Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1979

Spalte:

451-453

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Titel/Untertitel:

Wege zur Einheit der Kirche im Luthertum 1979

Rezensent:

Zeddies, Helmut

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

451

Theologische Literaturzeitung 104. Jahrgang 1979 Nr. 6

452

Kirchen- und Konfessionskunde

Kahle, Wilhelm, Klapper, Gottfried, Maurer, Wilhelm, u. Martin
Schmidt: Wege zur Einheit der Kirche im Luthertum. Gütersloh:
Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn [1976]. 342 S. 8° == Die
Lutherische Kirche, Geschichte und Gestalten, 1. DM 28,-.

Mit der Gründung des Lutherischen Weltbundes vor nunmehr
als 30 Jahren erfüllten sich für jene Kirchen, die daran beteiligt
waren, Hoffnungen auf eine innerlutherische Einigung, die in
ihnen z. T. seit mehr als hundert Jahren lebendig gewesen sind.
Der Weltbund hat seine Mitgliedskirchen angeregt, jeweils für
ihren Bereich die Geschichte dieser Einigungsbemühungen zu erforschen
. Die vom Deutschen Nationalkomitee in der BRD berufene
Historische Kommission hat in der Von ihr vorantworteten
Reihe über „Geschichte und Gestalten" der lutherischen Kirche
jetzt die beiden ersten Bände vorgelegt. Während der 2. Band,
geschrieben von Kurt Schmidt-Claussen, der Geschichte des
Lutherischen Weltkonventes gewidmet ist, erhellt der erste Band
in mehreren Einzelbeiträgen die Einigungsversuche deutscher
Lutheraner, die vor allem in der Mitte des 19. Jh. eingesetzt haben,
im Grunde aber noch älteren Datums sind.

Wilhelm Kahle geht deshalb zunächst den „Fragen lutherischer
Einheit von der Reformation bis zum Ende des 18. Jahrhunderts"
nach. Er erhält interessante Aufschlüsse aus der wechselhaften
Geschichte von Kirche und Theologie im Zeitalter von Orthodoxie,
Pietismus und theologischem Rationalismus, indem er sie auf die
kirchliche Einheit hin befragt. Die Wirksamkeit der den Reformatoren
wie der Confessio Augustana bewußten Verantwortung für
die Einheit der gesamten Christenheit konstatiert der Vf. bis weit
in die Orthodoxie hinein. Erst danach sei es zu einer Eingrenzung
auf innerevangelische Einigungsbemühungen und schließlich zur
Konfessionalisierung des Kirchenwosens gekommen. Der Pietismus
führte zur Spiritualisierung des Kirchenbegriffs. Damit entfiel
trotz seines ökumenisch-missionarischen Einsatzes das Interesse
an kirchlicher Einheit. Auch der Theologie der Aufklärungszeit
ging es nicht um viel mehr, als das allgemein Verbindende und
Einigende herauszustellen. Die Bekenntnisse spielten kaum noch
eine Rolle; sie blieben jedoch in Geltung. Kahle sieht darin die
formal wohl zutreffende, aber sachlich wenig überzeugende Voraussetzung
dafür, daß die Bekenntnisse in der weiteren Entwicklung
geradezu zu einem Element der Kontinuität und zur Grundlage
neuer Bemühungen um die kirchliche Einheit geworden sind.

Zu Rückfragen veranlaßt auch die Behauptung des Vf., daß
gerade wegen des noch immer vorhandenen Bewußtseins einer
idealen Einheit des Christentums die theologischen Auseinandersetzungen
im 17. Jh. so erbittert geführt worden sind. Es scheint,
daß eher die Orthodoxie sich selbst als Hüterin des wahrhaft
Christlichen verstand, das sie bis zur Polemik hin verteidigte. Das
Luthertum im dama ligen Deutschland nahm es jedenfalls auf sich,
wie auch Kahle feststellt, gegenüber den mit Irenik begegnenden
Reformierten, denen es an sich zahlenmäßig um ein Vielfaches
überlegen war, als unbeweglich, sich versagend, die Einheit störend
zu gelten. Hier wie auch zu anderen Abschnitten würde man
sich mehr Quellenverweise in den Anmerkungen gewünscht haben.
Insgesamt wird dem Vf. zuzustimmen sein, daß die Vorstellung
aufeinander folgender, jeweils abgeschlossener theologiegeschichtlicher
Perioden unzureichend ist. Das beginnende 19. Jh. war
gerade durch die Gleichzeitigkeit orthodoxer, pietistischer und
rationalistischer Ansätze gekennzeichnet, die die Frage nach der
Einheit der Christen offenhielt.

Wilhelm Maurer untersucht „Die Verbindung zwischen nordamerikanischen
und deutschen Lutheranern". In der Begegnung
mit anderen Traditionen kommt es bei den Einwanderergemeinden
zur Erneuerung des Luthertums. Vor allem vom Methodismus
ausgehende Impulse werden aufgenommen, olmo das
eigene Erbe preiszugeben. Die nordamerikanischen Lutheraner
entfallen kirchlich und auch politisch eine rege Aktivität und sind
darin den deutschen ihrer Zeit weit voraus. Theologische Vielfalt,
strukturelle Beweglichkeit, aber auch die Mannigfaltigkeit der
europäischen Einflüsse spiegelten sich in den zahlreichen, im vorigen
Jahrhundert gebildeten Synoden lutherischer Gemeinden
wider. Zum alten Kontinent bestanden in Theologie und Frömmigkeit
nach wie vor lobhafte Verbindungen, die sich bis in die lutherischen
Einigungsbestrebungen zu Beginn des 20. Jh. hinein auswirkten
Der Beitrag von Martin Schmidt über „Das Ringen um Einheit
in der evangelisch-lutherischen Erweckungsbewegung" stellt
neben der gemeinsamen Grundlage die Besonderheiten der Er-
weckungsbowegung in drei bestimmten Landschaften wie Obersachsen
, Franken und Niedersachsen heraus. Das Laienengagement
, Mission und Diasporafürsorge, Theologie und Kirchenpolitik,
Gruppenbildung in Konferenzen, kirchliche Organisation und
Verantwortung für die öffentlichen Angelegenheiten sind auch in
ihror Gesamtheit von Bedeutung. Sie kennzeichnen das Nouluther-
tum als eine Bewegung, die wohl den persönlichen Heilsglauben
betonte, aber auch ein hervorgehobenes Interesse an der Kirche
und ökumenisches Bewußtsein besaß. Die Erweckungsbewegung
ist zu einom auffällig großen Anteil von den jeweils führenden
Persönlichkeiten geprägt worden. Deshalb stehen der umstrittene
Martin Stephan und der deut sch-dänische Theologe Andreas
Gottlob Rudelbach im Mittelpunkt der Darstellung der sächsischen
Erweckungsbewegung; die in Franken ist ohne Wilhelm
Löhe nicht zu denken, der den ausgewanderten deutschen Lutheranern
in Nordamerika durch die Entsendung von Helfern für
Verkündigung und Unterricht beizustehen suchte und dadurch
wie auch durch eine rege publizistische Tätigkeit das Bewußtsein
der Zusammengehörigkeit unter den Lutheranern in aller Welt
gestärkt hat. Als der führende Mann der niedersächsischen Erweckungsbewegung
begründete Ludwig Adolf Petri den „Gotteskasten
", eine Hilfsorganisation, die sich im Unterschied zu dem
des Unionismus verdächtigen Gustav-Adolf-Verein zur Fürsorge
für die bedrängten lutherischen Glaubensbrüder berufen wußte.

Den lutherischen Einigungsbemühungen im 19. Jh. ist ein weiterer
Beitrag von Wilhelm Kahle über „Wege zur Einheit im
Luthertum von der ersten allgemeinen evangelisch-lutherischen
Konferenz 1868 bis zum Vorabend des ersten lutherischen Weltkonvents
" gewidmet. Die Konferenz war ein wesentlicher, aber
keineswegs der einzige Versuch zur Sammlung des Luthertums.
Ihre eigentliche Bedeutung erlangte sie erst, als sie zu Beginn des
20. Jh. über Deutschland hinaus Resonanz fand und unter dem
Vorsitz von Ludwig Ihmels dann von einem Organ des Zusammenhalts
von Einzelmitgliedern und Vereinigungen zum Einigungswerk
des Luthertums wurde, das auch das Gespräch mit den Kirchen
führen konnte.

Diese Entwicklung vollzog sich nicht ohne z. T. schmerzhafte
theologische Klärungen. Die Existenz lutherischer Freikirchen,
wie es sie in Nordamerika, aber auch in Osteuropa gab, hatte schon
Harleß das Staatskirchentum alles andere als wünschenswert
erscheinen lassen, wie er sich auch gegen den Territorial ismus des
Landeskirehentums aussprach. Das Bewußtsein, daß es die eine
lutherische Kirche angesichts unterschiedlicher Situationen in
verschiedenen Kirchentümern gab, mußte jedoch auch positiv
vollzogen werden. Die verhängnisvolle Neigung zur Gleichsetzung
von lutherischer und deutscher Reformation, die den Widerspruch
in fast allen Teilen Europas hervorrief, war nicht so schnell zu
überwinden. Fast unbemerkt von dem durch seine Probleme
beanspruchten europäischen Luthertum vollzog sich indessen
innerhalb weniger Jahrzehnte die Einigung in den lutherischen
Kirchen Nordamerikas, bis es 1923 dann zum Zusammenschluß
der europäischen und amerikanischen Einigungswerko im Lutherischen
Weltkonvent kam.

Im letzten Beitrag gibt Gottfried Klapper eine kirchenkund-
liche Übersicht über „Die lutherischen Kirchen in der Welt". Nach
Kontinenten und Ländern geordnot wird über Einwohnerzahlen
des Landes, die Größe und Charakteristik lutherischer Kirchen
inner- und außerhalb des Lutherischen Weltbundes informiert.
Von der Anlage des Buches her hat man zunächst etwas Mühe, die
Verbindung zu den vorausgehenden, historisch ausgerichteten
Beiträgen herzustellen. Der Uberblick scheint indessen geeignet
zu sein, in unaufdringlicher Weise deutlich zu machen, wie die
Entwicklung inzwischen weitergegangen ist und in welchem Maße
der Lutherische Weltbund als der heutige Zusammenschluß der
lutherischen Kirchen in der Welt aufgehört hat, eine Angelegenheit
nur der europäisch-nordamerikanischen Kirchen zu sein. Die
Ubersicht orientiert sich am Handbuch des Lutherischen Welt-