die
Entwicklung der Religionswissenschaft" wird sehr gut dargestellt von K.
Rudolph (Berlin 1S62; SB d. Sachs. Akad. d. Wiss., Phil.-hlst. Kl., Bd. 107,
H. 1). Und wenn er mich (mit meinen wenigen kritischen Bemerkungen)
zwischen Baetke und die einige Jahre vor Baetke verstorbene norwegische
Philologin Anne Holtsmark plaziert, ist das zuviel der Ehre.

Rudolph, Kurt: Die Gnosis. Wesen und Geschichte einer spätantiken
Religion. Leipzig: Koehler & Amelang 1977. 436 S.
m. 48 Abb., 4 Farbtaf., 1 Kte. 8'. Lw. M 29,80.
Wer es bislang nicht glauben konnte, daß die Gnosis ein halbes
Jahrtausend lang eine Religion von internationalem Rang
gewesen ist, eine ernstzunehmende Konkurrentin des frühen
Christentums und ein geistesgeschichtlicher Impuls von nachhaltiger
Wirkung, wer dies nur für eine fixe Idee und ein
Lieblingskind von wenigen Spezialisten und Enthusiasten hielt,
wird durch Kurt Rudolphs Buch eines Besseren belehrt. Der
Autor führt dem interessierten Leser in flüssigem Stil und gut
verständlich „Wesen und Geschichte einer spätantiken Religion"
vor, beginnend bei den zahlreichen Quellen, diese auch ausgiebig
zitierend, und die Entwicklung dieser Religion darstellend
von den frühen Richtungen und Systemen über den
Manichäismus bis zu den Bogomilen und Kutharern im Mittelaller
und den Mandäern in der Gegenwart. K. R., der wie kaum
ein anderer Quellen- und Sekundärliteratur über die Gnosis
gesammelt und gesichtet hat (vgl. seine Forschungsberichte in
der Theologischen Rundschau), hätte aus der Fülle des Materials
ohne weiteres die doppelte und dreifache Seilenzahl füllen können
. Er hat sich jedoch auf das Wichtige und Wesentliche beschränkt
, was dem Buch zugute kommt. Es enthält alles, was
man derzeit über die Gnosis weiß und sagen kann, übersichtlich
geordnet und graphisch beispielhaft gestaltet: außer den Kapitelüberschriften
finden sich auf dem breiten Rand sowohl Stich-
und Schlagworte bzw. Marginaltitel zu den einzelnen Abschnitten
als auch sämtliche Stellenangaben. Das alles ermöglicht eine

Theologische Literaturzeitung 104. Jahrgang 1979 Nr. 7