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Ausgabe:

1979

Spalte:

462-463

Kategorie:

Praktische Theologie

Titel/Untertitel:

Evangelische Predigtmeditationen 1979

Rezensent:

Schnell, Uwe

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461

Theologische Literaturzeitung 104. Jahrgang 1979 Nr. 6

462

Graben: „Mir scheint, in iinsorer Gogenwart, liebe Gomeinde, gibt
es eine zunehmende Anzahl von Menschen, die zwar in einer
fundamentalen Sicherheit ihrer Existenz leben, die sie davor bewahrt
, in den Wahnsinn oder in die völlige Verzweiflung abzugleiten
, die aber diese fundamentale Sicherheit, die sie in sich selber
haben, damit bezahlen, daß sie sich oft in quälender Weise von
anderen getrennt fühlen . . . Manchmal stelle ich mir die Frage, ob
man dieses Phänomen, das wir in zunehmendem Maße beobachten,
nicht beinahe so etwas nennen könnte wie eine zu gut gelungeno
Identität" (77f.). Nun ist der Vf. beim Thema und kann die
Weisheitslehren tiefenpsychologischer Erkenntnis vor uns ausbreiten
und unter Zuhilfenahme des biblischen Textes illustrieren
und legitimieren.

Andere Beispiele - in aller Kürze: „Die Geschichte von Sodom -
em Alptraum von Triebhaftigkeit und Umsturz - das verbindet
uns mit dem unbekannten Dichter dieser Sage, denn solche
Träume gibt es auch heute noch" (18). Die theologische Spannung
zwischen , Jakobus' und.Paulus' (zu Jak 5,13-16) - zurückgeführt
auf das Widereinander und Miteinander von „Allmachtsphanta-
sien auf der einen Seite und tiefste(n) Ohnmachtserfahrungon auf
der anderen", wie es zu den ursprünglichsten und zwiespältigsten
Erfahrungen unseres Lebens gehört (87). Besonders ergiebig für
dieses Verfahren ist natürlich Gen 3: „Wer lwt dir's gesagt, daß
du nackt bist" die genialste Frage der Menschheitsgeschichte
überhaupt. Wie komme ich als Mensch zum Bewußtsein
meiner selbst ?" (111).

Ziele dieser Textauslegung, zu denen der Vf. sich bekennt: Es
geht darum, „ein Stück unseres eigenen verborgenen Seelenlebens
zu verstehen" (17), um das „Aufdecken unserer unbewußten
Motive" (20f.), darum, daß der Text „uns etwas bewußt werden
läßt, das uns vorher noch nicht bewußt war" (23f.). Neben solcher
Bewußt machung geht es natürlich auch um „Bewußtseinsveränderung
" (12, 27 u. ö.), „Bewußtseinswandel" (14), „Bewußtseinserweiterung
" (16) und in all dem um Identitätsgewinn, um
den Gewinn von innerer Freiheit und Unabhängigkeit (14f.), um
den Gewinn „einer gewissen Distanziertheit den Dingen und uns
gegenüber" (als Ergebnis von „Trauerarbeit"; 34,49); schließlich
Ott die „Heilung des Zwiespalts in meiner eigenen Seele" (112),
u- zw. dadurch, daß ich mich selbst akzeptieren lerne und „die
Wahrheit über mich selbst ertragen kann" (112).

Wenn ich recht sehe, sind es vor allem drei Themen, die sieh als
roter Faden durch diese Predigten hindurchziehen und so den
situativen Hintergrund (bzw. offenbar sehr aktuelle gesellschaftliche
und wnhj auch persönliche Probleme) markieren: Da ist einmal
das Thema .Projektion' - verstanden als Vorgang, in dem wir
»eigene unakzeptierte Triebregungen auf andere projizieren und
dort mit unerbittlicher Härte bestrafen" (18, 23, 47, 83, 89, 112
u. ö.). Da ist weiter das Thema .Resignation' - genauer: „verständige
Resignation" (14, 59, 80, 87, 111 u. ö.) -, das sich dem Vf.
wohl ebenfalls aufgrund persönlicher bzw. gesellschaftlicher Erfahrungen
aufdrängt: „Die Dunstglocke von Lähmung und Rosignation
" (59), in der er sich und seine Hörer gefangen sieht und
gegen die er immer wieder angeht. Da ist schließlich - sicher eng
damit verbunden - das Thoma .Frustration' (genauer: ,Frustra-
tionsgowinn'): „Glücklich die Frustrierten, denn sie haben die
Chance emotionaler Unabhängigkeit" (33; auch dies ein bemerkenswertes
Exempel tiefenpsychologischer Hermeneutik). Was in
diesem Zusammenhang über ein mögliches Zuviel an Zuwendung
nnd Emotionalität gesagt wird, über die „Lawine von emotionalen
Bedürfnissen", die möglicherweise durch bestimmte Seelsorgemethoden
in Gang gesetzt wird (39), über Frustration als Chance,
als Anlaß zur Bewußtseinsveränderung (71 f.), schließlich auch
über eine zu ausschließliche Konzentration auf die Vergangenheit
W der Berat ungspraxis (95), darf man in seiner kritische Intention
(eben bezogen auf gewisse .Weishoitslehrcn') sicher nicht überhören
.

Man wird darüber streiten können, ob es dem Vf. mit all dem
gelungen ist, ein Stück christlicher Identität heute (und das heißt
doch auch: das Spezifische, Unverwechselbare, Bleibende christlichen
Glaubens) zu formulieren. Unbestreitbar scheint jedoch, daß
es dem Vf. hier gelingt, seine eigene Identität (als - gleichermaßen
Freud wie Blumhardt verpflichteter - Hochschullehrer und Prediger
) überzeugend zu dokumentieren und den Weg vom Katheder
zur Kanzel ohne eigentlichen Rollenwechsel zu bewältigen.

Leipzig Karl-Heinrich Zieritz

Blauen, Heinz, Bernhardt, Karl-Heinz, u. Johannes Hempel
[Hrsg.]: Evangelische Predigtmeditationen. 1974/75: Ordnung
der Predigttexte, Reihe III. Bd. 1:1. Advent bis Rogate. Bd. II:
Himmelfahrt bis Ewigkeitssonntag. 341 S. 1975/76: Ordnung
der Predigttexte. Reihe IV. Bd. I: 1. Advent bis Miserikordias
Domini. Bd. II: Jubilate bis Ewigkeitb&onntag. 352 S. 1976/77:
Ordnung der Predigttexte, Reihe V. Bd. I: 1. Advent bis Kantate
. Bd. II: Rogate bis Ewigkeitssonntag. 351 S. 1977/78:
Ordnung der Predigttexte, Reihe VI. Bd. I: 1. Advent bis Himmelfahrt
. Bd. II: Exaudi bis Ewigkeitssonntag. 348. Berlin:
Evang. Verlagsanstalt [1974/76/77]. gr. 8°.

Der erste Band der Evangolischen Predigtmeditationen (EPM)
erschien 1972. Inzwischen liegen sechs Jahrgänge mit der Bearbeitung
der sechs Predigtreihen nach der bisherigen Ordnung der
Predigttexte vor. Seit 1976 wird auch eine Meditation zur Jahreslosung
geboten. Mitgearbeitet haben in diesem Zeitraum über
160 Autoren, die meisten mehrmals. In jedem Jahrgang stehen
den DDR-Autoren etwa 12 Bearbeiter aus dem Ausland zur Seite
(u. a. ÖSSR, Ungarn, Rumänion, Polen, BRD, Berlin-West,
Schweiz). Zuweilen gibt es Bearbeitungen, die gemeinsam in den
EPM und den Göttinger Predigtmeditationen (GPM) erscheinen.
Mehr als die Hälfte dor Autoren ist laut Mitarbeitervorzeiehiüs in
der theologischen Aus- und Fortbildung tätig. Der Rest kommt
aus dem praktischen Pfarrdienst oder der kirchlichen Institution.

Als Pcriodikum haben die EPM im Raum der DDR nur die
Beilage derZdZ „Zur Predigtvorbereitung" zur Seite. So kommt
ihnen schon Vom Umfang her ein wichtiger Platz zu. Sie sind fraglos
- auch über die Grenzender DDR hinaus - zum weitverbreiteten
Vorbereitungsmaterial vieler Prediger für ihren Kanzeldienst
geworden. Aber das sagt natürlich noch wenig darüber aus, ob die
einzelnen Predigthilfen die an sie gestellten Erwartungen auch
erfüllen. Ebenso kann die Erwartung des Praktikers nicht unbedingt
schon der letzte Maßstab für die Bewertung einer Predigt-
hilfo sein. Zu fragen ist ganz konkret: Was wollen, was müssen und
was können die EPM leisten im Blick auf ihre Benutzer. Das sind
zunächst Prediger (nicht nur mit Hochschulabschluß!), die unter
sehr differenzierten gemeindlichen Verhältnissen dio biblische
Botschaft dem heutigen Menschen weiterzusagen haben, u. zw.
nicht mehr allein in einer monologischen Kanzelrede, sondern in
vielfältigen Formen der Verkündigung. Die sich hieraus ergebende
Aufgabe haben dio Herausgeber schon im Vorwort zum ersten
Jahrgang abgesteckt: Möglichst enge Verbindung der jeweiligen
Botschaft biblischer Texte mit den Fragestellungen und Auffassungen
der Menschon unserer Zeit und in unserer gesellschaft liehen
Umwelt; hermeneutische Arbeit als genaue Rüekfrago nach der
„Sache" und als mutige Suche nach der den heutigen Verstehens-
möglichkeiten angemessenen Sprache und den der Vergegonwär-
tigung dienenden methodischen Hilfen (1972/73 1.7). Dies Vorwort
ist leider das einzige geblieben. Es wäre interessant, wie aus der
Sicht der Herausgeber sich Programm und Realisierung nach
sechsjähriger redaktioneller Erfahrung darstellen.

Die Verwirklichung der der EPM gestellten Aufgabe setzt sich
aus vielen einzelnen Schritten zusammen. Die Besprechungen des
ersten und zweiten Jahrgangs der EPM (ThLZ 99, 1974 Sp. 856ff.
[U. Schnell] und 100, 1975 Sp. 791f. [E. Altmann]) haben dazu
schon wichtige Aspekte genannt und notwendige kritische Anfragen
gestellt. Die hier anzuzeigenden folgenden vier Jahrgänge
geben zu den gleichen Fragon Anlaß. Sie brauchen nicht noch
einmal ausführlich erörtert zu werden. Verwiesen sei deshalb nur
auf die Problemkreise: hermeneutische Funktion der Gemeinde;
Entdeckung sachgemäßer Konkretionen als Frucht dos ständigen
Verstehens- und Lernprozesses; die homiletischen Grundsätze des
Aufbaus der Predigthilfen; der Stellenwert der Exegese; kreative
Textbegegnung; Predigtmeditation und theologische Information;
methodische Vorgaben; Kontexte.

Einige Bearbeitungen sind - gemessen an dor erklärten Aufgabe
- hinter dem gesetzten Ziel zurückgeblieben. Tei!:i sind sie