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Ausgabe:

1979

Spalte:

449-450

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Reinhardt, Heinrich J. F.

Titel/Untertitel:

Die Ehelehre der Schule des Anselm von Laon 1979

Rezensent:

Ernst, Wilhelm

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449

Theologische Literaturzeitung 104. Jahrgang 1979 Nr. 6

450

Reinhardt, Heinrich J. F.: Die Ehelehre der Schule des Anselm von
Laon. Eine Theologie- und kirchenrechtsgeschichtliche Untersuchung
zu den Ehetexton der frühen Pariser Schule deB 12.
Jahrhunderts. Anhang: Edition des Ehetraktates der Sententie
Magistri A.Münster/W.: Aschendorff [1974]. XII, 280 S. gr.
8° = Beitr. z. Geschichte der Philosophie u. Theologie des
Mittelalters, N. F. 14. Kart. DM 80,-.

Die Relevanz der Frühscholastik für die Entwicklung der Ehetheologie
und des kirchlichen Eherechts ist durch viele Untersuchungen
, besonders über die Schulen von Paris und Bologna,
bekannt. Seit den grundlegenden Arbeiten zur Ehelehre bei Ivo
von Chartres und bei Gratian durch Fournier, Plöchl und Kuttner
besteht der Wunsch nach einer genaueren Erforschung der Ehelehre
der Pariser Schule. Literarkritische Untersuchungen von
Grabmann, Landgraf, Weisweiler, Blicmetzrieder und Lottin,
sowie inhaltliche Darstellungen von Scharnagl, Portmann, M.
Müller, Abellan, Frovin und Heany bieten für eine systematische
Darstellung der Ehelehre der Pariser Schule zwar wertvolle Hilfen,
sind aber in mancher Hinsicht in ihren Ergebnissen einseitig oder
falsch und befassen sich zudem nur mit Einzelfragen der Ehelehre
.

Neuerdings bemühen sich um eine systematische Untersuchung
der Ehelehre der Pariser Schule gleich zwei Dissertationen: einmal
die moralgeschichtliche Studie von H. Zeimentz, „Ehe nach der
Lehre der Frühscholastik", in der die Anthropologie und Theologie
der Ehe in der Schule Anselms von Laon und Wilhelms von Cham-
peaux, sowie bei Hugo von St. Viktor, Waltor von Mortagne und
Petrus Lombardus dargestellt wird; und zum andern die vorliegende
theologie- und rechtsgeschichtliche Arbeit von H. F. J.
Reinhardt, die sich auf jene Ehetexte beschränkt, die in der Zeit
von etwa 1100-1130 entstanden sind und literar- und theologiegeschichtlich
dem gegenwärtigen Forschungsstand entsprechend
der Schule von Laon selbst zuzuordnen sind. Traktate derjenigen
Schüler, die selbst Gründer eigener namhafter Schulen geworden
sind, wie etwa Gilbert von Poitiers, Alberich von Reims, Walter
von Mortagne, Peter Abaelard und Hugo von St. Viktor werden
nicht behandelt.

Zur Vermeidung von Überschneidungen und zur klareren Setzung
der Schwerpunkte haben Zeimentz und Reinhardt ihre
Manuskripte ausgetauscht und mehrfach gemeinsame Konsultationen
unternommen. So reizvoll es wäre, beide Arbeiten von ihren
jeweiligen Schwerpunkten her „zusammenzulesen", wir beschränken
uns hier auf die Studie von Reinhardt. In einem ersten Abschnitt
stellt Vf. das gesamte Textmaterial der Schule zum Thema
Ehe zusammen (10-39). In einem zweiten Abschnitt bietet er eine
systematische Darstellung der r^hre (40 134). Als Anbau;/ legt er
die Edition des Ehetraktates der Sententie Magistri A. (135-263)
vor.

Die Untersuchung des Textmaterials orbringt folgendes Ergebnis
: Unmittelbare Vorlagen für die größtenteils literarisch voneinander
abhängigen Ehetraktate der meist unbekannten Autoren
der Anselmschulo sind einmal die Sententie Magistri A. - die nach
Vf. wahrscheinlich dem englischen Benediktinerprior Ailmerus
(oder EImcrus) aus Canterbury (f 1137) und nicht, wie bisher
behauptet, Alger von Lüttich oder Anselm von Laon zugeschrieben
werden müssen - und Abschnitte des Libcr pancrisis - die ursprünglich
Ivo von Chaitres, aber auch Anselm von Laon und Wilhelm
von Champeaux zugeordnet sind. Zum andern sind es augusti-
nischo Florilegien oder Originaltexte von Augustinus und die
beiden Werke Ivos von Chartres: Decretum und Panormia. Aus
der Abhängigkeit von diesen Textgrundlagen ergeben sich als
Texte der Anselmsehule zwei „Blöcke", deren Abhängigkeit von
den Grundlagen Vf. überzeugend nachweist. Hinzu kommen weitere
Einzeltexte, die sich mit der Ehe befassen.

In diesen Texten zeichnen sich zwei Entwicklungslinien ab: die
literargeschichtliche Entwicklung von der Quästionen- und Sentenzenliteratur
zu systematischen Einzelabhandlungen, und das
Wachsen der Ehelehro selbst in der Anselmschule.

Im zweiten Abschnitt unternimmt Vf. in einer Nachzeichnung
der inneren Entwicklung der Texte den Versuch, die Ehelehre der
Schule von Laon zu systematisieren und in ihrer Bedeutung für die
Theologiegeschichte und K.monistik zu befragen.

Die Ehetheologie der Anselmschulo lehnt sich zum großen Teil an
Augustinus an, geht aber auch in einzelnen Punkten über Augustinus
hinaus. So etwa in dem eigenwilligen Verständnis des reme-
dium coneupiscentiae und in dem Versuch, die Sakramental ität
der Ehe zu bestimmen. Die Anselmschulo führt den augustini-
schen Ansatz durch die Unterscheidung von sacramentum und res
sacramenti weiter, indem sie in der res die Eingliederung in Christus
sieht. Während Augustinus lehrt, daß die res sacramenti die
Unauflöslichkeit ausmacht, ist für die Anselmschule der Begriff
sacramentum umfassender. Er steht vor allem für die Abbildhaf-
tigkeit der Einheit von Christus und der Kirche, durch die die
Unauflöslichkoit begründet wird. Die Unauflöslichkeit ist somit
nicht aus der Natur der Ehe selbst abzuleiten, sondern aus der
Sakramentalität. Da nur Ehen unter Christen sakramental sind,
denn nur sie bringen die erforderliche Disposition zum Empfang
des Sakramentes mit, sind alle anderen Ehen, auch solche zwischen
Getauften und Ungetauften, mit Dispens auflösbar.

In der Frage, ob die Ehe durch Konsens oder Vollzug zustando-
kommt, läßt sich in der Anselmschule eine Entwicklung von der
Kopulatheorie zur Konsenstheorie feststellen. Zunächst gelangt
die Schule - erstmals in der Frühscholastik - zur Vermittlungstheorie
, wonach der Konsens ehekonstitutiv ist, während die
Kopula ein Perfektionselement ist. Die sakramentale und damit
auch unauflösliche Ehe tritt erst mit dem Vollzug ein. Diese Vermittlungstheorie
nimmt in späteren Texten an Bedeutung ab, und
es setzt sich in der Schule von Laon wieder die von Ivo von Chartres
vertretene Konsenstheorie durch.

In Vorbereitung einer rechtlichen Fixierung des Verhältnissos
von Verlöbnis und Ehe entwickelt Anselm von Laon - und nicht.
wie bisher behauptet wurde, Ivo Von Chartres - die sogenannte
Sponsaliendistinktion. Nicht das Verlöbnis, sondern allein die
Heirat selbst ist ehebegründend und unwiderruf lich.

Im Kampf um die klandestinen Ehen fordert die Schule, daß der
Konsensaustausch öffentlich zu erfolgen hat und zwar entsprechend
den rechtlichen Regelungen der Partikularkirchen, in denen
sich zuerst der spätere Hoheitsanspruch der Kirche über die Ehe
entwickelte. Die Anselmschule suchte ein Eherecht zu entfalten,
das bei der Vielfalt der damaligen Partikularrechte, Gewohnheiten,
Sitten und Gebräuche praxisnah war. Vf. sieht deshalb die Bedeutung
der Anselmschule für die heutige Diskussion um die Ehe vor
allem auch darin, „daß sie sich bemühte, situationsgerechte, Vom
christlichen Eheverständnis getragene, aber auch im Einzelfall
über das Recht hinausgehende Aussagen zu troffen, die letztlich
dem Menschen dienen sollen" (134).

Die im Anhang vorgelegte Edition der Sententie Magistri A.
stützt sich auf 12 Handschriften aus dem 12. und 13. sowie eine
wörtliche Abschrift aus dem 17. Jh. Die Bedeutung dieser Sententie
für das Eherecht und vor allem für die großen Schidon und
Lehrer des 12. Jahrhunderts ist bisher noch wenig erforscht. Um
so verdienstvoller ist es, daß Vf. in einer außerordentlich sorgfältigen
und sachgerechten Edition den Text dieser 221 Sentenzen
umfassenden Handschrift zugänglich macht. Doch ist dies nicht
das einzige Vordienst der vorliegenden Studio. Es ist Vf. auch gelungen
, auf der Grundlage der einschlägigen Texte einen für die
Entwicklung der mittelalterlichen Ehetheologie und des Eherechts
grundlegenden Zeitabschnitt in der Pariser Schule zu erhellen.
Zwar hätte man sich wünschen können, daß die Wirkgcschichtc
der Auffassungen über die Ehe in der Pariser Schule noch etwas
weiter ausgezogen worden wäre, doch schmälert das den wissenschaftlichen
Wert der Arbeit in keiner Weise. Vf. hat einen guten
Beitrag zur Erforschung der Theologie des Mittelalters geleistet.
Dafür gebührt ihm Anerkennung und Dank.

Erfurt Wilhelm Ernst

Halleux, A. de: La profession de l'Esprit-Saint dans le Symbole

de Constantinople. (RTL 10, 1979 S. 5-39).
Nagel, William: Der Anteil der Theologie am Lebenswerk Johann

Gottfried Herders (ZdZ 33, 1979 S. 49-57).
Saffrey, H.-D.: Nouveaux liens objectifs entre Pseudo-Denys et

Proclus (RSPhTh 63, 1979 S. 3-16).